Magen und Darm machen Stimmung |
05.11.2001 00:00 Uhr |
Der Magen als Seismograph der Seele. Der Bauch denkt mit. Und: Die Wut im Bauch setzt ungeahnte Kräfte frei. Psycho-Soma-Phrasen, esoterisches Gefasel? Mitnichten. Der gesamte Verdauungskanal von der Speiseröhre bis zum Enddarm ist in ein Netz von mehr als 100 Millionen Nervenzellen eingebettet - mehr als im gesamten Rückenmark -, und dieses Nervennetz präsentiert sich als ein Pendant zur Zentrale im Schädel. Bei rund 10 Millionen Deutschen scheinen Magen und Darm von Zeit zu Zeit die Nerven zu verlieren. Die Betroffenen werden von Symptomen belästigt, die man als Reizmagen und/oder -darm zusammenfasst.
Häufige Durchfälle, Krämpfe, starkes Unwohlsein und Schmerzen haben die Einen, Blähungen, Völlegefühl und Verstopfung die Anderen. Oder beides abwechselnd. Art und Weise der Beschwerden in der Leibesmitte und der veränderten Stuhlgewohnheiten sind von Patient zu Patient verschieden; allenfalls lassen sich Betroffene mit Reizdarmsyndrom in Subgruppen einteilen. Oft bleiben die Beschwerden nicht auf den Darm begrenzt, sondern auch der obere Teil des Gastrointestinaltraktes wird in Mitleidenschaft gezogen. Oberbauchbeschwerden, Aufstoßen und Übelkeit zeugen davon, dass das irritable Darmsyndrom mit einem Reizmagen einhergeht. Nur etwa jeder fünfte Betroffene konsultiert den Arzt. Das liegt wohl daran, dass sich die meisten nur leicht eingeschränkt oder krank fühlen. Rund 25 Prozent verlieren innerhalb von fünf Jahren ihre Beschwerden. Nur ein Prozent der Patienten wird von den Symptomen derart stark belästigt, dass sie einer dauernden Behandlung durch Spezialisten bedürfen.
Organische Veränderungen oder biochemische Läsionen des Magens und Darms wie Entzündungen oder Neoplasien sind nicht auszumachen. Und da sich häufig Kopf-, Glieder- oder Rückenschmerzen zum Magen-Darm-Grimmen gesellen und Herzrasen, Schweißausbrüche oder Hitzewallungen den Alltag belasten, werden Reizmagen- und Reizdarmpatienten oft als hysterische Simulanten abgetan. Alles psychisch? Ja und Nein. Seit sich Wissenschaftler intensiv mit dem Beschwerdebild des Reizdarmsyndroms befassen, ist klar, dass das, was Mediziner mit dem Begriff enterisches Nervensystem umreißen und Laien prosaisch als Bauchhirn bezeichnen, eine wesentliche Rolle spielt. Mitauslöser dürften in einigen Fällen Bakterien sein. Jeder fünfte bis sechste Patient litt ein halbes Jahr zuvor an einer bakteriellen Darminfektion, zum Beispiel einer Salmonellose, haben Untersuchungen gezeigt. Jedoch: Die Eradikation des Magenkeims Helicobacter pylori, auf dessen Konto die meisten Magenschleimhautentzündungen sowie Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre gehen, bringt zumeist keine Besserung.
Der Bauch als Sitz der Gefühle
Die Vorstellung vom Magen-Darm-Trakt als Röhre mit simplen Reflexen ist passé. Die Erkenntnis der Neurogastroenterologen: Die gesamte Region von der Speiseröhre bis zum Enddarm ist umsponnen von einem Strumpf aus mehr als 100 Millionen Nervenzellen und bildet damit ein komplexes Nervensystem, das dem im Kopf vergleichbar ist. Zelltypen, Botenstoffe und Rezeptoren sind annähernd identisch. Damit kann der Verdauungstrakt lernen, programmieren, sich erinnern und uns "aus dem Bauch heraus" entscheiden lassen. Der Gastrointestinaltrakt ist nicht nur der Ort mit der größten Neuronenansammlung außerhalb des Zentralnervensystems (ZNS), sondern beherbergt auch die größte Anzahl von Immunzellen im Körper. Mehr als 70 Prozent der Abwehrzellen sitzen hier.
