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Fehlende Dosierungsangabe

Keine klare Retax-Regel

Seit dem 1. November 2021 können Krankenkassen Rezepte mit fehlender Dosierungsangabe retaxieren. Ob und wann sie das tun, ist jedoch keineswegs einheitlich geregelt.
Svea Türschmann
08.06.2022  12:30 Uhr

Die seit dem 1. November 2020 verpflichtende Angabe der Dosierung auf dem Rezept soll mögliche Informationslücken zwischen Arzt, Patient und Apotheke schließen. Der Gesetzgeber hat damit eine langjährige Forderung unter anderem der Apothekerschaft in seiner 18. Änderung der Arzneimittel-Verschreibungsverordnung (AMVV) aufgegriffen. Doch auch damals warnten kritische Stimmen davor, dass fehlende Dosierungsangaben von den Krankenkassen als Vorwand für Retaxationen genutzt werden könnten.

Da es auf ärztlicher Seite längere Zeit an einer flächendeckenden Softwarelösung fehlte, boten die Krankenkassen eine Friedenspflicht bis November 2021 sowie einen »Probemonat« im Oktober 2021 an. In diesem Zeitraum wurden Sanktionierungen gegenüber den Apotheken durch die Krankenkassen ausgeschlossen. Seit dem 1. November 2021 ist eine Retaxierung nun grundsätzlich möglich. Doch wie groß ist das Problem im Alltag wirklich?

Große regionale Unterschiede

Der Bayerische Apothekerverband gibt auf Nachfrage der PZ an, bei ihnen kämen lediglich vereinzelt Anfragen – oft aber schon vor der Belieferung, um die Korrektheit des Rezepts prüfen zu lassen. Auch beim Apothekerverband Baden-Württemberg ist nach eigenen Angaben das Thema bislang noch nicht an der Tagesordnung. Bisher habe es nur eine Taxationsbeanstandung gegeben, heißt es gegenüber der PZ. Währenddessen berichtet der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) der PZ von insgesamt 60 Fällen innerhalb von anderthalb Monaten und 120.000 Euro Gesamtschaden für Mitglieder. Zumeist handele es sich demnach um Hochpreiser, bei denen eine Retaxierung auf einen Schlag einen sehr hohen Verlust für eine Apotheke bedeuten kann.

Beispielsweise habe ein schwerst lungenkranker Patient in einer Apotheke fünf Rezepte für hochpreisige Präparate eingelöst, berichtet der AVWL. Der Patient habe bereits über Erfahrung mit den Präparaten verfügt und sei zusätzlich durch die Ärzte der ausstellenden Uniklinik eingewiesen worden, wie diese auch nachträglich bescheinigt habe. Zudem wurde ein ausführlicher Entlassbrief mitgegeben. Dies hätte auf dem Rezept durch ein »Dj« ( bedeutet: »Ja, es liegt eine schriftliche Dosierungsanweisung vor«) gekennzeichnet werden müssen. Eines der Präparate sei sogar durch den behandelnden niedergelassenen Facharzt verabreicht worden.

Dennoch habe ein Prüfzentrum, das von einer Berufsgenossenschaft beauftragt worden sei, alle fünf Rezepte auf Null retaxiert. Der resultierende Gesamtschaden für die Apotheke belief sich auf annähernd 10.500 Euro. Deren Einsprüche  seien zunächst mit »wenigen technokratischen Sätzen« abgelehnt worden. Mittlerweile sei jedoch den durch die AVWL-Retaxstelle begründeten Einsprüchen stattgegeben worden. Der Apotheker sei allerdings nach wie vor fassungslos, »dass er für einen Formfehler geradestehen sollte, den er selbst gar nicht begangen hatte, und dass man ihm noch nicht einmal den Wareneinsatz erstatten wollte«, so der AVWL.

Formfehler oder nicht?

