Metaanalyse mahnt zu differenzierter Sicht auf Statine |
Annette Rößler |
18.03.2022 18:00 Uhr |
Die Vorteile einer Pharmakotherapie können noch so gut statistisch belegt sein: Letztlich ist es die Entscheidung des Patienten, ob er sie in Anspruch nehmen möchte oder lieber auf die Einnahme verzichtet. / Foto: Getty Images/Jonathan Kitchen
HMG-CoA-Reduktase-Hemmer, besser bekannt als Statine, zählen zu den meistverordneten Wirkstoffklassen in Deutschland. Das hat mehrere Gründe. Zum einen gibt es viele Menschen, die aufgrund ihres Lebensstils übergewichtig sind; bei ihnen liegt meist auch eine Lipidstoffwechselstörung und somit eine Indikation für eine Statin-Therapie vor. Zum anderen sieht die europäische Leitlinie seit ihrer Neufassung 2019 eine noch drastischere Senkung des LDL-Cholesterols (LDL-C) für kardiovaskuläre Risikopatienten vor. So ist es nicht erstaunlich, dass die Verordnungen von Statinen zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung 2019 laut Arzneiverordnungsreport erneut stiegen und dass im selben Jahr das stark wirksame Atorvastatin erstmals den langjährigen Marktführer Simvastatin überrundete.
Als Beleg für die Wirksamkeit der Statine sind die Metaanalysen der Cholesterol Treatment Trialists’ (CTT) Collaboration allgemein anerkannt. Diese Gruppe ist ein internationaler Zusammenschluss von aktuell etwa 150 Ärzten, Statistikern und Forschern, die laut eigenen Angaben industrieunabhängig arbeitet. 2005 veröffentlichte sie im Fachjournal »The Lancet« eine Metaanalyse, der zufolge eine Senkung des LDL-Cholesterols um 1 mmol/l (38,67 mg/dl) das relative Fünf-Jahres-Risiko eines Patienten für ein großes kardiovaskuläres Ereignis um 21 Prozent senkt (DOI: 10.1016/S0140-6736(05)67394-1). 2015 wurde die Größenordnung des Effekts mit einer relativen Risikoreduktion um 16 Prozent bei Frauen beziehungsweise 22 Prozent bei Männern in einer weiteren Metaanalyse der CTT Collaboration bestätigt (»The Lancet«, DOI: 10.1016/S0140-6736(14)61368-4).
Die Validität der Arbeiten der CTT Collaboration stellen auch die Autoren einer neuen Metaanalyse im Fachjournal »JAMA Internal Medicine« nicht grundsätzlich infrage. Sie sehen es aber kritisch, dass die Ergebnisse als Rechtfertigung dafür dienen, die Anwendung der Statine auf immer größere Bevölkerungsteile auszudehnen. Insbesondere stößt sich die Gruppe um Dr. Paula Byrne von der RCSI University in Dublin daran, dass in der Diskussion um den Nutzen der Statine meist mit der assoziierten relativen Risikoreduktion argumentiert werde. Absolut sei der Vorteil nämlich teilweise nur sehr gering.
Eine Besonderheit der Metaanalysen der CTT Collaboration ist, dass sie auf individuellen Patientendaten basieren, die der CTT Collaboration exklusiv zur Verfügung gestellt wurden. Das ist zwar einerseits ein Vorteil, weil so systematische Verzerrungen vermieden werden, andererseits aber auch ein Nachteil, weil die Ergebnisse dadurch nicht replizierbar sind. Zudem werten Byrne und Kollegen es als nachteilig, dass der Nutzen von Statinen in Studien meist anhand von zusammengesetzten Endpunkten beurteilt worden sei. So sei kaum abschätzbar, wie groß der Effekt auf einzelne Endpunkte wie die Sterblichkeit tatsächlich sei.
