Mehr Anlaufstellen für Long-Covid-Patienten nötig |
Christina Hohmann-Jeddi |
23.06.2021 09:00 Uhr |
Anhaltende Erschöpfung ist eines der häufigsten Symptome bei Long Covid. / Foto: Adobe Stock/Andrzej Wilusz
Die SARS-CoV-2-Infektion ist überstanden, doch die Beschwerden verschwinden nicht oder es treten neue auf: Von Long Covid oder Post-Covid-Syndrom ist die Rede, wenn eine Symptomatik noch Wochen nach der eigentlichen Infektion anhält. »Wie viele ehemals Infizierte betroffen sind, ist noch nicht ganz klar«, sagte Professor Dr. Oliver Witzke vom Universitätsklinikum Essen beim 15. Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin. Studien zufolge entwickelten zwischen 10 und 50 Prozent der Genesenen Long Covid. Für Deutschland wird eine Häufigkeit von 10 Prozent angenommen, insgesamt wären somit 350.000 Menschen betroffen.
Die Terminologie sei noch unklar und das Beschwerdebild noch nicht sauber definiert, sagte Witzke. Dabei seien auch Probleme nach schweren Covid-19-Erkrankungen, die zum Teil auf Schäden an Organen wie Herz und Lunge beruhten und irreversibel sein könnten, von Symptomen nach leichter oder gar asymptomatischer Infektion zu unterscheiden.
Wo finden diese Menschen medizinische Hilfe? Einige Kliniken in Deutschland hätten Post-Covid-Ambulanzen gegründet. »Diese sind völlig überlaufen«, berichtete Witzke. Das Angebot reiche bei Weitem nicht aus. In der Uniklinik Essen gibt es seit Mai 2020 eine solche Ambulanz. Wie Dr. Margarethe Konik bei dem Kongress informierte, habe sie seit Gründung etwa 400 Patienten in der Ambulanz betreut. Für die Sprechstunde, die an zwei Tagen pro Woche stattfindet, seien die Termine bis März nächsten Jahres vergeben.
Patienten, die sich dort vorstellten, seien in der Regel zwischen 40 und 60 Jahre alt, berichtete Konik. Darunter seien sowohl Patienten, die ambulant die Infektion überstanden hätten, als auch hospitalisierte Patienten und intensivmedizinisch Betreute. Die Medizinerin betonte, dass die Symptome nach Zeitintervallen einzuteilen seien.
Als akute Infektion gelten demnach Symptome bis zu vier Wochen nach der Infektion, als postakut Beschwerden zwischen vier und zwölf Wochen. Was als Long Covid oder Post-Covid-Syndrom bekannt sei, seien Beschwerden, die auch zwölf Wölfen nach Infektion noch bestehen. Im Vordergrund stehe hierbei das Fatigue-Syndrom, also eine anhaltende Erschöpfung, Dyspnoe und Leistungsminderung. »Die Hälfte der Patienten klagt auch über eine neurologische Symptomatik, die sich als Geschmacksstörung, Wortfindungs- und Konzentrationsstörung äußert.« Zudem können auch Symptome wie Kurzatmigkeit, trockener Husten, Kopf- und Muskelschmerzen auftreten.
Wie kommt es zur Long-Covid-Symptomatik? Eine Hypothese ist, dass das SARS-Coronavirus-2 im Körper, etwa im Darm, überdauern kann. So konnten Proteine und das Erbgut des Erregers auch Monate nach einer überstandenen Infektion bei einigen Patienten noch im Darm nachgewiesen werden. Bei ihren Patienten in der Sprechstunde könne eine chronische Entzündungsreaktion anhand der gängigen Laborparameter nicht festgestellt werden, sagte Konik. »Immunologisch unterscheiden sich die Patienten allerdings.« So weisen intensivmedizinisch versorgte Covid-19-Patienten deutlich höhere Antikörpertiter auf als solche, die ambulant versorgt wurden.
