Kein Überleben um jeden Preis |
15.12.2003 00:00 Uhr |
Immer kleinere, extrem unreife Kinder können auf die Welt geholt werden. Dank des medizinischen Fortschritts überleben sie, doch häufig mit schweren Behinderungen. Die Intensivmedizin stößt an ihre Grenzen, und Ärzte stehen vor dem ethischen Dilemma: Welche Maßnahmen sind noch vertretbar, wann beginnt die Quälerei?
Um die 8640 Babys kommen in Deutschland jährlich zur Welt, die bei ihrer Geburt weniger als 1500 Gramm wiegen. Auch besonders kleine Frühchen überleben heute immer häufiger. Sie werden reanimiert, beatmet, gewärmt, überwacht, parenteral ernährt und mit Medikamenten versorgt. „Wir bringen immer mehr Kinder durch, aber es gelingt uns nicht, die Lebensqualität der Kinder wesentlich zu verbessern“, sagte Professor Dr. Hans-Ulrich Bucher vom Universitätsspital Zürich auf dem 21. Deutschen Kongress für Perinatale Medizin in Berlin.
Zwischen 5 und 8 Prozent aller Geburten in Deutschland sind Frühgeburten. Als Ursache gelten vielfach zu frühe Wehen bei pathologischen Veränderungen des Gebärmutterhalses. Weiterhin können Infektionen des Kindes eine Frühgeburt auslösen oder Anlass für einen Kaiserschnitt geben. Aber auch die Mangelernährung im Mutterleib, die vor allem bei Spätgebärenden auftritt, kann es erforderlich machen, das noch unreife Kind mittels Kaiserschnitt vorzeitig zu holen. Ein besonderes Risiko für Frühgeburten haben Frauen mit Diabetes mellitus. Sie müssen während der gesamten Schwangerschaft intensiv ärztlich betreut werden.
Typisch sind verkürzte Schwangerschaften auch bei Mehrlingsgeburten. So kommen Zwillinge durchschnittlich in der 36. Schwangerschaftswoche, Drillinge bereits in der 34. Schwangerschaftswoche zur Welt. Doch diese Kinder stellen keine Problemfälle dar, denn die nur wenige Wochen zu früh Geborenen haben die gleichen Überlebenschancen und Risiken für Komplikationen wie termingerecht geborene Kinder.
Derzeit betrachten die Mediziner eine Geburt in der 23. bis 24. Schwangerschaftswoche und ein Geburtsgewicht des Kindes von 400 bis 500 Gramm als Überlebensgrenze. Doch auch von den kleinen Patienten, die diese Grenze erreichen, versterben trotz intensivmedizinischer Betreuung vier von fünf. Von den Überlebenden sind mehr als die Hälfte schwerstgeschädigt, berichtete Bucher. Zwischen 26. und 30. abgeschlossener Schwangerschaftswoche verbessern sich die Überlebenschancen mit jeder weiteren Woche kontinuierlich.
Die typischen Probleme der Frühgeborenen ergeben sich daraus, dass ihre Lunge und das Herz-Kreislauf-System noch nicht vollständig entwickelt sind. Außerdem sind sie gegenüber Infektionen auf Grund des unreifen Immunsystems besonders anfällig. Jede Infektion, ob bereits pränatal vorhanden oder nach der Geburt erworben, kann tödlich sein.
Ernste Komplikationen
Zwei bis fünf Tage nach der Geburt treten bei Frühgeborenen häufig Hirnblutungen auf. Bei etwa 4 bis 6 Prozent der Kinder unter 1000 Gramm kommt es zu schweren Blutungen im Hirninnern. „Diese sind aber nur ein Teil des Übels“, erklärte Professor Dr. Rainer Rossi vom Krankenhaus Neukölln in Berlin. Denn auch eine Mangeldurchblutung im Gehirn kann ernste Schädigungen verursachen: Sie führt zu Nekrosen, die die Hirnfunktion beeinträchtigen. Die Folgen sind intellektuelle Einschränkungen unterschiedlichen Ausmaßes, sowie Krampfleiden und Bewegungsstörungen.
Neben dem Gehirn sind die Augen und die Lunge der Frühgeborenen besonders anfällig für Schädigungen. Die Augenentwicklung, vor allem die Versorgung der Retina mit Gefäßen, ist zum Zeitpunkt der Geburt noch nicht abgeschlossen. Der hohe Sauerstoffgehalt in der Umgebung außerhalb der Gebärmutter, vor allem bei Kindern die künstlich beatmet werden, unterdrückt die Ausbildung der kleinen Gefäße. Als Folge bleiben die Randbereiche der Netzhaut unvaskularisiert. Wird die Beatmung beendet, ist die Netzhaut mit Sauerstoff unterversorgt. Da dies ein Signal zur Vaskularisierung ist, können Wucherungen der Netzhautgefäße auftreten, die zur Netzhautablösung und schlimmstenfalls zur Erblindung führen.
Da die Lunge der Frühgeborenen sehr unreif ist, müssen viele maschinell beatmet werden. Der Beatmungsdruck verhindert dabei, dass die Lungenbläschen beim Ausatmen zusammenfallen. Durch den hohen Druck können die Lungenbläschen allerdings auch Risse bekommen, die wieder verheilen. Dadurch entsteht ein Narbengewebe, das sich vom ursprünglichen Lungengewebe unterscheidet – die Kinder entwickeln eine so genannte Beatmungslunge. In schweren Fällen müssen sie über Monate bis Jahre künstlich beatmet werden. Später ergeben sich möglicherweise Wachstumsstörungen und Asthma, aber auch mangelnde Leistungsfähigkeit.