Im enterischen Nervensystem spielen sich die gleichen molekularen Vorgänge ab, die man im Kopfhirn für Denken, Fühlen und Erinnern verantwortlich macht. Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin oder endogene Opioide werden nicht nur im Schädel, sondern auch im Nervensystem des Gastrointestinaltrakts produziert - eine Erkenntnis, die für Patienten mit Reizdarmsyndrom neue Therapieoptionen eröffnet. Kopfhirn und enterisches Nervensystem kommunizieren laufend miteinander. Bildlich gesprochen schwebt das Gehirn wie ein Monitor über dem Nervensystem im Verdauungstrakt und registriert, was dieses meldet.
Werden Menschen gefragt, wo Wohl- und Unbehagen, Emotion und Intuition, Freude und Leid am besten zu orten sind, zeigen sie, gleich welcher Herkunft oder Hautfarbe, auf die Leibesmitte. "Mittlerweile können wir auf molekularer Ebene nachweisen, dass sich einerseits unser gastrointestinales Befinden auf die Stimmungslage auswirkt, dass sich aber auch umgekehrt zentralnervöse Prozesse wie Angst oder Niedergeschlagenheit mit Symptomen im Magen-Darm-Trakt einhergehen. Der Volksmund hat das in Sprichwörtern ausgedrückt wie Liebe geht durch den Magen oder vor Angst in die Hosen machen", erklärt Dr. Winfried Häuser, Leitender Oberarzt des Funktionsbereiches Psychosomatik der Medizinischen Klinik des Klinikums Saarbrücken, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung.
Der Volksmund liegt wahrscheinlich gar nicht falsch. Wissenschaftlich gesichert ist, dass das enterische Nervensystem nahezu autark funktioniert: Die motorischen Vorgänge im Magen-Darm-Kanal sind auch ohne parasympathische und sympathische Innervation, also auch bei Durchtrennung der entsprechenden Nervenfasern gewährleistet. Das Bauchhirn kann Informationen seiner Sensoren selbst bearbeiten und in Eigenregie kontrollieren. Es bildet durch die synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenfortsätzen von sensorischen Neuronen, Inter- und Motoneuronen spezielle Schaltkreise, vergleichbar mit Schaltkreisen eines Computers. Diese Schaltkreise bilden die Grundlage für die intrinsischen Reflexe und die Motoprogramme, die gastrointestinale Funktionen wie die wellenförmige Bewegung des peristaltischen Reflexes unabhängig vom ZNS koordinieren. Wegen seiner weitgehenden Unabhängigkeit und seinem mit dem ZNS vergleichbaren Aufbau nennt man das enterische Nervensystem auch das "kleine Gehirn".
Häuser: "Diese Autonomie ist natürlich relativ. Das enterische Nervensystem wird über das ZNS beeinflusst. Sympathikus und Parasympathikus wirken modulierend." Beide fungieren als eine Art Standleitung zwischen den beiden großen Nervenpoolen. "Wer regiert wen? Der Bauch das Gehirn oder umgekehrt? Die Diskussion darüber ist fast schon als historisch zu bezeichnen. Interessanterweise laufen 80 Prozent der Nervenstränge, die zwischen beiden geschaltet sind, vom Bauch zum Hirn, und nur der Rest verläuft in umgekehrter Richtung vom ZNS ins enterische Nervensystem", informiert der Arzt. Das enterische Nervensystem sendet also viel mehr Signale zur Zentrale im Schädel als es von dort empfängt.
Meister der feinen Manipulation
Wie sein großer Bruder ist das kleine Gehirn ein Meister der feinen Manipulation. Denn dass der Transport des Speisebreis durch den Magen-Darm-Kanal weitgehend reibungslos vonstatten geht, ist dem feinen Gespür des kleines Gehirns in der Magengrube zu verdanken. Es sorgt mit einem fein austarierten Gleichgewicht an aktivierend und hemmend wirkenden Botenstoffen, Hormonen und Sekreten für die Lösung, wenn spezielle Nahrungsbestandteile bei der Verdauung Probleme bereiten. Überwiegt das hemmende System, entspannt der Darm so sehr, dass er gelähmt wird. Rezeptoren registrieren keine Wandspannung mehr, Verstopfung ist die Folge. Gewinnt dagegen das erregende System die Oberhand, wird der Speisebrei zu schnell transportiert und endet als Durchfall. Grundsätzlich fördert der Parasympathikus Motilität und Sekretion, der Sympathikus wirkt eher hemmend, vermindert die Durchblutung, steigert jedoch den Tonus der gastrointestinalen Sphinkteren.
