»Insgesamt ein guter Jahrgang« |
Brigitte M. Gensthaler |
04.06.2021 13:30 Uhr |
Reiche Ernte 2020: Bei den neuen Arzneistoffen überwiegten Schritt- und Sprunginnovationen. / Foto: Adobe Stock/felinda
Als erstes stellte Siebenand die Bempedoinsäure (Nilemdo® von Daiichi-Sankyo) vor, die vor wenigen Tagen mit dem PZ-Innovationspreis ausgezeichnet wurde. Der Lipidsenker ist zur Behandlung erwachsener Patienten mit primärer Hypercholesterolämie oder gemischter Dyslipidämie zugelassen. Er kann mit Statinen oder als Kombinationspräparat Nustendi® mit Ezetimib zusammen gegeben werden und wird einmal täglich (180 mg) eingenommen. Es ist keine Dosisanpassung bei moderater Nieren- und Leberinsuffizienz nötig.
Siebenand erklärte den neuartigen Wirkmechanismus: Bempedoinsäure wird leberspezifisch metabolisiert zum aktiven Metaboliten, der das Enzym ATP-Citrat-Lyase (ACL) und damit die intrazelluläre Cholesterol-Biosynthese hemmt. Wie bei Statinen werden in der Folge vermehrt hepatische LDL-Rezeptoren exprimiert, die wiederum mehr LDL-Cholesterol aus dem Plasma entfernen. Zusätzlich sinkt die hepatische Biosynthese von Fettsäuren. Outcome-Studien zu harten Endpunkten wie Herzinfarkt oder kardiovaskulärem Tod würden 2023 erwartet, sagte Siebenand in der Diskussion.
Vorsicht ist geboten bei Gichtpatienten, denn die Harnsäure kann unter Bempedoinsäure steigen. Ebenso können die Plasmaspiegel von Statinen und damit das Risiko von Myopathien steigen. »Sehr interessant sind Hinweise auf eine verbesserte Glucosetoleranz – im Gegensatz zu Statinen, die diese verschlechtern.« Wie viele neue Substanzen ist Bempedoinsäure in Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert.
Ausführliche Wirkstoffprofile aller neu zugelassenen Arzneistoffe seit 1997 inklusive unserer Bewertung finden Sie in unserer Datenbank Arzneistoffe. Sie können dort nach Jahrgang, Indikation oder alphabetisch nach Wirkstoff- oder Präparatenamen suchen. Den kompletten Jahrgang 2020 finden Sie hier.
Mit Romosozumab (Evenity® von UCB Pharma) hielt ein neues Wirkprinzip bei Osteoporose Einzug. Es ist ein Hemmstoff des Glykoproteins Sklerostin, fördert den Knochenaufbau und hemmt den Knochenabbau. Der Antikörper ist bei manifester Osteoporose bei postmenopausalen Frauen mit deutlich erhöhtem Frakturrisiko zugelassen. Einmal pro Monat werden 210 mg (in zwei Spritzen) subkutan verabreicht. Die Therapie ist auf zwölf Monate begrenzt; danach erfolgt eine Umstellung auf Peroralia, meist Bisphophonate. Später kann aber erneut ein Romosozumab-Zyklus beginnen.
Aufgrund des erhöhten kardiovaskulären Risikos in Studien ist der Antikörper kontraindiziert bei Herzinfarkt und Schlaganfall in der Anamnese. Apotheker sollten den Patienten den regelmäßigen Zahnarztbesuch und eine gute Mundhygiene nahelegen, um Kiefer-Osteonekrosen zu begegnen, riet Siebenand.
Bulevirtid (Hepcludex® von Myr Pharmaceutivals) ist das erste zugelassene Medikament zur Behandlung einer chronischen Hepatitis-D-Virus (HDV-)Infektion bei Erwachsenen mit kompensierter Lebererkrankung. Diese gilt als schwerste Form der Virushepatitis und tritt immer zusammen mit Hepatitis B (HB) auf. »In Deutschland leben etwa 6000 HDV-Patienten – bei vermutlich hoher Dunkelziffer«, so der Referent.
Bulevirtid ist ein Peptid, dessen Struktur von L-HBs-Antigen, einem Hüllprotein von Hepatitis-B-Viren, abgeleitet ist. Es wirkt als Entry-Inhibitor, denn es bindet spezifisch an den Natrium-Taurocholat-Cotransporter (NTCP) und blockiert damit die Bindestelle für die Viren. Die gleichzeitige Anwendung von NTCP-Substraten, zum Beispiel einigen Statinen und Schilddrüsenhormonen, ist möglichst zu vermeiden. Appliziert werden einmal täglich 2 mg subkutan, meist in Kombination mit HBV-Medikamenten wie Tenofovir. Er erwarte eine baldige Indikationserweiterung, denn »das Wirkprinzip funktioniert auch bei der HBV-Infektion«, sagte Siebenand.
Auch bei einer anderen viralen Infektion gab es 2020 Fortschritte. Ibalizumab (Trogarzo® von Theratechnologies) ist der erste monoklonale Antikörper für Patienten mit multiresistenter HIV-1-Infektion. In Deutschland leben etwa 100 HIV-Patienten mit einer Vierklassen-Resistenz und Virämie. Ibalizumab wird möglichst mit anderen antiretroviralen Arzneistoffen kombiniert. Der humanisierte IgG4-Antikörper bindet an den CD4-Rezeptor auf T-Helferzellen, den HIV benutzt, um in die Wirtszellen einzudringen. Ibalizumab ist also ebenfalls ein Entry-Inhibitor. Da es nur an die Domäne 2 des CD4-Rezeptors bindet, werde die CD4-vermittelte Immunfunktion nicht beeinträchtigt, betonte der Referent. Nach einer Initialdosis werden alle zwei Wochen 800 mg intravenös infundiert. Die Firma arbeite bereits an einer subkutanen Applikationsform.
Für Patienten mit multiresistenter HIV-Infektion gibt es seit April 2021 noch eine Option: Fostemsavir (Rukobia® von ViiV Healthcare). Dies ist der erste HIV-1-Attachment-Inhibitor. Vorteilhaft ist die perorale Gabe: zweimal täglich eine Tablette à 600 mg.
Mit dem Zungenbrecher Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma® von Avexis), einer Gentherapie für Kinder mit spinaler Muskelatrophie, beendete Siebenand den Lauf durch die Innovationen des Jahres 2020. Während das Gentherapeutikum einmalig intravenös infundiert wird, ist Risdiplam (Evrysdi® von Roche), das im Mai 2021 auf dem Markt kam, peroral bioverfügbar.