Mit allen verfügbaren Mitteln
Weltweit bestehen große Unterschiede, wie mit den Konsequenzen des medizinischen Fortschritts umgegangen wird. Ein Extrembeispiel ist Japan, wo das Leben als heilig gilt. Dort werden alle Mittel eingesetzt, um auch die Kleinsten am Leben zu halten. Angeblich haben dort schon Kinder mit einem Geburtsgewicht von 200 Gramm, die in der 22 Schwangerschaftswoche auf die Welt kamen, überlebt.
Im Gegensatz zu Japan würde in Europa kein Arzt bei einem extrem unreifen Frühchen von 200 Gramm Intensivmaßnahmen beginnen. Die Haltung in den Niederlanden zum Beispiel ist eine ganz andere: Mehr als die Hälfte der holländischen Mediziner würde ein Kind von 560 Gramm und einem 1-Minuten Apgar-Wert von 1 (siehe Kasten) nicht reanimieren. Bewusst enthalten diese Ärzte den Kindern lebenserhaltende Maßnahmen vor und leisten damit passive Sterbehilfe. Am gegenüberliegenden Ende der sehr breiten Meinungspalette in Europa liegen Italien und Ungarn: Hier erhält ein solches Kind eine Therapie, die auch bei schweren Komplikationen nicht abgebrochen wird. Die Schweiz und Deutschland zählen zu den Ländern im europäischen Meinungs-Mittelfeld. Dort zieht man Zwischenbilanz und setzt eine Behandlung aus, wenn abzusehen ist, dass das Kind ernste Behinderungen davontragen wird.
Apgar-Test Der Apgar-Test ist ein Bewertungssystem für Neugeborene, das auf die amerikanische Medizinerin Dr. Virginia Apgar zurückgeht. Die Untersuchung erfasst den Gesamtzustand des Kindes. Getestet werden fünf Lebensfunktionen, für die das Neugeborene jeweils eine Note zwischen 0 und 2 erhält. Kindern mit einer Ergebnis von 8 bis 10 Punkten geht es sehr gut. Bei einem Wert von 7 Punkten oder darunter liegen eventuell Störungen vor. Kinder, die Ergebnisse unter 4 Punkten aufweisen, werden sofort medizinisch behandelt.
„So gibt es auch in Deutschland keine Verpflichtung, die Therapie weiterzuführen, wenn erkennbar ist, dass das Neugeborene nur mit äußerst schweren Schädigungen überleben kann“, heißt es in der deutschen Leitlinie „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes“. Die Empfehlung wurde gemeinsam von den vier geburtsmedizinischen Fachgesellschaften herausgegebenen. Doch trotz dieser Leitlinie wären nur 26 Prozent der in einer Studie befragten deutschen Neonatologen bereit, eine Therapie abzubrechen, wenn eine schwere Komplikation eintritt. Diese Mediziner würden eventuell die Beatmung beenden, so dass das Kind unmittelbar stirbt. Ein Medikament zur Sterbehilfe würde in Deutschland niemand geben. In Nachbarländern wie etwa Frankreich herrscht hierzu eine völlig andere Haltung, wie die Studie ergab. 57 Prozent der befragten französischen Neonatologen würden ein Medikament spritzen, das unmittelbar zum Tode des Kindes führt.
Nach der deutschen Leitlinie wird prinzipiell für ein Kind, das vor der 22. abgeschlossenen Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt, nichts getan. Zwischen der 23. und 24. Woche gibt es einen Graubereich für Entscheidungen und nach 24 abgeschlossenen Schwangerschaftswochen werden in Deutschland auf jeden Fall alle verfügbaren Maßnahmen ergriffen. Letzteres erfolgt aus rechtlichen Gründen im Zweifelsfall auch gegen den Wunsch der Eltern. Auf Grund des geänderten Personenstandsrechts werden in der Bundesrepublik Kinder, die nach der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, als lebendgeboren gewertet, auch wenn sie nur ein einziges der Lebenszeichen Puls, Atmung, Reflexe oder Muskeltonus haben. Vor dieser erst kürzlich in Kraft getretenen Änderung galten diese Kinder als Totgeburten. Als Folge stieg die Mortalität der extrem unreifen Frühgeborenen, die vor der 26. abgeschlossenen Schwangerschaftswoche geboren werden, an, wie etwa die aktuelle Auswertung der hessischen Neonataldaten zeigt. Diese Daten sind für die Bundesrepublik repräsentativ, schätzt Rossi.
In Zürich wurde nun ein Entscheidungsmodell entwickelt, nach dem die optimale Behandlung für Frühchen bestimmt werden soll. Dabei wird in der Regel unter 24 Wochen keine Intensivbehandlung begonnen. Dem Modell zufolge erarbeitet ein Gremium aus Pflegenden, Ärzten und einem Ethiker vor Ort einen Entscheidungsvorschlag für das jeweilige Kind, ob eine Intensivbehandlung sinnvoll ist oder nicht. Dabei wird nicht nur die gegenwärtige Diagnose berücksichtigt, sondern auch die künftigen Ressourcen, die das Kind haben wird. In den weitaus meisten Fällen stimmen die Eltern der Entscheidung der Ärzte zu.
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