Der Bauch kann Stimmung machen. Bei Trauer wird weniger Magensaft, bei Angst mehr Speichel gebildet. Angst treibt den Stuhlgang an und lässt ihn dünner als gewohnt ausfallen, sagt Häuser. In Wut steigert sich die Grundspannung der Muskeln des Gastrointestinaltraktes. Möglicherweise entspricht die Darmregion auch dem, was Freud als Unterbewusstsein bezeichnete. Diese Hypothese stellt zumindest der New Yorker Neurogastroenterologe Michael Gershon auf, Pionier auf dem Gebiet des enterischen Nervensystems. Depressionen, Neurosen oder Angsterkrankungen könnten ihren Ursprung zumindest teilweise in einer gestörten Kommunikation von kleinem und großem Gehirn haben. Gleiches gilt auch umgekehrt: Beschwerden des Reizdarmsyndroms könnten eine Reaktion des enterischen Nervensystems auf emotionalen Stress sein. Beweisen lässt sich das noch nicht. Es gibt aber immer mehr Belege, die solche Theorien untermauern. Häuser: "Es gibt ganz unterschiedliche Forschungsansätze und Theorien. Die Neuesten besagen, dass es sich um eine Fehlsteuerung auf Neurotransmitter-Ebene handelt, und zwar sowohl im enterischen als auch im zentralen Nervensystem."
Serotonin, der Schlüssel-Neurotransmitter Serotonin scheint der Hauptinformant im enterischen Nervensystem zu sein und ist damit Objekt der Begierde von Wissenschaftlern, die das Reizdarmsyndrom erkunden. 95 Prozent der Substanz werden im Darm synthetisiert und gelagert, nur der kleine Rest im Gehirn. Der größte Teil des Neurotransmitters wird in den enterochromaffinen Zellen der Darmmukosa gespeichert. Chemische Stimuli oder Dehnungsreize geben das Signal zum Serotonin-Ausstoß. Ein Teil der Serotonin empfindlichen Neurone liegt innerhalb der Darmwand und vermittelt intrinsische, also auf den Darm beschränkte, unbewusste Reflexe, die die gastrointestinale Motilität und Sekretion steuern. Andere, extrinsische Neurone bilden Projektionen zum ZNS, wo sie die bewusste Wahrnehmung von Dehnungsreizen und viszeralem Schmerz vermitteln. Aus therapeutischem Blickwinkel scheinen vor allem die 5-HT3- und 5-HT4-Rezeptoren von Interesse zu sein.
Derzeit gehen Wissenschaftler davon aus, dass hauptsächlich eine erhöhte Darmmotilität und eine gesteigerte Wahrnehmung von Schmerzreizen im Darm für die Beschwerden verantwortlich zeichnen. Die viszerale Hypersensitivität zeigt sich bei Dehnungsstudien des Dickdarms; danach haben Reizdarmpatienten im Vergleich zu Gesunden eine deutlich erniedrigte Reizschwelle, was abdominelle Dehnungsreize betrifft. Das limbische System wurde viel früher in Aufregung versetzt, konnten Wissenschaftler am Tomographen verfolgen. Bei der Dehnung eines Ballons im Kolon nahmen Reizdarmpatienten Volumina bereits als unangenehm wahr, die bei Gesunden noch keinerlei Reize auslösten. Bei Gesunden müssen Reize aus dem Darmtrakt also eine bestimmte Schwelle erreichen, damit sie bewusst werden: Ignoranz als Schutz vor Beschwerden.
Wie kann diese Schmerzbarriere fallen? Ungebremster Stress, Sorgen oder Prüfungsängste scheinen das Prozedere in Gang zu setzen. Wenn das Kopfhirn bewusst oder unbewusst die Last von Anspannung und Furcht registriert, dann wird das Bauchhirn umgehend informiert. Dieses setzt Immun- und Nervenzellen in Alarmbereitschaft. Die Aufruhr in der Leibesmitte wird wiederum dem Gehirn übermittelt, egal ob sich der Darm zusammenzieht, Serotonin ausspuckt oder Immunzellen zur Arbeit benötigt. Es kommt zur andauernden Rückkopplung zwischen Kopf und Darm. Stress hin, Furcht her: Es gilt, bewusst Erholungspausen in den Alltag einzubauen.