Eine weitere Hypothese zur Long-Covid-Entstehung ist, dass immunologische Faktoren wie eine Autoimmunreaktion eine Rolle spielen könnten. SARS-CoV-2 bringt das Immunsystem insgesamt durcheinander, was auch an der hyperinflammatorischen Reaktion bei schweren Verläufen und an dem pädiatrischen inflammatorischen Multiorgan-Syndrom (PIMS), das bei Kindern Wochen nach einer Corona-Infektion auftreten kann, zu sehen ist. Die immunologischen Störungen könnten anhalten, auch wenn der Erreger bereits eliminiert wurde, so die Hypothese. Bewiesen sind beide Hypothesen noch nicht, eventuell gibt es auch verschiedene Erkrankungsbilder mit unterschiedlichen zugrunde liegenden Pathomechanismen.
Neben möglichen Pathomechanismen sollten auch psychosoziale Aspekte berücksichtigt werden, sagte Konik. Die Ausnahmesituation des Lockdowns belaste die Patienten ebenso wie Trauer um Bekannte oder Familienangehörige, finanzielle Sorgen, Ängste und mögliche Stigmatisierung aufgrund der Coronavirus-Infektion. Sie zitierte eine Umfrage, nach der die Häufigkeiten von generalisierter Angst, Depression und psychischem Stress im ersten Lockdown ab März 2020 deutlich angestiegen waren und erst danach wieder absanken, wobei sie bei Weitem nicht das Ausgangsniveau der Vorpandemiezeit erreichten. Auch ihre Patienten in der Sprechstunde berichteten von Ängsten, Schlaflosigkeit und Stress, sagte Konik. »Dies können Folgen von Covid-19 sein, aber auch Nachwirkungen des Lockdowns.«
Wichtig sei zunächst, die Symptome sorgfältig abzuklären und andere Ursachen für die Beschwerden auszuschließen. Vielen Betroffenen helfe schon das Gespräch und die Aufklärung über die Symptomatik. »Ich empfehle auch allen Patienten die Coronaimpfung«, sagte die Medizinerin. Diese gilt als möglicher Ansatz gegen Long Covid, der hilft, den Erreger vollständig zu eliminieren, oder in die Immunreaktion eingreift. Ob der Ansatz effektiv ist, wurde in einer britischen Studie mit 44 Long-Covid-Patienten untersucht, die Monate nach der Infektion eine Dosis des mRNA-Impfstoffs von Biontech/Pfizer oder des Vektorimpfstoffs von Astra-Zeneca erhielten. Bei 82 Prozent der Geimpften war bei der Nachuntersuchung noch mindestens ein Symptom vorhanden, insgesamt war aber eine leichte Gesamtverbesserung der Symptomatik zu erkennen. Zu beachten sei, dass die Impfung zumindest nicht geschadet habe, betonte die Referentin.
Therapeutische Ansätze gebe es bislang nicht, untersucht werde der Nutzen von immunmodulatorischen Substanzen wie Histaminantagonisten, Atorvastatin und des direkten oralen Antikoagulans Apixaban (Eliquis®). In der HEAL-COVID-Studie, für die in Großbritannien 2000 hospitalisierte Covid-19-Genesene rekrutiert werden sollen, werden die beiden letztgenannten Substanzen untersucht. In dieser randomisierten, placebokontrollierten Phase-III-Studie erhalten die Probanden entweder Apixaban (2,5 mg oral zweimal täglich für 14 Tage) oder Atorvastatin (40 mg oral zweimal täglich für zwölf Monate). Atorvastatin könnte durch seine antithrombotische und antiinflammatorische Wirkung einen positiven Effekt haben und auch die Gefäßfunktion verbessern.
Um effiziente Therapien gegen Long Covid entwickeln zu können, müssen die Pathomechanismen besser verstanden werden. »Es besteht noch Forschungsbedarf«, betonte Witzke. Hierzu gebe es in Deutschland vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekte wie das Nationale Pandemie Kohorten Netz (NAPKON) des »Netzwerks Universitätsmedizin«, das hochqualitative Daten sammele. In den USA stellt die Gesundheitsbehörde NIH für die kommenden vier Jahre insgesamt 1,15 Milliarden US-Dollar (1 Milliarde Euro) für die Erforschung von Long Covid zur Verfügung.
Für die Betreuung der von Long Covid Betroffenen in Deutschland seien mehr Anlaufstellen und Rehazentren notwendig, sagte Witzke. »Die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Post-Covid-Symptomen muss in Deutschland dringend noch ausgebaut werden.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.