Meinungen am Rande des Mainstreams |
Theo Dingermann |
30.03.2020 11:40 Uhr |
Meinungen sollten auf Daten fußen. Allerdings lassen sich Datensätze sehr unterschiedlich interpretieren. Das kann zu gefährlichen Irrmeinungen führen. / Foto: Fotolia/Helder Almeida
Die Pandemie hat die Gesellschaft fest im Griff. Und nicht wenige sind überrascht, wie sich eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den drastischen, teils existenzbedrohenden Anordnungen der Regierung fügt. Zu Recht zollen viele Politiker diesem Verhalten Dank und Respekt. Allerdings ist nicht jeder der Meinung, dass die ordnungspolitischen Reaktionen auf die Pandemie angemessen sind. Drei Alternativstandpunkte sollen das verdeutlichen.
Bereits am 13. März wurde ein Video eines Interviews mit dem ehemaligen Gesundheitspolitiker Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) zu Coronaviren auf YouTube eingestellt, das bis heute circa 1,5 Millionen Mal angeschaut wurde. Wodarg war 15 Jahre lang Bundestagsabgeordneter für die SPD, er war Leiter des Gesundheitsamts der Stadt Lübeck und gehörte bis zum 25. März 2020 dem Vorstand der deutschen Sektion der Antikorruptionsorganisation von Transparency International an.
Wodargs Kernaussage ist, dass es Coronaviren schon immer gegeben habe. Allerdings sei bisher nie mit Tests danach gesucht worden. »Je häufiger wir testen, um so mehr Coronaviren finden wir«, so Wodarg. Nach seiner Meinung seien die Reaktionen auf die Pandemie völlig übertrieben und fahrlässig angeordnet worden, da der »Schrecken«, den die Pandemie bei den Politikern und in Teilen der Öffentlichkeit verbreitet, einzig das Ergebnis eines überflüssigen und zudem falsch eingesetzten und nicht validierten Tests sei. Er sei »fassungslos, über das, was ich da beobachten muss.«
Wodarg bestreitet, dass das neuartige Coronavirus gefährlicher sei als die bisher bekannten Coronaviren. Und auch höhere Todeszahlen durch SARS-CoV-2 hält er für eine mediale Erfindung. Etwa 10 Prozent aller existierenden Viren seien Coronaviren. Wenn es bei vorherigen Grippewellen 20.000 bis 30.000 Tote gegeben habe, so rechnet er vor, dann gab es »in den vergangenen Jahren immer 2.000 bis 3.000 Tote durch Coronaviren. Und da sind wir ja noch weit von weg.«
Wodarg argumentiert mittlerweile so radikal, dass er nicht nur aus dem Vorstand der deutschen Sektion der Antikorruptionsorganisation von Transparency International ausgeschlossen wurde. Auch sein Parteifreund und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat Wodarg wegen seiner Äußerungen auf Twitter kritisiert: »Ich sage das ungern, aber es muss sein: Der von mir eigentlich geschätzte ehemalige SPD-Kollege Dr. Wolfgang Wodarg redet zu Covid-19 blanken Unsinn. In ganz Europa kämpfen Ärzte um das Leben der Erkrankten. Wodargs Position ist unverantwortlicher Fake News.«
Auch bei Transparency International sorgen die Äußerungen von Vorstandsmitglied Wodarg für Befremden. Das Infragestellen der staatlichen Maßnahmen gegen Corona führe »zu einer Verunsicherung in der Bevölkerung, die den realen Gefahren des Virus nicht gerecht wird«, erklärte die Organisation. Und sie stellt klar: »Wolfgang Wodarg äußert sich in dieser Sache als Privatperson und nicht in seiner Funktion als Vorstandsmitglied.«
Wie die »taz« am 25. März berichtete, hat der Vorstand der deutschen Sektion der Antikorruptionsorganisation von Transparency International beschlossen, Wodargs Vereinsmitgliedschaft »bis auf Weiteres« ruhend zu stellen. Wodarg habe auf den Wunsch des Vorstands nicht reagiert, seine verharmlosenden Äußerungen zum neuartigen Coronavirus und zu den Gegenmaßnahmen zurückzuziehen.
Am 19. März erschien ein Video auf YouTube, in dem sich der Mainzer Mikrobiologe Professor Dr. Sucharit Bhakdi zur Lage während der Pandemie zu Wort meldet. Das Video wurde bis heute circa 700.000 Mal aufgerufen.
