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Interdisziplinäre Sprechstunde an der Uniklinik Freiburg

18.11.2002  00:00 Uhr
Marfan-Syndrom

Interdisziplinäre Sprechstunde an der Uniklinik Freiburg

von Ulrike Wagner, Freiburg

Seit etwa einem halben Jahr gibt es am Universitätsklinikum in Freiburg eine interdisziplinäre Marfan-Sprechstunde. Zwölf Abteilungen beteiligen sich an dem Projekt mit dem Ziel, Diagnostik und Therapie für Patienten mit der seltenen Erbkrankheit zu verbessern.

Ursache des Marfan-Syndroms ist ein Gendefekt, der zu Störungen im Bindegewebe führt. Da die Erkrankung viele Organsysteme betreffen kann und relativ selten auftritt, ist sie schwierig zu diagnostizieren und zu behandeln. Die Patienten müssen von mehreren Ärzten betreut werden, die sich mit dem Symptomenkomplex der Erbkrankheit und den Therapiemöglichkeiten auskennen.

Im süddeutschen Raum war die interdisziplinäre Versorgung bislang schwierig, erklärte Dr. Ernst Weigang vom Herz-Kreislauf-Zentrum der Universitätsklinik Freiburg während des zweiten Freiburger Aorten-Symposiums am 8. November. Grund für ihn und seine Kollegen, nach ersten Kontakten mit der Marfan-Hilfe, der Patientenorganisation für Menschen mit Marfan-Syndrom, im Frühjahr eine interdisziplinäre Sprechstunde anzubieten. Denn unter optimaler Betreuung erreichen die Patienten heute ein Lebensalter von fast 70 Jahren. Ohne Behandlung liege die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 32 Jahren, vor allem durch die Veränderungen im Blutgefäßsystem, erklärte Weigang. Außerdem droht ohne adäquate Betreuung früh die Invalidität, zum Beispiel weil die Patienten durch eine Verlagerung der Augenlinse Lese- und Sehfähigkeit verlieren.

Das Interesse an der seltenen Erkrankung wächst, auch vonseiten der Ärzte, freute sich Sonja Hettich, Regionalsprecherin der Deutschen Marfan-Hilfe. „Die meisten Betroffenen haben wahre Odysseen hinter sich – zu Ärzten, die nichts oder kaum etwas vom Marfan-Syndrom gehört haben“, sagte sie. Oft erwarteten die Mediziner das Vollbild der Erbkrankheit: „Wenn die Patienten unter 1,80 Meter groß sind oder keine Linsenluxation auftritt, schließen sie das Marfan-Syndrom aus.“ Mit oft lebensgefährlichen Folgen für die Patienten. Aus diesem Grund will die Marfan-Hilfe ein Netz aus interdisziplinären Sprechstunden aufbauen. Denn für die Patienten bedeutet es oft eine große zusätzliche Belastung, wenn der Herzspezialist, der sich mit der Behandlung des Marfan-Syndroms auskennt, in Stutgart praktiziert, der entsprechende Augenarzt aber in Heidelberg.

Keine einfache Diagnose

Das Marfan-Syndrom ist eine klinisch und genetisch heterogene Erkrankung und eigentlich kein Syndrom, sondern eine Dysplasie der elastischen Fasern im gesamten Körper, erklärte Professor Dr. Gerhard Wolff vom Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Freiburg. Die Erkrankung tritt häufig familiär auf. Allerdings kommt es auch bei einem relativ hohen Anteil von 15 bis 30 Prozent zu Spontanmutationen. Die Erkrankung tritt dann plötzlich in Familien auf, in denen sie zuvor niemals beobachtet wurde. Scheinbar überspringt die Erbkrankheit ganze Generationen, erklärte Wolff. Schaue man jedoch genauer hin, so zeigen sich auch bei den auf den ersten Blick nicht erkrankten Eltern von Marfan-Patienten, deren Großeltern den Gendefekt trugen, einzelne Symptome. Das Marfan-Syndrom ist nicht so selten wie oft vermutet: Etwa ein bis drei von 10.000 Menschen sind betroffen. Experten rechnen mit 8000 Marfan-Patienten in Deutschland, etwa so viele wie Mukoviszidose-Kranke. Wie viele nichts von der Erbkrankheit wissen, ist unbekannt.