Wenn das nicht gelingt, kann sich das vegetative Begleitphänomen von der Emotion loslösen und verselbstständigen. Dann sind die Voraussetzungen für dauerhafte Magen-Darm-Probleme geschaffen. Der Betroffene kreist nur noch um seinen eigenen Bauchnabel, kehrt seine Aufmerksamkeit nach innen. Die Wahrnehmbarkeit des Darmtraktes wird überwertig, sie wird übertrainiert. Das Symptom wird chronisch. Oft verstärkt die Umwelt den Teufelskreis der Krankheitsdynamik. Die Angehörigen treiben den Betroffenen nicht selten aus Sorge vor einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung von einem Arzt zum anderen. Die Symptome nehmen im Tagesrhythmus eine exponierte Stelle ein.
Emotionale Stolpersteine aus dem Weg räumen
Hier setzt die Psychotherapie an. Untersuchungen haben ergeben, dass die Kombination der medikamentösen Behandlung mit einer Psychotherapie der alleinigen Pharmakotherapie überlegen ist. Häuser: "Die Psychotherapie führt nicht dazu, dass die Beschwerden vollständig verschwinden. Den Betroffenen soll dadurch vielmehr klar werden, wie man trotz der Beschwerden mit Reizdarmsyndrom gut leben kann. Nur ein Teil der Patienten geht überhaupt zum Arzt. Das sind dann die, die mit ihren Beschwerden Ängste verbinden beziehungsweise die sich wegen ihrer Beschwerden völlig unangemessen einschränken. Durch die Psychotherapie soll der Patient lernen, seine Symptome weniger stark zu bewerten und eine bessere Lebensqualität trotz Symptomen zu erreichen." Sowohl die amerikanischen, britischen als auch die deutschen gastroenterologischen Fachgesellschaften empfehlen in ihren Richtlinien "eine psychotherapeutische Behandlung dann, wenn die Beschwerden nicht ausreichend auf die internistische Standardbehandlung ansprechen, wenn die Beschwerden deutlich von psychischen Faktoren abhängen, zum Beispiel bei Stress, und wenn psychische Begleitstörungen bestehen".
"Genauso wie es unterschiedliche Medikamente gibt, existieren auch unterschiedliche psychotherapeutische Behandlungsansätze", sagt Häuser. Gute Erfahrungen habe man mit drei Verfahren gemacht: "Bei der kognitiven Verhaltenstherapie geht es darum, dass die Patienten Verständnis für ihre Symptome entwickeln, dass sie lernen, anders mit den Beschwerden und mit Stress umzugehen. Sie lernen Entspannungsmethoden. Auch die Hypnosebehandlung ist hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gut untersucht. Sie arbeitet mit Suggestion und inneren Bildern. Die dritte Untersuchungsmethode, die sich bewährt hat, ist die psychodynamische Psychotherapie, die für Patienten geeignet ist, bei denen ständige innere Konflikte die Magen-Darm-Symptomatik unterhalten."
Frauen macht zwei- bis dreimal häufiger ein Reizmagen oder Reizdarm Beschwerden. Liegt das an den Geschlechtshormonen oder an einem anderen Umgang mit Körpersymptomen und Krankheit? "Wahrscheinlich beides. Die Sexualhormone spielen vermutlich eine Rolle. Das kann man daran sehen, dass Frauen während der Menstruation stärkere und belastendere Reizdarmbeschwerden haben. Auf der anderen Seite ist es in der Tat so, dass es überwiegend Frauen sind, die wegen ihren Beschwerden zum Arzt gehen, ungefähr im Verhältnis 2 - 3 : 1 zu Männern. Die Bereitschaft, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist bei Frauen stärker ausgeprägt als bei Männern", weiß Häuser.