Bhakdi, der 22 Jahre lang das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Mainz leitete, forscht heute als Gastprofessor an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist auch vielen deutschen Pharmazeuten bekannt, da er mehrfach auf den Pharmacon-Kongressen in Meran und Davos referierte.
1989 entdeckte er, dass das Komplementsystem, mit dem er sich schwerpunktmäßig während seiner Mainzer Zeit beschäftigt hatte, auch eine Rolle im Rahmen der Pathogenese der Atherosklerose zu spielen scheint. Daraus entwickelte er die sogenannte Mainzer Hypothese, ein neues Erklärungskonzept zur Entstehung der gefährlichen Volkskrankheit.
In dem zitierten Interview kritisiert auch Bhakdi die Reaktionen auf das Auftreten des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 scharf. »Ich finde sie grotesk, überbordend und direkt gefährlich«, sagt er mit Blick auf staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie. Nach seiner Meinung treten bei 99 Prozent der Infizierten lediglich leichte oder gar keine Symptome auf. Nur bei weniger als 1 Prozent komme es zum Ausbruch einer Krankheit.
Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) zeichnen hingegen ein anderes Bild. Danach erkranken zwischen 51 Prozent und 81 Prozent der Infizierten. Bis zu 20 Prozent der Erkrankungen verlaufen schwer bis lebensbedrohlich.
Auf Basis seiner Annahmen rechnet Bhakdi ähnlich wie Wodarg. Am 19. März habe die Zahl der bekannten Infektionen in Deutschland circa 10.000 betragen (laut RKI 10.999). Bhakdi nimmt an, dass 1 Prozent dieser Infizierten erkrankt waren (100), 30 seinen gestorben (laut RKI 20). Damit sei in den ersten 30 Tagen der Epidemie in Deutschland ein Mensch pro Tag an Covid-19 gestorben. Unklar bleibt, warum er den Beginn der Epidemie auf den 19. Februar legt.
Auf dieser – hinsichtlich der Infektionen und der Todesfälle realen – Basis entwirft Bhakdi nun ein »Worst-Case-Szenario«. Dabei geht er für die nächsten 60 Tage von einer Million Infizierten aus. Von diesen erkranken nach seinen Annahmen 1 Prozent (= 10.000) und 3.000 sterben. Für den gesamten Zeitraum (30 Tage plus 60 Tage) resultieren aus dieser Rechnung circa 30 Covid-19-Tote pro Tag. Das wiederum sei eine verschwindend kleine Übersterblichkeit, so Bhakdi, da durchschnittlich circa 2.500 ältere Menschen in Deutschland pro Tag versterben.
Zwar geht auch Bhakdi von einem exponenziellen Anstieg der Coronavirus-Ausbreitung aus, bleibt aber mit seinem »Horrorszenario« von einer Million Infizierten weit unter den Prognosen etwa des RKI. Das Institut warnte jüngst vor bundesweit zehn Millionen Coronavirus-Infektionen in den kommenden Monaten, wenn die von der Bundesregierung angeordneten Maßnahmen nicht eingehalten würden.
Weitere Experten gehen sogar davon aus, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren könnten. Das entspricht bei gut 83 Millionen Einwohnern in Deutschland etwa 50 bis 58 Millionen Menschen. Die Hoffnung ist, dass sich die Ausbreitung der Krankheit aufgrund der drastischen Maßnahmen möglichst langsam vollzieht, um möglichst wenig Erkrankte gleichzeitig versorgen zu müssen.
Eine private WhatsApp-Nachricht über das neuartige Coronavirus sorgte in der zweiten März-Woche für einiges Aufsehen. Sie fand irgendwie den Weg in die Öffentlichkeit. Darin äußerte sich ein damals noch unbekannter Sprecher gegenüber seiner Schwester beruhigend zur Gefährlichkeit der Lage mit dem Coronavirus.
Dies nahm das Internetportal Vitalstoff.Blog zum Anlass, Professor Dr. Carsten Scheller, den Schreiber der Nachricht, am 24. März 2020 um seine Einschätzung zur Corona-Pandemie zu bitten. Das Video wurde am 25. März veröffentlicht und bisher knapp 60.000 Mal abgerufen.