Hinweise auf das Marfan-Syndrom lieferten bereits die alten Ägypter. Und sowohl bei dem Geiger Niccolò Paganini, dessen legendär lange Finger Zeitgenossen beschrieben, als auch bei dem amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln besteht der Verdacht auf das Marfan-Syndrom. Der französische Kinderarzt Bernard Marfan, der 1896 skelettale Besonderheiten von Marfan-Patienten beschrieb, gab der Erkrankung den Namen. Dass es sich dabei jedoch um eine Erbkrankheit handelt, wurde erst in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt.

 

Kein einheitliches Bild Die Störung im Bindegewebe kann bei Patienten mit Marfan-Syndrom ganz unterschiedliche Folgen haben. Viele Symptome, die lange Zeit als typisch angesehen wurden, treten zwar bei einigen Patienten auf, bei anderen jedoch nicht. So fallen viele Betroffene durch einen grazilen Hochwuchs auf, andere sind jedoch normalwüchsig oder sogar klein. Ähnlich verhält es sich mit der Arachnodaktylie, der Spinnenfingrigkeit, die dazu führt, dass zum Beispiel beim Bilden einer Faust der Daumen über die Handfläche hinaus ragt (Daumenzeichen). Auch Trichter- oder Kielbrust sowie Skoliosen treten nicht immer auf. Bei einigen Patienten lassen sich die Gelenke überstrecken, bei anderen nicht.

Die Gefahr für Veränderungen im Blutgefäßsystem scheint jedoch fast allen Patienten zu drohen. Deshalb sind Diagnostik, regelmäßige Kontrollen und die Therapie so wichtig. Die Diagnostik erfolgt immer zuerst anhand der klinischen Symptome. Seit 1996 erleichtert dies die Genter Nosologie, die Haupt- und Nebenkriterien in den verschiedenen Organsystemen beschreibt. Allerdings müssen die Patienten für eine eindeutige Diagnose von verschiedenen Fachärzten untersucht werden. Eine interdisziplinäre Sprechstunde, bei der die einzelnen Abteilungen in intensivem Kontakt miteinander stehen, ermöglicht dies innerhalb relativ kurzer Zeit, ein Vorteil für die Patienten. Bei Kindern lassen sich deren Kriterien jedoch oft nicht anwenden, schränkte Dr. Oswin Grollmus von der Pädiatrischen Kardiologie ein. Symptome, die bei Kindern auftreten, kommen in der Genter Nosologie nicht vor, oder sie verändern sich im Laufe der Entwicklung. Auch bei den kleinen Patienten mit Marfan-Syndrom drohen jedoch bereits lebensgefährliche Veränderungen in den Gefäßen, weshalb sie ebenfalls oft β-Blocker erhalten.

Eine genetische Diagnostik geschieht nur im Interesse der Angehörigen. Ist die Mutation innerhalb einer Familie erst einmal identifiziert, können Humangenetiker das Erbgut der Familienmitglieder relativ leicht auf diese spezielle Mutation hin untersuchen und damit Patienten mit erhöhtem Risiko für Aneurysmen und Dissektionen rechtzeitig behandeln. Nicht immer lässt sich jedoch die Mutation bestimmen, da das Fibrillin-Gen sehr groß ist, und inzwischen mehr als 360 Mutationen bekannt sind.