Diät gegen das Darm-Dilemma gibt es nicht
Viele Betroffene sind der Meinung, dass die Art der Ernährung von großer Bedeutung dafür ist, ob man an einem Reizdarmsyndrom erkrankt und wie gravierend die Unannehmlichkeiten sind. Tatsache ist jedoch, dass man sich dieses Syndrom nicht anessen kann. Und die Möglichkeiten, die Beschwerden mit diätetischen Maßnahmen in den Griff zu bekommen, sind begrenzt. Dies gilt es, dem Patienten in der Offizin klar zu machen. Mehr als Symptome mildern kann man durch spezielle Lebensmittel nicht. Jeder Patient muss für sich selbst herausfinden, was dem Darm gut tut oder ihn über Gebühr belastet. Kommt der eine durch Kohlgemüse endlich zu Potte, wird bei dem anderen dadurch die Luft noch vermehrt, die nach innen drückt und nach außen drängt.
Nahrungsmittelunverträglichkeiten stecken nur selten hinter einem Reizdarmsyndrom. Von einer Nahrungsmittelallergie ist lediglich dann auszugehen, wenn neben gastrointestinalen Beschwerden gleichzeitig welche auf der Haut und/oder den Atemwegen auftreten. Auch eine Laktoseintoleranz tritt bei den Patienten nicht häufiger auf als bei Gesunden. Bei der Differenzialdiagnose muss der Arzt darauf achten, dass eine Laktosemalabsorption nicht als Reizdarm verkannt wird. Das ist nicht ohne Weiteres möglich, da eine geringgradige Malabsorption erst bei einer erniedrigten viszeralen Empfindlichkeit, wie sie für das Reizdarmsyndrom typisch ist, symptomatisch wird.
Der Spezialist aus dem Saarland meint dazu: "Meines Erachtens werden die Betroffenen hinsichtlich der Lactoseintoleranz oft unnötig beunruhigt, wenn der Lactosetoleranztest pathologische Werte ergibt. Die Dosen an Milchzucker, die bei diesem Test gegeben werden, entsprechen einem Vielfachen von dem, was normalerweise konsumiert wird. Neuere Studien zeigen, dass eine Lactose-arme oder -freie Ernährung die Beschwerden des Reizdarms nur enttäuschend wenig reduziert. Bei nachgewiesener Lactoseintoleranz ist es zwar sinnvoll, einen Behandlungsversuch mit Lactose-armer Kost zu machen, aber eine Lactose-freie Kost ist nicht nötig. Da muss man sich nicht unnötig einschränken. Ein Joghurt oder geringe Mengen Hartkäse werden meistens vertragen. Wenn sich unter einer Lactose-armen Kost sämtliche Symptome zurückbilden, liegt kein Reizdarmsyndrom vor."
Patienten, die verstärkt unter Verstopfung leiden, können versuchen, den Engpass mit Ballaststoffen zu beheben. Ein Plus an Ballaststoffen reduziert mitunter auch die Häufigkeit von Darmkrämpfen. Allerdings ist es ratsam, Gel bildende Ballaststoffe wie Pektine, Guar oder Plantago ovata-Samenschalen (zum Beispiel Metamucil®) einzunehmen, da sie weniger Blähungen verursachen als Cellulose-haltige Faserstoffe wie Weizenkleie oder Leinsamen. Abführmittel sind nur indiziert, wenn Ballaststoffe nicht den erwünschten Erfolg bringen. Die Richtlinien des Gastroenterologen-Expertengremiums sehen Lactulose (zum Beispiel Bifiteral®), Macrogol (zum Beispiel Movicol®) oder Bisacodyl (zum Beispiel Dulcolax®) vor.
Therapie von Antidiarrhoika bis Tranquillantien
So unterschiedlich die Beschwerden, so reich ist das therapeutische Arsenal an Substanzen. Die Arzneistoffe sollten erstens symptomorientiert nach den vier Hauptbeschwerden Schmerzen, Blähungen/Völlegefühl, Obstipation und Diarrhoe und zweitens zeitlich begrenzt angewendet werden. Wann welcher Arzneistoff zum Einsatz kommt und wie seine Wirksamkeit zu bewerten ist, zeigt die Tabelle (modifiziert nach (7)). Sie spiegelt den Konsensus der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten von 1999 wider. Mittlerweile konnten einige Substanzen ihren Status mit validen Studien aufbessern.
