Alt sein heißt nicht krank sein |
14.12.1998 00:00 Uhr |
"Wenn ich keinen Zahn mehr habe, brauche ich nicht mehr zum Zahnarzt zu gehen." So denken fälschlicherweise viele, meinte Dr. Ina Nitschke, Zahnärztin an der Charité in Berlin. Viele ältere Menschen merkten gar nicht, daß sie Schwierigkeiten haben, sondern streichen unbewußt manche Lebensmittel aus dem Speiseplan. Halbjährlich müßten Mundschleimhäute, Rachenraum, Zunge und Prothese untersucht werden. Letztere nutzt sich ab und durch die unphysiologische Belastung bildet sich der Kiefer zurück, so daß das Gebiß einmal jährlich unterfüttert werden muß. Wichtig auch: die Prothesen für Ober- und Unterkiefer müssen zusammenpassen.
Oft würden alte mit neuen Teilen kombiniert, sagte Nitschke. Außerdem müßten Gebißträger die für den individuellen Zahnstatus nötigen Hilfsmittel zur Mundhygiene kennenlernen. Die Frage, ob bei einer neuen Prothese eine Leidenszeit von einem halben Jahr einzukalkulieren sei, beantwortete sie mit einem klaren "nein".
Auch die geistige Leistungsfähigkeit verändert sich mit dem Alter, sagte Dr. Ulrich Mayr, Psychologe an der Universität Potsdam. Das gelte aber nicht für alle Hirnfunktionen. Die Lernfähigkeit zum Beispiel verschlechtere sich kaum. Übungen verbessern nicht die Hirnfunktion allgemein, sondern nur die jeweils trainierten Fähigkeiten.
Die Alzheimer Krankheit ist zwar nicht heilbar, aber nicht jede Vergeßlichkeit bedeutet Alzheimer. Behandelbar sind beispielsweise Demenzen, die durch Blutungen im Kopf ausgelöst werden. Auch Bluthochdruck kann unter Umständen eine Demenz fördern.
Manches was wie Demenz aussieht, ist eine Depression. "Es wäre schade, wenn diese Patienten nicht rechtzeitig zum Arzt gingen", sagte Dr. Friedel Reischies, Oberarzt in der Psychiatrie der Freien Universität Berlin.
Doch viele trauten sich nicht, weil Nervenärzten oder Psychiatern das Stigma anhaftet, für Verrückte zuständig zu sein. Umgekehrt sei es aber auch verblüffend, daß sich die Psychotherapie bisher nicht den Alten zugewandt habe, meinte Reischies. Viele Ärzte glaubten, die verbleibende Lebenszeit sei für eine Therapie zu kurz.
Streß fördert Demenz und Depressionen
Einer neuen Theorie zufolge begünstigt chronischer Streß die Enstehung von Demenz und Depressionen, sagte Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Streß an sich ist aber nicht schlecht". Die Menge machts: Akute Streßphasen beleben Körper und Geist. Wird der Streß nicht mehr abgebaut, macht er krank. Die Techniken zum Abbau von Streß könne und sollte man lernen, so Müller-Oerlinghausen.
Auch ausgeprägte soziale Bindungen können ein Puffer gegen zuviel Streß sein, sagte Yvonne Schütze. Ältere lebten nicht einsamer, dieses Vorurteil sei durch die Berliner Altersstudie*, eine Untersuchung an 516 Berliner Bürgern zwischen 60 und 104 Jahren, widerlegt worden.
Viele Zuhörer fragten die Experten auf dem Podium nach Sinn und Unsinn mancher Medikamente. Die Hormonersatz-Therapie bezeichnete Steinhagen-Thiessen als eine der "größten Errungenschaften". Sechs bis sieben Jahre, eventuell auch lebenslang, könne man diese Präparate nehmen. Wer sie absetzen will, sollte die Dosis langsam absenken. In jedem Fall gelte: engmaschige Kontrolle durch den Gynäkologen ist Pflicht.
Gute Bildung, ein Plus
Einen Fahrplan fürs Älterwerden wünschten sich einige Zuschauer. "Vermeiden Sie Extreme", sagte Steinhagen-Thiessen. Und: "Treiben sie dreimal pro Woche mindestens zwanzig Minuten so Sport, daß die Pulsfrequenz etwas ansteigt." "Kümmern Sie sich um den allgemeinen Bildungsstand", könnte man hinzufügen. Denn die Berliner Altersstudie hat auch gezeigt: Gute Gesundheit korreliert weniger mit der Dicke des Portemonnaies, als mit einer guten Bildung und Ausbildung.
PZ-Artikel von Stephanie Czajka, Berlin
*) Die Berliner Altersstudie, herausgegeben von Paul B. Baltes und Karl U. Mayer, Akademie Verlag, 78 Mark ISBN 3-05-002574-3, 1996.
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