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Small Molecules bis RNA-Interferenz

Lipidtherapie jenseits der Statine

Werden mit einem Statin die LDL-Zielwerte verfehlt, stehen Ärzte nicht mit leeren Händen da. Die Therapieoptionen jenseits der Statine erweitern sich ständig. Bempedoinsäure ist der jüngste Neuzugang, Inclisiran könnte bald folgen.
Manfred Schubert-Zsilavecz
16.04.2020  08:00 Uhr

Die European Society of Cardiology (ESC) hat vor Kurzem ihre Leitlinie zur Behandlung der Dyslipidämie aktualisiert. Demnach wird für alle Patienten mit sehr hohem und hohem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse die Behandlung mit einem Statin empfohlen, das eine 50-prozentige Reduktion des LDL-Cholesterols gegenüber dem Ausgangswert ermöglichen soll. Dieser Anforderung entsprechen Atorvastatin in der Dosierung 40 mg pro Tag und Rosuvastatin mit 20 mg pro Tag, wohingegen mit Simvastatin (40 mg pro Tag) und Pravastatin (40 mg pro Tag) der Zielwert in der Regel nicht erreicht werden kann.

Bei Nicht-Erreichen des gewünschten LDL-Cholesterol-Zielwerts empfiehlt die Leitlinie die Hinzunahme von Ezetimib. Auf diese Weise werden zwei Wirkprinzipien miteinander kombiniert: die HMG-CoA-Reduktase-Inhibition durch das Statin und die Hemmung der Aufnahme von Cholesterol am Bürstensaum der Zottenzellen des Dünndarms durch Ezetimib.

Neuzugang bei den small Molecules

Das Spektrum von small Molecules zur Therapie von Hypercholesterolämien wurde vor wenigen Tagen mit der europäischen Zulassung der Kombination aus Bempedoinsäure und Ezetimib (Nustendi®, Daiichi-Sankyo) erweitert. Bempedoinsäure hemmt wie die Statine die Cholsterolbiosynthese, ist allerdings im Gegensatz zu diesen hepatoselektiv. Das Target der Bempedoinsäure ist die ATP-Citrat-Lyase (ACL), die die Umwandlung von Citrat in Acetyl-CoA katalysiert.

Das Prodrug Bempedoinsäure (ETC-1002) wird durch selektive hepatische Metabolisierung mithilfe des Enzyms ACSVL1 (Very long-chain acyl-CoA Synthetase) in die Wirkform ETC-1002-CoA übergeführt. Da ACSVL1 nicht in Skelettmuskelzellen exprimiert wird, kommt es anders als bei den Statinen zu keiner Beeinflussung der muskuloskeletalen Cholesterolbiosynthese. Die für Statine typischen Nebenwirkungen wie Muskelschmerzen oder im schlimmsten Fall Rhabdomyolyse sind unter einer Therapie mit Bempedoinsäure nicht zu erwarten.

Auftritt der Antikörper

Die therapeutische Vormachtstellung der small Molecules wurde vor wenigen Jahren durch die Zulassung von Alirocumab (Praluent®, Sanofi/Regeneron) und Evolocumab (Repatha®, Amgen) durchbrochen. Diese monoklonalen Antikörper richten sich gegen die Proprotein-Konvertase Subtilisin-Kexin Typ 9 (PCSK9) und repräsentieren den wichtigsten Therapiefortschritt seit der Einführung der Statine.

PCSK9 ist ein wichtiger Regulator der LDL-Rezeptordichte auf der Oberfläche von Hepatozyten. Es reguliert den LDL-Cholesterolspiegel, indem es an den LDL-Rezeptor bindet und mit ihm zusammen von der Leberzelle aufgenommen wird. PCSK9-gebundene LDL-Rezeptoren werden abgebaut und werden nicht erneut an die Zelloberfläche befördert. Alirocumab und Evolocumab schalten extrazelluläres PCSK9 aus und erhöhen so die Dichte an LDL-Rezeptoren auf den Hepatozyten mit der Folge einer vermehrten Aufnahme von LDL-Cholesterol in die Leber.

siRNA schaltet PCSK9 aus

Mit der Übernahme der US-Biotechnologiefirma The Medicines Company durch Novartis könnte mit Inclisiran demnächst ein siRNA (small interfering RNA)-basierter Wirkstoff eine Zulassung als Lipidtherapeutikum bekommen. Inclisiran besteht aus einer chemisch modifizierten doppelsträngigen siRNA (Oligonukleotid) in Konjugation mit drei N-Acetylgalactosamin-Zuckereinheiten (triantennäres GalNAc). Mit diesen terminalen Zuckerresten bindet Inclisiran selektiv an den Asialoglykoprotein-Rezeptor (ASGPR) auf den Hepatozyten, was die Aufnahme des Arzneistoffs in die Leberzelle nach sich zieht. Im Zellinneren verbindet sich Inclisiran mit der mRNA des PCSK9-Gens und verhindert so, dass das Gen in das Protein PCSK9 übersetzt wird. Diese Blockade nennt man allgemein RNA-Interferenz.

Das fundamentale Prinzip der RNA-Interferenz wurde von den Professoren Dr. Craig Mello und Dr. Andrew Fire entdeckt, wofür die beiden Wissenschaftler 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Die frühe Begeisterung für siRNA-Therapeutika wurde allerdings schnell gedämpft, nicht zuletzt wegen des Einsatzes nicht optimierter Moleküle, die in verschiedensten Indikationsbereichen keine oder nur minimale klinische Effekte zeigten. Inclisiran ist insofern eine Sprunginnovation, als mit den Zuckerresten eine rezeptorselektive Aufnahme in die Leberzellen ermöglicht wird mit dem Ergebnis klinisch relevanter Wirkstoffspiegel in den Hepatozyten.

siRNA besteht aus einem Guide- und einem Passenger-Strang. Während der Guide-Strang die Sequenzinformationen für die Zielgen-Erkennung trägt, ist der Passenger-Strang für die Aufnahme der siRNA in den RISC-Komplex (RNA-Induced Silencing Complex) mitverantwortlich. Der RISC-Komplex besteht aus RNA und Proteinen. Seine Funktion besteht darin, die intrazelluläre Biosynthese von Proteinen gezielt stummzuschalten, indem er die für diese Proteine kodierende mRNA ausschaltet. Inclisiran wird nach Aufnahme in die Hepatozyten an den RISC-Komplex gebunden. Nach Abspaltung des Passenger-Strangs kommt es zur Degradation der für PCSK9 kodierenden RNA (siehe Grafik).

Im Gegensatz zu Alirocumab und Evolocumab, die im Abstand von zwei bis vier Wochen appliziert werden müssen, reicht bei Inclisiran eine subkutane Applikation im Abstand von sechs Monaten, was diesen Wirkstoff auch zu einer interessanten Alternative zu den Statinen macht, die täglich gegeben werden müssen. Die mittlere, zeitlich gewichtete Senkung des LDL-Cholesterols betrug in der ORION-11-Studie 50 Prozent im Vergleich zu Placebo bei einer vernachlässigbaren Nebenwirkungsrate auf Placeboniveau.

Literatur beim Verfasser

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