Substanzklasse/Arzneistoffe (Beispiele)Score (Durchschnittswert)Vorwiegende IndikationAnticholinergika
Die Score-Werte wurden als Mittelwerte der Angaben von 30 klinisch und praktisch tätigen Gastroenterologen der Konsensuskonferenz ermittelt. Der Bewertungsmaßstab von 5 bis 1 richtet sich nach folgenden Kriterien: 5: gesichert, Wirksamkeit durch Studien übereinstimmend belegt; 4: wahrscheinlich, mehrere Studien legen eine Wirksamkeit nach und weisen in die gleiche Richtung; 3: möglich, einzelne oder widersprüchliche Studienergebnisse zur Wirksamkeit; 2: unsicher, Substanz nicht ausreichend untersucht, Wirksamkeit auf Grund publizierter und eigener Erfahrungen sowie auf Grund des Wirkprinzips möglich; 1: unwahrscheinlich, Studien sprechen gegen eine Wirksamkeit
So zum Beispiel einige Phytopharmaka. Randomisierte placebokontrollierte Doppelblindstudien bescheinigen beispielsweise einer fixen Kombination mit Iberis amara als Hauptbestandteil (Iberogast®) eine Wirksamkeit bei Meteorismus und Schmerzen. Auch die fixe Kombination aus Pfefferminz- und Kümmelöl (Enteroplant®) kann mit Studien aufwarten, nach denen der Einsatz bei funktioneller Dyspepsie gerechtfertigt erscheint. Beide ätherischen Öle wirken spasmolytisch. Während das Menthol als Hauptinhaltsstoff des Pfefferminzöls diese Wirkung über einen calciumantagonistischen Effekt vermittelt, scheint Kümmelöl die Motorik der Magen-Darm-Muskulatur modulieren und wieder neu koordinieren zu können. Für beide Phytopharmaka existieren darüber hinaus Doppelblindstudien, die die Gleichwertigkeit zu Cisaprid, dem einstigen Goldstandard unter den Prokinetika, nachweisen. Auch Simeticon (zum Beispiel Lefax®) kann bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie die Beschwerden ebenso effektiv lindern wie Cisaprid, hat eine randomisierte Doppelblindstudie mit 177 Teilnehmern ergeben.
Zwar für Beschwerden des Reizmagens und -darms weniger gut untersucht, aber dennoch einen Versuch wert ist die Gabe von Curcuma- (zum Beispiel Curcu-Truw®) oder Artischocken-Extrakt (zum Beispiel Hepar® SL). Deren choleretische Wirkung sorgt für so manchen Kehraus von fettigen Speisen. Fettbestandteile der Nahrung werden in Galletröpfchen eingelullt und somit besser verdaulich. Das hilft gegen Völlegefühl.
Einer von zwei bis fünf Patienten spricht einer Metaanalyse zufolge auf die Behandlung mit Prokinetika an. Für Cisaprid ruht die Zulassung seit Sommer 2000, weil vereinzelt lebensbedrohliche und gar tödliche Herzrhythmusstörungen aufgetreten sind. Es darf nur noch bei Sonderindikationen wie zur Therapie von Patienten mit diabetischer Gastroparese eingesetzt und dafür über die Schweiz bezogen werden. An die Stelle von Cisaprid sind Metoclopramid (zum Beispiel Paspertin®), Bromoprid (Cascapride®) und Domperidon (Motilium®) getreten. Domperidon ist vorzuziehen, da es im Gegensatz zu Metoclopramid und Bromoprid die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringt und somit weniger zentralnervöse Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Schwindel hat. Cisaprid hinterlässt dennoch eine große Lücke, da es nicht nur die Magenentleerung, sondern auch die Kolontransitzeit beschleunigt. Metoclopramid, Bromoprid und Domperidon haben indessen keine Wirkung auf die Kolonmuskulatur.
Neue Medikamente, neue Hoffnungen
Zwei Arzneistoffe, von denen man sich erhoffte, dass sie zumindest ansatzweise die Erkenntnisse der intensiven Verknüpfung von enterischem und zentralem Nervensystem umsetzen, sind gestrauchelt: Alosetron und Tegaserod. Beide, die gezielt Serotonin-Rezeptoren beeinflussen, sollten Patienten mit Reizdarmsyndrom Erleichterung bringen.
