Pharmazeutische Zeitung online

Vier Forscher und ein Hormon

04.10.1999  00:00 Uhr

-MedizinGovi-VerlagINSULIN

Vier Forscher und ein Hormon

von Franz Kohl, Freiburg

Eine der letzten großen Erfolgsstories der modernen Medizin fand Anfang der zwanziger Jahre statt. Innerhalb von nur zwei Jahren entdeckten vier Forscher das Insulin und entwickelten es weiter bis zur medizinischen Anwendung am Menschen. Der kanadische Arzt Frederick Banting war ohne Zweifel die treibende Kraft in der Forschungsgruppe. Sein direkter Mitarbeiter Charles Herbert Best, damals noch Student, wurde vor 100 Jahren geboren.

Das Diabetesproblem war nicht neu: Namhafte Physiologen hatten sich bereits im 19. Jahrhundert intensiv um dessen Erforschung gekümmert, und zahlreiche Versuche wurden seit den 1890-er Jahren angestellt, um brauchbare Pankreasextrakte zur Behandlung zunächst am Tier und dann am Menschen zu gewinnen. Daher überrascht es, dass das vergleichweise unerfahrene Forscherduo Banting und Best in weniger als einem Jahr das Hauptproblem der Insulinisolierung lösen und die Anwendung im Humanexperiment erfolgreich beschließen konnte.

Bantings treffende Idee

Der zündende Funke zum gesamten Toronto-Projekt kam zweifellos von dem kanadischen Arzt Frederick Grant Banting (1891 bis 1941), der auch von 1921 bis 1923 der treibende Promotor des Unternehmens blieb. Am 14. November 1891 in Alliston in der kanadischen Provinz Ontario geboren, studierte er nach dem Collegebesuch zunächst kurz Theologie, wechselte dann zur Medizin und machte hier 1916 seinen Abschluss. Dann war er als Militärarzt bei den alliierten Truppen in Frankreich tätig, erwarb sich Tapferkeitsauszeichnungen und kam nach einer Verwundung als Arzt ans Krankenhaus nach Toronto. 1920 eröffnete er eine orthopädische Praxis in London/Ontario, die zu seiner Enttäuschung aber wenig Zulauf hatte.

In der freien Zeit übernahm Banting Repetitionskurse an seiner früheren Alma Mater in Toronto und arbeitete sich in die Physiologie und besonders die Literatur zu Diabetes ein. Dabei kam er auf die Idee, dass die Misserfolge der bisherigen Isolierungsversuche des Insulins darauf zurückzuführen seien, dass die Verdauungsenzyme des exokrinen Pankreas das – zu dieser Zeit noch völlig hypothetische - Insulinmolekül bereits während der laborchemischen Isolierung angreifen und funktionsunfähig machen könnten. Diese Idee sollte ihn bald stark beflügeln.

Banting entwickelte kurzerhand ein eigenes experimentelles Design: Er wollte den Bauchspeicheldrüsengang in der Nähe des Zwölffingerdarms (Duodenum) abbinden und damit ein Entweichen der exokrinen Pankreasfermente verhindern. Aus der Lektüre der jüngeren Literatur war ihm außerdem bekannt, dass ein Abbinden des Pankreasgangs zu einer Art Selbstverdauung und Degeneration des exokrinen Drüsenteils führt, wobei die Langerhans'schen Inseln im wesentlichen unbeschädigt blieben. Genau hierin vermutete man - mit gutem Grund - die endokrine Pankreasfunktion und damit die Bildungsstätte des noch hypothetischen antidiabetischen Prinzips.

Seine zentrale Idee trug Banting Anfang 1921 dem Physiologen John J. R. MacLoad (1876 bis 1935) vor, der als führender nordamerikanischer Experte auf dem Gebiet des Kohlenhydratstoffwechsels galt und die Leitung des Instituts für Physiologie in Toronto inne hatte. Abenteuerlich genug war Bantings Plan: Da er selbst über kein Labor verfügte, bat er MacLoad, ihm in den Sommermonaten 1921 die Benutzung eines Laboratoriums zu gestatten und ihm einen Studenten zur Verfügung zu stellen.

MacLeod zweifelte zwar an den Erfolgsaussichten des Banting'schen experimentellen Konzepts, gewährte dem jungen Chirurgen aber schließlich den Laboraufenthalt in seinem Institut und auch einen studentischen Mitarbeiter. Dieser junge Gehilfe war Charles Herbert Best (1899 bis 1978), der damit eine der seltenen Chancen erhielt, in ganz jungen Jahren an einer epochalen medizinischen Entdeckung mitzuwirken.

Der zweite Mann im kleinen Team

Charles Herbert Best wurde als Sohn kanadischer Eltern im kleinen Ort West Pembroke im US-Bundesstaat Maine geboren. Sein Vater wirkte hier als praktischer Arzt. Best besuchte ab 1916 die medizinische Fakultät der Universität Toronto und war in den letzten Kriegsmonaten zeitweilig im Militärdienst tätig.