Ob es sich bei einer fehlenden Dosierungsangabe um einen einfachen Formfehler handelt oder nicht, scheint davon abzuhängen, wen man fragt. Für den Fortbestand des Vergütungsanspruches müsse es sich nach § 6 Absatz 1 Buchstabe d des Rahmenvertrags nach § 129 Absatz 2  Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V) um einen »unbedeutenden, die Arzneimittelsicherheit und die Wirtschaftlichkeit der Versorgung nicht wesentlich tangierenden, insbesondere formalen Fehler« handeln, erklärte ein Sprecher des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gegenüber der PZ.

»Das Fehlen einer Dosierangabe ist jedoch für die Arzneimittelsicherheit von Bedeutung, insofern handelt es sich bei deren Fehlen nicht um einen unbedeutenden Fehler. Ob sich im Nachhinein herausstellt, dass ein Patient auch ohne die Dosierungsangabe richtig versorgt wurde, ist hierbei nicht von Belang«, so die Begründung. Apotheken dürften nach § 17 Absatz 5 Satz 3 der Apothekenbetriebsordnung mit einer Verschreibung, die einen für den Abgebenden erkennbaren Irrtum enthalten, nicht lesbar sind oder sich sonstige Bedenken ergeben, das Arzneimittel nicht abgeben, bevor die Unklarheit beseitigt ist.

Der AVWL widerspricht: »Wie in diesem ist auch in keinem der anderen uns vorliegenden Fälle die Patientensicherheit gefährdet gewesen.« Aus Sicht des Verbands widerspreche das Vorgehen der Krankenkassen allen gesetzlichen und vertraglichen Regelungen.

Krankenkassen retaxieren nach eigenem Ermessen

Eine bundeseinheitliche Vorgabe seitens des GKV-Spitzenverbandes gebe es nicht, denn für Retaxationen seien die Krankenkassen im eigenen Ermessen verantwortlich. Die AOK Hessen erklärte gegenüber der PZ hierzu: »Wenn Medikamente direkt an Patientinnen und Patienten ausgegeben werden, muss die Dosierung somit vermerkt sein. Ist sie das nicht, retaxieren wir auf Null. Solange aus der Dosierungsangabe auf der Verordnung hervorgeht, wie der/die Endverbraucher/in das Arzneimittel einzunehmen hat, sind die erforderlichen Vorgaben erfüllt und die Arzneimittelsicherheit gewährleistet.« Derzeit würden Verordnungen für das vierte Quartal 2021 dahingehend geprüft.

Auch die Barmer beruft sich auf die Arzneimitteltherapiesicherheit: »Rezepte müssen aus guten Gründen die an sie gestellten formalen Anforderungen erfüllen, damit sie erstattet werden können. […] Die Angabe der Dosierung steigert die Arzneimitteltherapiesicherheit.« Ein Sprecher wies stattdessen auf die Möglichkeit der Heilung nach § 2 Absatz 6 und 6a der AMVV hin. Nutze der Apotheker sein Recht auf Ergänzung einer fehlenden Dosierungsangabe nicht, dann sei das Rezept nicht ordnungsgemäß ausgestellt. In der logischen Konsequenz könne es grundsätzlich zu einer Beanstandung durch die Krankenkassen kommen, so der Sprecher. Konkrete Zahlen zu Retaxationen konnten aber weder AOK noch Barmer nennen.

Die IKK classic gab auf Nachfrage an, auffällige Verordnungen ab dem Abrechnungsmonat Januar 2022 zu retaxieren. Man bewerte mögliche Interventionen jedoch »mit Augenmaß«. Bislang seien noch keine Retaxierungen durchgeführt worden. Mittlerweile sei der Anteil an Rezepten ohne Dosierungsangabe stark rückläufig. Die Techniker Krankenkasse wolle sich hingegen nicht zu Einzelheiten der Ausgestaltung von Retaxationen äußern. Der Austausch erfolge laut einer Sprecherin in den jeweiligen Fällen mit den betroffenen Apotheken.

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