Grenzenloses Zuzahlen |
25.08.2003 00:00 Uhr |
Das amerikanische Gesundheitswesen, und besonders die Kosten der Arzneimittelversorgung, stehen im Mittelpunkt heftiger Debatten. Die Politik versucht, die Kosten zu senken. Außerdem gewinnt ein in Deutschland kaum vorstellbares Problem an Dramatik: immer mehr Amerikaner können sich ihre Arzneimitteltherapie nicht mehr leisten.
Beide großen Parteien planen eine Ausweitung des staatlichen Unterstützungsprogramms Medicare auch auf die teilweise Übernahme der Kosten der ambulanten Arzneimittelversorgung. Im Folgenden werden verschiedene aktuelle Entwicklungen aus den USA dargestellt.
Generika
Im Juni hat der amerikanische Präsident George W. Bush neue Richtlinien der Food and Drug Administration (FDA) zur Zulassung von Generika veröffentlicht. Ziel ist es, die Möglichkeit der Hersteller von Arzneimitteln, deren Patentschutz abgelaufen ist oder bald ablaufen wird, einzuschränken, den Marktzutritt für Generika zu verzögern.
Bisher konnten die ehemaligen Pateninhaber gegen potenzielle Anbieter von Nachahmerpräparaten mehrfach wegen vermeintlicher Verletzung von Patenten vorgehen – jeweils mit 30-tägigem Aufschub des Marktzutritts. Zukünftig ist nur noch die Möglichkeit einer einmaligen Verschiebung um 30 Tage vorgesehen. Ferner wird die fälschliche Behauptung einer Patentverletzung strafbewehrt.
Streitigkeiten über mögliche Patente auf Packungen respektive nicht-essenzielle Inhaltsstoffe eines Arzneimittels sollen zukünftig nicht mehr einen Markzutritt des Generikums verhindern können.
Die FDA schätzt, dass durch die neuen Maßnahmen über einen Zeitraum von zehn Jahren bis zu 35 Milliarden US-Dollar eingespart werden können. Sie selbst will durch interne Reformen die Zulassungsdauer für Generika um im Durchschnitt mindestens drei Monate verkürzen.
Im Gegensatz zu einer Beschlussvorlage des Senats bleibt es aber dabei, dass der erste Anbieter eines Generikums nach seinem Markteintritt 180 Tage Schutz genießt – in dieser Zeit darf kein weiteres Generikum auf den Markt kommen. Den ‚Marken-Herstellern’ wird allgemein vorgeworfen, teilweise mit Generikaproduzenten zu kooperieren, um das Preisniveau in dieser Schutzperiode weiterhin hoch zu halten.
Orphan Drugs
Vor ungefähr 20 Jahren ist in den USA der so genannte Orphan Drug Act (ODA) in Kraft getreten. Er regelt, dass für Arzneimittel, die der Behandlung besonders seltener Krankheiten dienen, verschiedene Sonderregelungen gelten: Nach der Zulassung darf für sieben Jahre ohne Zustimmung des Herstellers des „Erstlings“ kein weiteres Arzneimittel zur Behandlung dieser Krankheit durch die Food and Drug Administration (FDA) zugelassen werden. Die Hersteller haben außerdem besonders großzügige Möglichkeiten, die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung seltener Krankheiten steuerlich abzusetzen.
Die Ökonomen Frank Lichtenberg und Joel Waldfogel haben nun untersucht, inwieweit der Orphan Drug Act wirksam ist – und sie kommen dabei zu einem positiven Befund.
Seit der Verabschiedung des ODA bleibt es zwar dabei, dass verbreitetere Krankheiten häufiger mit Arzneimitteln therapiert werden als seltene Krankheiten – aber die Häufigkeit, mit der bei seltenen Krankheiten eine Arzneimitteltherapie Anwendung findet, hat zugenommen. Und bei seltenen Krankheiten nimmt unter der Therapie mit dem ODA unterliegenden Arzneimitteln die Überlebenswahrscheinlichkeit der Kranken zu.