 

Ursache des Marfan-Syndroms ist eine Veränderung des Fibrillin-Gens, das erst 1991 entdeckt wurde. Es codiert für ein sehr großes Glykoprotein, das als Hauptbestandteil der Mikrofibrillen für die Funktion der elastischen Fasern nötig ist. Das Protein ist aus sich wiederholenden Aminosäuresequenzen aufgebaut. Dadurch können sich die einzelnen Moleküle parallel aneinander lagern und Multimere bilden. Veränderungen in der Aminosäuresequenz verhindern, dass sich die einzelnen Moleküle parallel zueinander ausrichten. Dadurch kommt es zu der Bindegewebsschwäche in einem oder mehreren Organen.

Lebensbedrohliche Gefäßveränderungen

Am gefährlichsten sind dabei die Auswirkungen auf das Blutgefäßsystem. Dort ist vor allem die mittlere Halteschicht (Media) betroffen, in die sich quellfähige Mucopolysaccharide einlagern, erklärte Dr. Heike Göbel vom Pathologischen Institut. Dadurch verlieren die Gefäße an Stabilität und reißen leicht ein. Besonders in der Aorta entstehen Aussackungen, so genannte Aneurysmen, oder Längsrisse, die man auch als Dissektionen bezeichnet. Innerhalb eines Aneurysmas fließt das Blut zu langsam, und es kann zur Bildung von Thromben kommen, erklärte Göbel. Sowohl Aneurysma als auch Dissektionen können dazu führen, dass die Aorta platzt.

Bei der Dissektion reißt die innere Schicht der dreischichtigen Aortenwand ein, das Blut wühlt sich in die Media vor und schafft einen falschen Kanal zwischen innerer und äußerer Wandschicht. Aortendissektionen sind oft mit heftigen Schmerzen verbunden und führen innerhalb von zwei Wochen bei 80 Prozent aller unbehandelten Patienten zum Tod.

Mediziner unterscheiden zwischen einer Typ-A- und Typ-B-Dissektion. Bei der Typ-A-Dissektion ist der aufsteigende Teil der Aorta oberhalb der den linken Vorhof verschließenden Aortenklappe betroffen (Aorta ascendens). Bei der Typ-B-Dissektion beschränkt sich der Riss auf die absteigende Hauptschlagader, die Aorta descendens.

Notoperation

Bei einer Typ-A-Dissektion droht ein Reißen der Aorta. Dadurch gelangt Blut in den Herzbeutel, eine tödliche Komplikation. Daher indiziert eine akute Typ-A-Dissektion die Notfalloperation, erklärte Weigang. Die aufsteigende Aorta wird dabei durch eine Prothese ersetzt. Da solche Notfalloperationen mit einem erheblichen Risiko für den Patienten einhergehen, sollte dessen Gefäßsystem regelmäßig überwacht werden. Erweitert sich der Durchmesser der Aorta ascendens über ein bestimmtes Maß hinaus, sollte das Gefäß durch eine Prothese ersetzt werden, weil sich dadurch das Risiko für eine Ruptur des Aneurysmas oder eine Dissektion erhöht.

Eine Typ-B-Dissektion wird mit blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt, solange sie keine akuten Komplikationen wie Durchblutungsstörungen des Darmes, der Nieren oder der Beine verursacht. Allerdings können sich auch durch Typ-B-Dissektionen Aortenaneurysmen bilden, die reißen können. Indikationen für einen chirurgischen Eingriff sind für die Freiburger Herz- und Gefäßchirurgen daher ein symptomatisches Aortenaneurysma oder ein asymptomatisches Aortenaneurysma wenn der Durchmesser der Aorta vier Zentimeter oder mehr erreicht.

Wichtig ist für die Patienten, den Zustand ihrer Gefäße regelmäßig kontrollieren zu lassen, um sich rechtzeitig einer Operation zu unterziehen, bevor es zu einem gefährlichen Notfall kommt. Dies ist per Ultraschall und Computer- beziehungsweise Kernspintomographie möglich. Um die Aortenwurzelerweiterung zu verlangsamen, erhalten die Patienten zudem β-Blocker.