An die Universität zurückgekehrt, setzte er seine Studien mit Schwerpunkt Physiologie und Biochemie fort und erreichte im Juli 1921 sein Zwischenexamen. Danach arbeitete er zunächst als unbezahlter Mitarbeiter im Laboratorium von Professor MacLoad, der ihn einige Monate später bat, Banting bei der Isolierung der Inselzellhormons zu unterstützen. Best brachte einige Laborkenntnisse sowie ein hohes berufliches Engagement mit, so dass er die konzeptionellen Vorstellungen Bantings mit eigener Laborpraxis unterstützen konnte.

Isletin für diabetische Hunde

Von Bedenken unbeeindruckt begannen Banting und Best einige Wochen später, an einigen Hunden den Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse zu unterbinden und die Degeneration der Drüsen abzuwarten. Parallel wurde anderen Versuchstieren die Bauchspeicheldrüse entfernt. Am 30. Juli 1921 können die Forscher den ersten Teilerfolg verbuchen: Bei einem pankreatektomierten Hund sinkt der Blutzuckerspiegel nach intravenöser Injektion von Pankreasextrakt aus degeneriertem Gewebe um mehr als ein Drittel. Im weiteren fällt auch die Glukosurie drastisch ab. Die Arbeitshypothese des Teams, wonach sich aus selbst verdautem Pankreasgewebe ein innersekretorischer Wirkstoff isolieren lassen müsse, schien zumindest im Grundsatz bestätigt. Man gibt dem neuen, antidiabetisch wirksamen Extrakt einen ersten Namen: Isletin.

Im weiteren versuchten Banting und Best eine neue ökonomischere Quelle für ihr Isletin zu finden. Dazu besorgten sie vom großen Schlachthof von Toronto Pankreasgewebe von Kalbsfeten und praktizierten ein neues Extraktionsverfahren. Am 19. November 1921 erzielen sie hiermit eine deutliche antidiabetische Wirkung auf den Zuckerstoffwechsel von pankreatektomierten Hunden.

Für einen Behandlungsversuch am Menschen war es wichtig, den Extrakt noch reiner und ökonomischer herzustellen. Zunächst überzeugten sich die Forscher, dass der Pankreasextrakt am Menschen keine schädlichen Wirkungen verursacht: Nach der Selbstinjektion einer gewissen Menge beobachten sie außer einer kleinen Lokalreaktion keine besonderen nachteiligen Effekte.

Auf der Suche nach einem weiteren Mitarbeiter mit guten analytisch-chemischen und biochemischen Kenntnissen bat der aus dem Sommerurlaub zurückgekehrte MacLeod einen anerkannten Biochemiker aus Toronto, James B. Collip (1892 bis 1965), um Mitarbeit im "Isletin-Team".

Erste Anwendung am Menschen

Auf diesem Erkenntnisstand der laborphysiologischen Forschung näherte sich das Team der Frage, ob und wann konkret an ein therapeutisches Humanexperiment gedacht werden könnte, um die Hypothese zu prüfen. Die Gelegenheit dazu ergab sich zum Jahreswechsel 1921/1922.

Der 13-jährige Leonhard Thomas war am 2. Dezember 1921 ins Stadtkrankenhaus von Toronto eingeliefert worden. Bei der üblichen, nicht besonders effektiven Behandlung besserte sich der Zustand des Jungen kaum. Nach vier Wochen im Krankenhaus trat eine weitere Verschlechterung ein, die das Schlimmste befürchten ließ: ein längeres Siechtum mit Übergang in den Tod. Vor diesem Hintergrund entschlossen sich die zuständigen Ärzte, einen Behandlungsversuch mit dem von Banting und Best aus den Bauchspeicheldrüsen von Rindern gewonnenen Extrakt zu unternehmen. Der Effekt war verblüffend: Der Blutzuckerspiegel des jungen Leonhard sank zunächst um etwa ein Viertel und dann – nach Verbesserung des Extraktes – noch weiter auf fast Normalwerte. Dabei fand Collip die Methode der fraktionierten Eiweißfällung mit hochprozentigem Alkohol, die eine wesentlich reinere Insulingewinnung zuließ. Leonhards Behandlung konnte damit erfolgreich fortgesetzt werden.

Die allgemeine Vorstellung von Insulin beim Treffen der Association of American Physicians im Mai 1922 löste die erwartete Sensation aus. Banting, Best und Collip erwarben ein Patent auf ihr Extraktionsverfahren und vermachten dies der Universität von Toronto. Ihre Auflage war, dass die Universität die Produktion von Insulin standardisieren, überwachen und dazu ein eigenes "Insulinkommittee" einrichten sollte.

Ihre Entdeckung bedeutete einen wesentlichen Durchbruch in der Medizin und den historisch größten Fortschritt in der Behandlung des Diabetes mellitus überhaupt. Dem jungen Leonhard verordnete man versuchsweise eine Dauerbehandlung mit Extrakten von Rinderpankreas; damit konnte er noch 14 Jahre lang leben, ehe er mit 27 an den Folgen einer Lungenentzündung verstarb.