Wie die Verfasser selbst zugeben, reicht dies alles nicht aus um nachzuweisen, dass der ODA effizient war, das heißt, dass es keine andere Möglichkeit gab, entsprechende Verbesserungen für die an seltenen Krankheiten leidenden Patienten mit niedrigeren Kosten für die Allgemeinheit zu erreichen. Aber es gibt zumindest deutliche Anhaltspunkte dafür, dass der ODA die Situation der Kranken verbessert hat.
Arzneimittelimporte
Ende Juni hat der Energie- und Handelsausschuss des amerikanischen Repräsentantenhauses eine Anhörung zur ungeregelten Arzneimittelversorgung durchgeführt. Der Vertreter der Food and Drug Administration (FDA), William K. Hubbard, betonte in dieser Anhörung, die Zunahme von Arzneimittelsendungen aus dem Ausland überfordere die FDA in ihrem Kontrollauftrag zunehmend. Die FDA könne die Qualität dieser individuell importierten Arzneimittel nicht kontrollieren, geschweige denn zusichern. Die Gefahren durch möglicherweise überalterte, gefälschte, unter unzureichenden Standards produzierte Arzneimittel seien beträchtlich. Im Falle eines Falles entstünden für den Verbraucher weitere Probleme, denn seine Möglichkeiten, gegen im Ausland ansässige Produzenten oder Versender vorzugehen, seien erschwert. Hubbard wies auf die große Zahl von Ermittlungen gegen Internat-Anbieter von Arzneimittel hin. Ohne dem Ausschuss eine explizite Empfehlung zu geben, wird aus den Äußerungen klar, dass die FDA den Abgeordneten empfiehlt, andere Maßnahmen zur Kostendämpfung in der Arzneimittelversorgung zu ergreifen, und nicht auf einen Auslandsbezug von Arzneimitteln zu setzen.
Eine Vertreterin der Zollbehörde betonte, bei Untersuchungen von ausländischen Arzneimittelsendungen seien in diesen häufig Medikamente enthalten, die bei kombinierter Einnahme bedenkliche Wechselwirkungen entfallen könnten. Die drastische Zunahme des Auslandshandels erschwere allerdings zunehmend eine ausreichende Kontrolle.
Die weiteren Aussagen von Arzneimittelkontrolleuren zeigten deutlich, wie die Arzneimittelsicherheit in den USA auch zukünftig gesichert werden soll: durch strenge Kontrolle der nationalen Anbieter, der nationalen Vertriebsschiene – und nicht durch Zulassung (oder gar Förderung) eines Auslandsbezugs von Arzneimitteln.
Verbraucherschützer
Die Aktualität des Themas Pharmapolitik in den USA zeigt sich auch daran, dass sich fast gleichzeitig drei namhafte Verbraucherschutzorganisationen mit Berichten zu Wort gemeldet haben.
Public Citizen, gegründet von Ralph Nader, berichtet unter dem beziehungsreichen Titel ‚The Other Drug War 2003’ über die lobbyistischen Aktivitäten der amerikanischen Pharmahersteller in Washington, D.C. So habe die Branche im Jahr 2002 91,4 Millionen Dollar für Lobbyismus ausgegeben – zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. 675 verschiedene Vertreter von 138 Firmen zählt Public Citizen, darunter 26 ehemalige Mitglieder des Kongresses. Die Vertretung der forschenden Arzneimittelhersteller (PhRMA) stockte ihr Personal um 30 auf nun 112 Angestellte auf. Zu diesen unmittelbaren Ausgaben treten auch noch Wahlkampfspenden. In den Jahren 2001 und 2002 wurden über 22 Millionen Dollar an Mitteln vergeben – davon zu circa 80 Prozent an Republikaner. Ferner wurden Aktionsgruppen unterstützt, die inhaltlich die Positionen der Arzneimittelhersteller tragen.
In einem zweiten Bericht stellt Public Citizen die Gewinnsituation der größten amerikanischen Pharmahersteller dar. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die großen amerikanischen Arzneimittelherstellern im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen weit überdurchschnittliche Gewinne machen. Sie gäben dabei mehr als doppelt soviel Geld für Werbung wie für Forschung und Entwicklung aus.