Von der Bindegewebsschwäche sind oft auch Aorten- und/oder Mitralklappen betroffen, die chirurgisch rekonstruiert oder ersetzt werden können. Wegen der Gefahr einer Endokarditis sollten Patienten mit beschädigten Herzklappen bei allen chirurgischen Eingriffen, Zahnbehandlungen und bei bakteriellen Infekten Antibiotika einnehmen.

Wegen der lebensgefährlichen Komplikationen im Herz- und Gefäßsystem müssen die Patienten ihre Lebensweise an die Erkrankung anpassen. Als Sportarten eignen sich Schwimmen, Radfahren und Langlauf, wenn sie nicht als Leistungssport betrieben werden. Kontaktsportarten sollten Marfan-Patienten genauso meiden wie schwere Lasten zu tragen.

Komplikationen am Auge

Besonders häufig tritt bei Patienten mit Marfan-Syndrom eine Verlagerung der Augenlinse auf (Linsenluxation). Bei etwa jedem zweiten Patienten äußert daher der Augenarzt den ersten Verdacht auf die Erkrankung, erklärte Professor Dr. Hans Mittelviefhaus von der Universitäts-Augenklinik. Durch das Verrutschen der Linse entstehen Astigmatismus und Kurzsichtigkeit, die sich mit einer Brille oder Kontaktlinsen nicht korrigieren lassen. Bei Kindern kann dies fatale Folgen haben. Sie entwickeln schwere Sehstörungen durch den Untergang von Nervenverschaltungen im Gehirn. Die Folge ist eine als Amblyopie bezeichnete Schwachsichtigkeit, die sich später nicht mehr korrigieren lässt.

Aber auch wenn sich die Linse erst im Erwachsenenalter verlagert, machen die Patienten oft einen langen Leidensweg durch, der schließlich im Verlust der Verkehrstauglichkeit und der Lesefähigkeit gipfelt, erklärte Mittelviefhaus. Schreitet die Linsenluxation so weit fort, dass die Patienten schließlich an der Linse vorbeischauen können, lässt sich die Sehschwäche mit einer Brille wieder korrigieren. Allerdings kann die Linse bei vollständigem Ablösen in den Glaskörper gelangen und die Netzhaut schädigen, oder sie kann atrophieren. Schließlich kann es zu schweren Sehstörungen bis hin zur völligen Erblindung führen.

Abhilfe verspricht die Kataraktoperation, bei der inzwischen auch bei Marfan-Patienten eine Kunstlinse eingesetzt wird. Patienten sind vor solchen Eingriffen oft verunsichert. Mittelviefhaus: „Unter heutigen Gesichtspunkten zu Unrecht.“ Bei Patienten, denen eine Netzhautablösung droht, wird inzwischen prophylaktisch während desselben Eingriffs auch die Netzhaut per Laser fixiert. Da bei Marfan-Patienten auch der Kapselsack mit der Linse entfernt werden muss, wird die Kunstlinse anhand der so genannten transskleralen Hinterkammerlinsenfixation angebracht. In der Freiburger Augenklinik werden seit etwa zehn Jahren Kinder ab dem zweiten Lebensjahr operiert. Davor erhalten die Kinder Kontaktlinsen.

 

Selbsthilfegruppe Die Marfan-Hilfe (Deutschland) e. V. bietet ausführliche weitere Informationen zum Marfan-Syndrom und anderen fibrillären Erkrankungen. Sie ist unter www.marfanhilfe.de und telefonisch unter (07 00) 22 33 40 00 erreichbar. Über die Marfan-Hilfe (Deutschland) e. V., Auestraße 15, 23701 Eutin-Fissau, E-Mail: kontakt@marfan.de, können Apotheken, die auf die Erkrankung aufmerksam machen wollen, auch das Plakat der Marfan-Hilfe anfordern.

 

 

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