Byrne und Kollegen fassten deshalb selbst noch einmal 21 randomisierte klinische Studien mit jeweils 1255 bis 20.536 Teilnehmern in Form einer Metaanalyse zusammen. Statine waren darin über durchschnittlich 4,4 Jahre sowohl zur Primärprävention von kardiovaskulären Ereignissen als auch zur Sekundärprävention eingesetzt worden. Verglichen mit Placebo oder einer nicht näher definierten Standardbehandlung war die Einnahme eines Statins demnach mit einer absoluten Reduktion der Gesamtsterblichkeit um 0,8 Prozent (relativ 9 Prozent) sowie einer absoluten Senkung der Risiken für Herzinfarkt um 1,3 Prozent (relativ 29 Prozent) und Schlaganfall um 0,4 Prozent (relativ 14 Prozent) verbunden.
In einer gesonderten Auswertung korrelierten die Autoren zudem den Einfluss der Therapie auf den LDL-C-Wert mit den verschiedenen Endpunkten – und erhielten ein uneinheitliches Ergebnis. »Eine überzeugende Assoziation zwischen der absoluten Senkung der LDL-C-Spiegel und individuellen klinischen Outcomes ließ sich nicht herstellen«, konstatieren sie. Dies unterstreiche, wie wichtig es sei, dass Ärzte mit ihren Patienten die Vor- und Nachteile einer Statin-Therapie nicht nur anhand relativer Risiken diskutierten, sondern auch anhand von absoluten Zahlen.
Die relative Risikoreduktion sei zwar »zahlenmäßig beeindruckender« als die absolute, führt Byrne in einer begleitenden Mitteilung auf der Plattform »The Conversation« aus. Sich ausschließlich darauf zu beziehen, könnte aber sowohl Ärzte als auch Patienten dazu verleiten, die Vorteile einer Intervention zu überschätzen. Man müsse stets das ganze Bild betrachten, in diesem Fall also das zugrundeliegende kardiovaskuläre Risiko eines Patienten, das man mithilfe von Risikorechnern ermitteln könne.
So habe etwa ein 65-jähriger Raucher mit sowohl hohem Blutdruck als auch Gesamtcholesterol ein geschätztes Risiko von 38 Prozent, innerhalb der nächsten zehn Jahre zu sterben, eine 45-jährige Nichtraucherin mit nur leicht erhöhtem Blutdruck und Cholesterolspiegel dagegen nur ein Risiko von 1,4 Prozent. Die in der Studie ermittelte relative Reduktion des Sterberisikos um 9 Prozent würde bei dem Mann also eine Senkung von 38 auf 34,6 Prozent bedeuten, bei der Frau aber nur von 1,4 auf 1,3 Prozent, so Byrne.
Wie Menschen mit einem Risiko umgingen, sei sehr unterschiedlich. Was für den einen ein »guter Deal« sei, könne sich für einen anderen als wertlos darstellen. Damit die Menschen ihre Entscheidung für oder gegen eine Statin-Therapie aber möglichst informiert treffen könnten, müssten ihnen auch die absoluten Zahlen genannt werden.
Ist zu Statinen nicht eigentlich schon alles gesagt? Die Arbeit von Byrne und Kollegen zeigt, dass das nicht der Fall ist – und weist in ihrer Bedeutung gleichzeitig weit über die Therapie von Lipidstoffwechselstörungen hinaus. Denn sie bestätigt zwar einerseits die schon in vielen Studien gezeigte Wirksamkeit der Statine, macht aber andererseits darauf aufmerksam, dass diese kein Selbstzweck ist. Letztlich geht es nicht darum, den LDL-C-Wert eines Patienten zu senken, sondern zu verhindern, dass er einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleidet oder daran verstirbt. Wie groß der Beitrag ist, den ein Statin dazu leisten kann, hängt dabei auch von (Lebensstil-)Faktoren ab, die der Patient unter Umständen nicht beeinflussen kann oder will.
Überaus wichtig ist, dass die Autoren mit dieser Arbeit ein Schlaglicht auf den Unterschied zwischen absolutem und relativem Risiko richten. Denn allzu oft wird im medizinischen Kontext mit relativen Zahlen hantiert, die auch dann imponieren können, wenn sie nur einen sehr geringen absoluten Unterschied ausmachen. Um eine freie Entscheidung für oder gegen eine Therapie treffen zu können, sollte der Patient daher möglichst sachlich informiert werden. So lässt sich übrigens auch einem Noceboeffekt vorbeugen, der ja bei Statinen bekanntlich auch eine große Rolle spielt.
Annette Rößler, Redakteurin Pharmazie