Alosetron (Lotronex®), ein 5-HT3-Antagonist, wurde Anfang des Jahres 2000 in den USA zugelassen. Die europäische Zulassung stand kurz bevor. Indikation: Behandlung von Frauen mit Reizdarm, bei denen die Symptome Diarrhoe, Schmerzen und abdominelle Krämpfe vorherrschen. Durch die kompetitive Hemmung der 5-HT3-Rezeptoren wird zum einen die Schmerzübertragung, zum anderen die Darmmotilität und die intestinale Sekretion heruntergefahren. Warum Männer auf diesen Wirkstoff nicht ansprechen, ist unklar. In der Zwischenzeit wurden jedoch seltene, aber schwer wiegende Darmentzündungen auf Grund von Darmdurchblutungsstörungen bekannt. Alosetron durfte daraufhin in den USA nur noch nach ausführlicher Nutzen-Risiko-Abschätzung verschrieben werden. So war es kontraindiziert für Patienten, die in der Vorgeschichte Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder Operationen wegen Darmverschlüssen hatten. Im Dezember wurde Lotronex™ auf Empfehlung der FDA endgültig vom US-Markt genommen. Bis dahin war das Medikament rund 500 000-mal verordnet worden; es gab 70 Berichte von schweren Nebenwirkungen und drei Todesfälle.
Tegaserod (Zelmac®) ist der zweite Kandidat, der über Serotonin-Rezeptoren die viszerale Hypersensitivität beeinflussen kann. Der 5-HT4-Agonist kommt für Reizdarmpatienten in Frage, die primär an Obstipation und abdominellen Schmerzen leiden. Bindet Tegaserod an diesen Serotonin-Rezeptorsubtyp, werden Darmperistaltik sowie Wasser- und Elektrolytfreisetzung stimuliert - Effekte, die bei Obstipation erwünscht sind. Jedoch: Kurz vor der Markteinführung, die in den USA für Mitte dieses Jahres und in Europa Ende 2001/Anfang 2002 vorgesehen war, meldete die FDA Bedenken an. Sie lehnte im Juni 2001 die Zulassung von Zelmac® ab und forderte weitere Daten, die das Sicherheitsprofil und die Nebenwirkungen auf die Gallenblase genauer unter die Lupe nehmen. Nach Auskunft von Novartis ist man bemüht, diese Studien vorlegen zu können. Die Einführung des Präparates sei nach wie vor das Ziel.
Haben Serotonin-sensible Arzneistoffe noch eine Chance? Häuser: "Es liegen wahrscheinlich Störungen mehrerer Neurotransmittersysteme vor. Deshalb würde ich im Augenblick die Hoffnung, die die Pharmaindustrie auch bei Patienten streut, dass ein selektiv im Darm wirkendes Medikament alle Beschwerden beseitigt, eher skeptisch beurteilen. Auch die Gastroenterologen selbst äußern sich nach den Flops mit Alosetron und Tegaserod etwas zurückhaltender. Das heißt nicht, dass ich es nicht für sinnvoll erachten würde, auf diesem Gebiet weiterzuforschen. Nur sollte man den Patienten nicht voreilig Hoffnungen machen, dass ein Arzneistoff die Beschwerden vollständig beseitigt."
Bei der Suche nach neuen Wirkstoffen ist das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Nach wie vor stehen Serotonin-Agonisten und -Antagonisten im Mittelpunkt des Forscherinteresses. Am weitesten sind Cilansetron, ein 5-HT3-Antagonist, und Prucaloprid, ein Serotonin-Agonist mit antagonistischer Partialwirkung, gediehen. Die klinische Bewährungsprobe durchlaufen außerdem der Opioid-Agonist Fedotozin, der Enkephalinase-Hemmer Racecadotril oder der motilitätssteigernde Cholezystokinin-Antagonist Dexloxiglumid. Ob sie Patienten mit Reizdarm mehr Lebensqualität schenken können, bleibt abzuwarten.
Literatur
Die Autorin
Elke Wolf studierte Pharmazie in Frankfurt. Die Approbation als Apothekerin erfolgte 1995 im Anschluss an das praktische Jahr in der Apotheke Esser in Rödermark/Hessen und in der pharmazeutischen Industrie bei der damaligen Sandoz AG in Nürnberg. Nach einem Praktikum während des Studiums und einem Volontariat bei der Pharmazeutischen Zeitung schreibt sie seit 1997 als freie Journalistin für Fach- und Publikumsmedien sowie für die Industrie. Die PZ-Leser kennen Frau Wolf seither als Autorin zahlreicher spannender Titelbeiträge.
Anschrift der Verfasserin:
Elke Wolf
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