Das SARS-Coronavirus-2, so Scheller, sei vergleichbar mit dem Influenzavirus, auch hinsichtlich der von den beiden Viren verursachten Todeszahlen. Während der heftigen Influenza-Epidemie 2017/2018 starben in Deutschland binnen acht Wochen 25.000 Menschen an der Infektionskrankheit.
Davon, so Scheller, seien wir 2020 mit Corona weit entfernt. Dennoch sei die Angst vor dem Coronavirus bei den meisten in der Bevölkerung sehr viel größer als die Angst vor einer Influenza-Infektion im Jahr 2018. Der Grund: die marginale journalistische Begleitung der Influenza-Epidemie damals.
Scheller beklagt aktuell eine stark tendenziöse Datenlage zur Corona-Epidemie in Deutschland. Das macht er nicht vorwurfsvoll, sondern er erkennt sehr wohl an, dass das Vorgehen der Verantwortlichen den Zwängen der Situation geschuldet ist. Wegen des immer eklatanter werdenden Kapazitätsmangels sowohl hinsichtlich der Tests als auch hinsichtlich der Laborkapazität, werde das Bild stark in Richtung positiver Tests verzerrt. Denn aktuell könnten nur noch Patienten getestet werden, die bereits deutlich krank sind.
Scheller argumentiert, dass eigentlich ein Screening repräsentativer Stichproben dringend gebraucht würde. Dem kann man folgen. Allerdings lässt sich das momentan wegen begrenzter Testkapazitäten und fehlender validierter Antiköpertests nicht umsetzen.
Wie problematisch es ist, die verfügbaren Testdaten als Basis für Vorhersagemodelle zu verwenden, schildert Scheller am Beispiel einer Berechnung, die Professor Dr. Harald Lesch kürzlich im ZDF im Rahmen seiner Sendung »Leschs Kosmos« zum Thema Corona aufstellte. Basierend auf den Daten, die bis kurz vor der Sendung vorlagen, war für den Freitag der vergangenen Woche, spätestens jedoch für den heutigen Montag, ein Kollaps der Kliniken vorausgesagt worden. Dies ist nicht geschehen, wie wir wissen, weil die Zahlen, von denen ausgegangen wurde, die Wirklichkeit nicht widerspiegeln.
Aus diesen Gründen sieht Scheller die aktuellen Maßnahmen mindestens kritisch. Er empfiehlt, durchaus über Exitstrategien nachzudenken.
Einen interessanten Aspekt brachte er dann auch noch am Ende seines Videos. Er empfahl, auch einmal auf andere Gesellschaften zu schauen, und wählte als Beispiel Japan. Angenommen, den aus Japan gemeldeten niedrigen Zahlen könne man vertrauen, dann sollte man auf die offensichtlichen Unterschiede zwischen unserer und der japanischen Gesellschaft schauen.
Was da auffällt, so Scheller, ist die Angewohnheit vieler Japaner, im Winter mit einem Mundschutz ausgestattet in die Öffentlichkeit zu gehen. Man weiß, dass ein solcher Schutz den Träger nicht schützt. Er schützt allerdings das Umfeld des Trägers, da sehr viel (infektiöse) Feuchtigkeit zurückgehalten wird. In Zeiten einer Epidemie ist es sehr plausibel, dass durch das Tragen eines Mund-und Nasenschutzes die infektiöse Belastung des öffentlichen Raums stark reduziert wird.
Es ist gute wissenschaftliche Praxis, sich mit eigenen Theorien einer kritischen Diskussion zu stellen. Das gilt auch für das Maßnahmenpaket, zu dem sich die Politik angesichts der offenkundigen Pandemieentwicklung entschlossen hat. Die Maßnahmen sind einschneidend und für viele überfordernd. Daher ist ein kritischer Diskurs sehr wichtig.
Dieser muss sich allerdings innerhalb des Regelwerks der Wissenschaft bewegen. Alternative Denkansätze, die auf Verschwörungstheorien basieren oder wichtige Teilaspekte nicht berücksichtigen, können sehr gefährlich sein, wenn ihnen zu viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Sie können auch dazu führen, das seriöse Alternativmeinungen, wie sie beispielsweise Scheller vertritt, kaum wahrgenommen oder vorschnell verworfen werden.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.