Lorbeer für die große Leistung

Weltweit war die Reaktion auf die Entdeckungen der Forschergruppe aus Toronto begeistert. In seltener Zügigkeit verlieh das Nobel-Komitee in Stockholm den Nobelpreis für Medizin und Physiologie des Jahres 1923 für die Insulin-Entdeckung. Allerdings kam es bei der Auszeichnung zu mehreren umstrittenen Entscheidungen. Das Komitee hatte den Preis zu gleichen Teilen an Banting und MacLoad verliehen, obwohl bekannt war, dass letzterer zur Zeit der wichtigsten Entdeckungen überhaupt nicht aktiv beteiligt sein konnte, da er einen längeren Urlaub in seiner schottischen Heimat verbrachte.

Banting reagierte empört und entschied in seiner gradlinigen Art, dass er seinerseits das gewonnene Preisgeld mit seinem Assistenten Best teilen werde. Danach gab auch MacLeod bekannt, dass er seine Nobelpreishälfte mit dem Biochemiker Collip teilen werde.

Die beiden Hauptbeteiligten am Erforschungsgang, Banting und Best, hätten die Möglichkeit gehabt, sich patentrechtlich erhebliche Einnahmen zu verschaffen, verzichteten aber darauf, was die Nation mit großem Respekt zur Kenntnis nahm: An der Universität von Toronto wurde ein eigenständiges Forschungsinstitut begründet, das den Namen Banting- and Best-Institut erhielt und sich der Weiterentwicklung der Insulin- und Diabetesforschung widmen sollte.

Banting erhielt schon bald (1923) eine Professur und wurde 1928 Nachfolger von MacLoad, der seinerseits eine Professur an der Universität Aberdeen/Schottland übernahm. Banting wurde in Kanada als einer der führenden Forscher Nordamerikas bald ungeheuer populär. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldete er sich wiederum zum militärärztlichen Dienst, wie er es bereits im Ersten Weltkrieg getan hatte. 1941 kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben; sein Tod wurde fast in der gesamten Nation als schmerzlicher Verlust empfunden. Seine Reputation kam zu dieser Zeit an diejenige eines Nationalhelden heran.

Best wurde danach ab 1941 Direktor des Banting- und Best-Forschungsinstituts und machte eine ebenso glänzende Karriere, bei der ihm noch zahlreiche Einzelentdeckungen vergönnt waren. Er bearbeitete vorwiegend Spezialgebiete der Muskel- und Sportphysiologie und des Kohlenhydratstoffwechsels. Dabei entdeckte er 1930 das Histamin abbauende Enzym Diaminoxydase sowie Cholin und Lecithin. Im fortgeschrittenen Lebensalter litt er selbst an Diabetes. Er starb hochgeehrt am 31. März 1978 in Toronto.

Literatur

  1. Banting, F., et al., The Effect Produced on Diabetes by Extractions of Pancreas. Transact. Ass. Amer. Physicians 37 (1922) 337.
  2. Banting, F.G., The history of insulin. Edinburgh Med. J. 36 (1929) (1) 1 - 18.
  3. Best, Ch. H., The discovery of insulin. Proc. Am. Diabetic Ass. 6 (1947) 85 - 93. Best, Ch. H., Nineteen hundred twenty-one in Toronto. Diabetes 21 (1972) Suppl. 2, 385 - 395.
  4. Crapo, L., Hormone. Die chemischen Boten des Körpers. Spektrum der Wissenschaft. Verlagsgesellsch. Heidelberg. Engelhardt, D. v.(Hrsg.), Diabetes in Medizin und Kulturgeschichte. Grundzüge. Texte. Bibliographie. Springer Verlag Berlin/ Heidelberg/ New York 1989.
  5. Koelbing, H. M., Die ärztliche Therapie. Grundzüge ihrer Geschichte. Wissenschaftl. Buchges. Darmstadt 1985.
  6. Lausch, E., Diabetes. Siege, Hoffnungen und immer neue Rätsel. Verlag Chemie Weinheim 1971.
  7. Medvei, V. C., The History of clinical Endocrinology. A comprehensive account of Endocrinology from earliest times to the present day. The Parthenon Publishing Group,
  8. 1993. Reinwein, D., Benker, G., Klinische Endokrinologie und Diabetologie. 2. Aufl., Schattauer Verlag, Stuttgart 1992.
  9. Vague, J., Geschichte der Endokrinologie bis zum 2. Weltkrieg. In: Toellner, R. (Hrsg.), Illustrierte Geschichte der Medizin. Andreas & Andreas Verlagsbuchh. Salzburg, 1986, Bd. 5, S. 2679-2699, und Bd. 6, S. 3063 - 3101.

Anschrift des Verfassers:
Dr. Franz Kohl,
Kartäuserstraße 39,
79102 Freiburg

Top

© 1999 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de

Mehr von Avoxa