Die Verbraucherorganisation Public Interest Research Group (PIRG) beziehungsweise 19 ihrer Landesorganisationen haben eine Studie über Preisunterschiede für Arzneimittel vorgestellt. Hintergrund der Untersuchung ist, dass viele Bundesstaaten und die Bundesregierung ihre Nachfragemacht nutzen, um Arzneimittel für Staatsbedienstete (Militär, Veteranenversorgung) und Begünstigte verschiedener Sozialprogramme zu günstigeren Bedingungen von den Herstellern zu kaufen. Entsprechende Preisverhandlungen gibt es auch zwischen den Managed-Care-Organisationen und den Herstellern. Unversicherte Bürger haben keine entsprechende Einkaufsmacht, und zahlen dementsprechend tendenziell die höchsten Preise für die Medikamente.
Für die Untersuchung hat die PIRG die Preise von (nur) zehn der meistverschriebenen Arzneimitteln in 500 Apotheken in den 19 betrachteten Bundesstaaten erhoben, sowie die Preise, die die Bundesregierung für diese Arzneimittel zahlt.
Das Ergebnis: Die Unversicherten müssen im Durchschnitt circa 70 Prozent mehr für die jeweiligen Arzneimittel ausgeben als die Bundesregierung. Dabei schwankt der Aufschlag je nach Arzneimittel zwischen cirka 20 und 110 Prozent! Außerdem gibt es deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Regionen – der Süden ist tendenziell billiger als der Norden.
Zur Verbesserung der Marktstellung der Unversicherten fordert PIRG die Schaffung von ‚Bestellpools’ für Arzneimittel, die die Bestellungen der Teilnehmer (jeweiliger Bundesstaat, Arbeitgeber und einzelne Bürger) bündeln, und so Marktmacht erhalten. Ferner sollen die Regierungen der Bundesstaaten das Recht erhalten, mit der pharmazeutischen Industrie in Preisverhandlungen auch für die Privatkunden einzutreten. Auch die Erstellung bundesstaatlicher Positivlisten – auch unter Bezugnahme auf die Preise der einzelnen Arzneimitteln – wird befürwortet.
Families USA hat ihren inzwischen traditionellen jährlichen Bericht über die Entwicklung der Arzneimittelpreise (gerade von Arzneimitteln für Ältere) veröffentlicht. Sie kritisiert insbesondere die hohe Preissteigerungsrate bei auf dem Markt befindlichen, gerade Senioren besonders häufig verordneten Arzneimitteln. Die von ihnen errechnete Inflationsrate liegt hier bei 6 Prozent – gegenüber 1,8 Prozent bei den allgemeinen Lebenshaltungskosten (ohne Energie).
Von den 50 meistverschriebenen Arzneimitteln stiegen 37 um mehr als das Doppelte der allgemeinen Inflationsrate, und 27 sogar um mehr als das Dreifache. Nur bei 12 Medikamenten gab es keine Preiserhöhung. Bei 8 Arzneimitteln betrug die Preissteigerung innerhalb des betrachteten Jahres 15 Prozent und mehr. Bei einem Vergleich der Preisentwicklung bei denjenigen Arzneimitteln, die seit mindestens fünf Jahren auf dem Markt sind, errechnet Families USA in der Spitze sogar eine Preissteigerung um über 360 Prozent!
Von den 50 betrachteten Arzneimitteln sind 15 Generika. Die Preisentwicklung bei den Generika ist weit gemäßigter als bei den Markenarzneimitteln: 9 der 15 stiegen im letzten Jahr nicht im Preis (während nur 3 der 35 Markenarzneimittel keine Preiserhöhung erlebten). Die durchschnittliche Preissteigerung bei den Generika betrug 2,6 Prozent und lag damit nur geringfügig über der allgemeinen Preissteigerungsrate. Die Inflationsrate bei den Markenarzneimitteln betrug hingegen 7,1 Prozent.
