Neuer Antikörper bei seltener Autoimmunkrankheit |
Annette Rößler |
07.09.2022 07:00 Uhr |
Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen: Der Name lässt vermuten, dass Sehstörungen zum Krankheitsbild gehören. Tatsächlich sind sie ein häufiges Symptom, treten jedoch nicht bei jedem Patienten auf. / Foto: Adobe Stock/Firefighter Montreal
NMOSD ist eine schubweise verlaufende Autoimmunerkrankung, die den Sehnerv, das Rückenmark, das Gehirn und den Hirnstamm angreift. Es gibt viele Ähnlichkeiten zur deutlich häufigeren Multiplen Sklerose (MS), etwa den rezidivierenden Verlauf und Symptome wie Lähmungen und Gefühlsstörungen, aber auch Unterschiede, darunter das höhere mediane Erkrankungsalter (40 statt 29 Jahre) sowie typische Symptome wie Sehstörungen und das Area-postrema-Syndrom.
Vier von fünf Patienten mit NMOSD bilden IgG-Autoantikörper gegen das Wasserkanalprotein Aquaporin-4 (AQP4-IgG), die vor allem Astrozyten im zentralen Nervensystem angreifen. Wie alle IgG werden AQP4-IgG von B-Zellen und Plasmazellen freigesetzt, weshalb der gegen CD20-positive B-Zellen gerichtete Antikörper Rituximab off Label bei NMOSD eingesetzt wird. Therapeutische Antikörper mit der Indikation NMOSD sind Satralizumab (Enspryng®) und Eculizumab (Soliris®). Ersterer ist gegen Interleukin-6 gerichtet, bremst die B-Zell-Aktivierung und verringert die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für AQP4-IgG. Letzteren Effekt hat auch Eculizumab, erreicht dies aber nicht durch IL-6-Hemmung, sondern durch eine Deaktivierung des Komplementproteins C5.
Seit August ist mit Inebilizumab (Uplizna® 100 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Horizon Therapeutics) ein weiterer Antikörper zur Behandlung von Patienten mit NMOSD verfügbar. Er darf als Monotherapie bei erwachsenen Patienten mit positivem AQP4-IgG-Nachweis eingesetzt werden und wirkt wie Rituximab über eine B-Zell-Depletion. Anders als Rituximab, das CD20+-B-Zellen eliminiert, richtet sich Inebilizumab aber gegen CD19+-B-Zellen und schaltet diese aus. Bei Patienten ohne AQP4-IgG hatte Inebilizumab in der Zulassungsstudie keinen Effekt.
Der neue Antikörper wird per intravenöser Infusion verabreicht. Die empfohlene Initialdosis sind zweimal je 300 mg im Abstand von zwei Wochen. Danach werden als Erhaltungsdosis 300 mg alle sechs Monate empfohlen. Vor jeder Infusion soll der Patient eine Prämedikation bestehend aus einem Glucocorticoid, einem Antihistaminikum und einem fiebersenkenden Mittel wie Paracetamol erhalten. Während und für mindestens eine Stunde nach der Infusion ist der Patient auf Infusionsreaktionen zu überwachen.
Impfungen mit (attenuierten) Lebendimpfstoffen sind unter der Therapie nicht möglich und sollen daher vor dem Start der Behandlung erfolgen. Ebenfalls vor der ersten Infusion muss der Patient auf Infektionen mit den Hepatitis-Viren B und C sowie auf Tuberkulose untersucht und gegebenenfalls behandelt werden. Aktive oder unbehandelte latente Tuberkulose, schwere andere Infektionen sowie eine progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) in der Anamnese zählen zu den Gegenanzeigen.
In der Schwangerschaft soll die Anwendung von Inebilizumab aus Vorsichtsgründen vermieden werden; Frauen im gebärfähigen Alter sollen während der Behandlung und bis zu sechs Monate danach wirksam verhüten. In der Stillzeit kann Inebilizumab außer in den ersten Tagen nach der Geburt, wenn IgG-Antikörper in die Muttermilch ausgeschieden werden, gegeben werden, wenn dies aus klinischer Sicht notwendig ist.
Der Wirkmechanismus der B-Zell-Depletion und Verringerung der IgG-Spiegel im Blut bedingt, dass Inebilizumab die Infektionsanfälligkeit erhöht. In der Zulassungsstudie waren Infektionen die häufigsten und auch die häufigsten schweren Nebenwirkungen: Harnwegsinfektionen traten bei 26,2 Prozent der Probanden auf, Nasopharyngitis bei 20,9 Prozent und Infektionen der oberen Atemwege bei 15,6 Prozent; schwere Infektionen waren bei 11,1 Prozent der behandelten Patienten zu verzeichnen. Als ebenfalls häufige Nebenwirkungen kam es zu Arthralgie (17,3 Prozent der Patienten) und Rückenschmerzen (13,8 Prozent).
Zulassungsrelevant war die doppelblinde Phase-II/III-Studie N-Momentum mit insgesamt 230 NMOSD-Patienten, von denen 213 AQP4-IgG-seropositiv waren. Sie wurden in der ersten, randomisiert-kontrollierten Phase (RCP) der Studie an den Tagen 1 und 15 entweder mit je 300 mg Inebilizumab behandelt (161 Patienten) oder mit einer Placeboinfusion (52 Patienten). Danach wurden sie über bis zu 197 Tage oder bis zu einem bestätigten Schub beobachtet. An die RCP schloss sich eine Open-Label-Phase (OLP) an, in der die Teilnehmer die Möglichkeit hatten, die Behandlung mit Inebilizumab fortzusetzen beziehungsweise zu beginnen.
Inebilizumab reduzierte das Risiko für einen Schub gegenüber Placebo statistisch signifikant um 77,3 Prozent. Neben diesem primären Wirksamkeitsendpunkt wurden eine Reihe von sekundären Endpunkten erfasst. Einer davon war die annualisierte Schubrate. Diese lag in den beiden Studienphasen zusammen unter Verum bei 0,09.
Uplizna-Durchstechflaschen sind im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C, aufrecht stehend und im Umkarton zu lagern. Ein Schütteln der Durchstechflaschen ist zu vermeiden. Vor der Anwendung wird das Konzentrat mit 250 ml 0,9-prozentiger Kochsalzlösung verdünnt.
Inebilizumab ist nicht der erste gegen CD19 gerichtete Antikörper auf dem Markt. Allerdings ist es der erste in der Indikation NMOSD zugelassene Anti-CD19-Antikörper. Die anderen beiden bei NMOSD verfügbaren Antikörper weisen ein anderes Wirkprinzip auf. Inebilizumab kann daher vorerst als Schrittinnovation bezeichnet werden.
Diese Einstufung rechtfertigen auch die bisherigen Studienergebnisse, die zeigen, dass der Antikörper Krankheitsschübe verhindern kann. Interessant wären natürlich direkte Vergleiche mit Satralizumab und Eculizumab, um einen Aussage treffen zu können, welcher Antikörper die beste Wirkung hat beziehungsweise ob es Subgruppen von NMOSD-Patienten gibt, die von Inebilizumab oder einem der anderen beiden Wirkstoffe besonders profitieren.
Sven Siebenand, Chefredakteur