Managed Care
Die Unternehmensberatung Hewitt Associates hat ihre jährliche Abschätzung des zu erwartenden durchschnittlichen Anstiegs der Prämien für Health Maintenance Organizations (HMO) für 2004 veröffentlicht. Der Wert beträgt: 17,7 Prozent!
Der tatsächliche durchschnittliche Anstieg der HMO-Prämien für 2003 beträgt 17 Prozent. Er liegt nach Aussagen von Hewitt unter dem ursprünglich prognostizierten Wert, da einige HMO durch restriktivere Regelungen ihren Ausgabenanstieg ‚gebremst’ haben. Zu diesen Sparmaßnahmen gehört eine weitere Erhöhung der durchschnittlichen Zuzahlungen der Versicherten bei Arzneimitteln. So müssen inzwischen bei über 50 Prozent der betrachteten HMO Versicherte zehn Dollar pro Generika-Packung zuzahlen, bei präferierten Arzneimitteln zahlen zum Beispiel bei 32 Prozent der HMOs die Versicherten 20 Dollar. Und 24 Prozent der HMO verlangen von ihren Versicherten Zuzahlungen von mehr als 30 Dollar pro Packung, wenn ein nicht-präferiertes Markenarzneimittel abgegeben wird!
Für jeden ‚Besuch’ in der Notaufnahme müssen die Versicherten bei über der Hälfte der HMO eine Pauschale von 50 Dollar zuzahlen – bei 16 Prozent der HMO sogar noch mehr.
Medicare
Im amerikanischen Kongress werden zur Zeit verschiedene Gesetzesvorhaben diskutiert, die einem immer dringender werdenden Problem des amerikanischen Sozialsystems beikommen sollen: Die normale Krankenversicherung ist an den Arbeitsplatz gekoppelt, im Alter werden Amerikaner, die nicht privat anderweitig abgesichert sind, durch Medicare krankenversorgt. Aber: Medicare deckt nicht Arzneimittelausgaben für ambulante Behandlungen.
Sowohl Demokraten als auch Republikaner wollen dies ändern – die steigenden Arzneimittelkosten haben immer häufiger zur Folge, dass sich normale Rentner eine angemessene Arzneimitteltherapie nicht mehr leisten können.
Kongress und Repräsentantenhaus haben zwei unterschiedliche Vorschläge gemacht. Der Jahres-Versicherungsbeitrag beläuft sich bei beiden Vorschlägen auf circa 420 US-Dollar. Aber die Zuzahlungen der Patienten unterschieden sich recht deutlich. Der vom Senat verabschiedete Plan sieht vor, dass die Patienten die ersten 275 Dollar ihrer Arzneimittelausgaben vollständig tragen, danach bis zu Ausgaben in Höhe von 4500 Dollar die Hälfte der Ausgaben tragen, danach bis 5813 Dollar wiederum die gesamten Kosten übernehmen, und bei darüber hinausgehenden Ausgaben eine Zuzahlung von zehn Prozent leisten.
Der vom Repräsentantenhaus verabschiedete Plan sieht vor, dass die Patienten die ersten 250 Dollar Arzneimittelausgaben selbst tragen, für darüber hinausgehende Ausgaben bis 2000 Dollar eine Zuzahlung in Höhe von 20 Prozent leisten, und dann die Ausgaben bis 4900 Dollar vollständig selbst tragen. Darüber hinausgehende Arzneimittelausgaben sollen voll vom Staat getragen werden. Für Personen mit Jahreseinkommen über 60.000 Dollar erhöhen sich die Zuzahlungen.
Allgemein wird erwartet, dass noch in diesem Jahr eine Einigung der beiden Häuser des amerikanischen Kongresses erfolgt, und Präsident Bush das Gesetz dann auch schnell unterzeichnet. Die beiden großen Parteien fürchten, dass angesichts der Dringlichkeit des Problems eine Verzögerung von den Wählern bei den Wahlen im nächsten Jahr bestraft werden würde.
Insgesamt verdeutlichen die Vorschläge das Ausmaß, in dem die Amerikaner im Falle einer Erkrankung eine Arzneimitteltherapie (mit-)finanzieren müssen – selbst wenn sie formal krankenversichert sind.
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