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Missverständnisse ausgeräumt

25.08.2003  00:00 Uhr
Gesundheitsreform

Missverständnisse ausgeräumt

von Christoph Drude, Berlin, und Daniel Rücker, Eschborn

Nach einer weiteren langen Nacht haben Regierung und Union am vergangenen Freitag die Irritationen über den ersten Entwurf zur Gesundheitsreform aus der Welt geräumt. Am Morgen danach waren Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt und Unions-Verhandlungsführer Horst Seehofer sichtlich bemüht, ihre neuerliche Einigung als endgültig darzustellen. Die Kritik am Gesetzentwurf reißt dennoch nicht ab.

Die Matadore waren zufrieden. Mit sichtlichem Stolz auf das gemeinsam vollbrachte „größte Reformwerk der deutschen Sozialgeschichte“ (Seehofer), das „die Weichen für eine strukturelle Neuordnung des deutschen Gesundheitswesens stellt“ (Schmidt), traten die beiden - hier freilich getrennt - vor die Medienvertreter. Die Verständigung auf eine gemeinsame Sprachregelung gegenüber der Öffentlichkeit war gleichwohl offenkundig.

 

Zahnersatz und Krankengeld Neben Mehrbesitz und Positivliste gab es zwischen Regierung und Opposition vor allem Differenzen bei Zahnersatz und Krankengeld. Hier wurden folgende Kompromisse gefunden:

Zahnersatz: Er wird ab 2005 aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gestrichen. Deren Mitglieder müssen ihn aber obligatorisch zusätzlich versichern. Das können sie unter dem GKV-Dach zu einem festen, einkommensunabhängigen Betrag tun, der von den GKV-Spitzenverbänden festgelegt wird. Sie können ihn aber auch bei einer Privaten Krankenversicherung (PKV) absichern, wenn deren Leistungsumfang dem der Gesetzlichen entspricht.

Krankengeld: Das bisher von der siebten Krankheitswoche an zu zahlende Krankengeld sollen Arbeitnehmer von 2006 an allein und ohne Arbeitgeberzuschuss versichern. Das ist ein Jahr früher als Ende Juli in den Eckpunkten zwischen Regierung und Opposition vereinbart. Die Versicherten sollen einen Sonderbeitrag von 0,5 Prozent zahlen. Dies entspricht einer Summe von etwa fünf Milliarden Euro.

 

Beide widersprachen ihren Kritikern, die im Ergebnis eine einseitige Belastung der Versicherten befürchten. „Be- und Entlastung der Versicherten wahren die Balance“, sagte Schmidt. Die Reform setze auf die Akteure und deren Bereitschaft zu Veränderungen. Daher könne auch keine Rede davon sein, dass Pharmaindustrie, Großhandel und Apotheken geschont würden. Deren Belastung durch Rabatte bei Arzneimitteln bezifferte Seehofer auf 2,5 bis 3 Milliarden Euro, ohne jedoch den Betrag aufzuschlüsseln.

Auf die neue Mehrbesitzregelung ging Schmidt erst auf ausdrückliche Nachfrage ein. Künftig darf ein Apotheker neben seiner Stammapotheke noch drei Filialen besitzen. Diese müssen jedoch im Kreisgebiet selbst oder im angrenzenden Land- oder Stadtkreis angesiedelt sein, „damit der Inhaber seine Verantwortung auch wahrnehmen kann“ und nicht durch die Lande reisen müsse.

Damit dürfte aus Sicht der Apotheker zumindest vorerst Schlimmstes verhindert worden sein. „Das Leitbild vom Apotheker in seiner Apotheke bleibt erhalten“, stellte der Präsident der Bundesapothekerkammer, Johannes M. Metzger, in einer ersten Stellungnahme fest.

Grund zur Freude besteht freilich nicht. Bis zuletzt hatte die Apothekerschaft gehofft, die Union könne sich mit ihrer Position zum Mehrbesitz durchsetzen. Die Opposition plädierte für eine Ausweitung der Zweigstellenregelung nach § 16 des Apothekengesetzes. Danach dürfen Apotheker heute schon zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung eine Zweigstelle betreiben. Voraussetzung ist allerdings, dass in der Region eine Unterversorgung besteht und die Eröffnung einer eigenständigen Apotheke nicht rentabel ist. Wie die bayerische Sozialministerin Christa Stewens gegenüber der PZ ausführte, handelt es sich bei diesen Filialen um Vollapotheken. Das nach der Konsensrunde erstellte Papier geht auf diesen Punkt nicht ein.

Regierung und Opposition konnten auch den Streit um die Positivliste klären. Im ersten Gesetzentwurf fehlte eine vereinbarte Passage, nach der das Gesetz zur Erstellung der Positivliste aufgehoben werden soll. Dies sei versehentlich vergessen und nun nachgeholt worden, stellte Ministerin Schmidt klar.

Einheitlicher Preis in Gefahr

Größte Sorge bereitet der ABDA nach wie vor die Regelung zur integrierten Versorgung. Hier ist vorgesehen, dass im Rahmen von Ausschreibungen „die Krankenkassen ... die Höhe der Krankenkassenrabatte abweichend von der Arzneimittelpreisverordnung vereinbaren“ können. Dabei besteht die Gefahr, dass der einheitliche Abgabepreis sukzessive ausgehöhlt wird. Zudem dürfte es schwierig sein, für die integrierte Versorgung gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen großen Versandapotheken und kleinen regulären öffentlichen Apotheken zu schaffen.

Die ABDA will versuchen hier im Sinne der Apotheker noch Nachverhandlungen zu erreichen. Bereits am Tag der Konsensverkündung trafen sich ABDA-Präsident Hans-Günter Friese, BAK-Präsident Metzger, der Vorsitzende des Bayerischen Apothekerverbandes, Gerhard Reichert, sowie der Ehrenpräsident der Bayerischen Landesapothekerkammer, Dr. Hermann Vogel, mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, um ihn auf die Probleme bei der integrierten Versorgung hinzuweisen (lesen Sie dazu auch: Staatsregierung will freien Heilberuf bewahren).

Anfang der Woche nahm der Konsens den Parcours durch die Parteigremien ohne größere Probleme. Nachdem am Montag die Parteispitzen von Union und SPD den Kompromiss billigten, stimmten am Dienstag auch die Fraktionen zu. In der SPD-Fraktion gab es allerdings einige Gegenstimmen. Einige Sozialdemokraten halten den Entwurf immer noch für nicht ausgewogen.

Der SPD-Gesundheitspolitiker Horst Schmidbauer kritisierte, die Vereinbarungen von SPD, Grünen und Union gingen voll zu Lasten der Patienten und Versicherten. Die Verhandlungsführer von Rot-Grün hätten sich nicht mit entsprechendem Nachdruck für mehr Effizienz im Gesundheitswesen eingesetzt, sagte Schmidbauer der Chemnitzer „Freien Presse“ (Dienstag). Er bezeichnete es als ein Unding, dass die Positivliste für Medikamente auf Druck der Union wieder aus dem Gesetzentwurf gestrichen worden sei. Ohne Änderungen in einzelnen Punkten werde er den Entwurf als Ganzes ablehnen.

Eine neuerliche Detaildiskussion wollte die Parteispitze im Keim ersticken. Bereits vor der SPD-Fraktionssitzung am Dienstag hatten Bundeskanzler Gerhard Schröder und Fraktionschef Franz Müntefering klargemacht, dass sie für allzu viel Kritik am Reformentwurf kein Verständnis haben werden. Er sei überzeugt, dass der zwischen Regierung und Union erzielte Konsens umgesetzt werde, sagte Schröder vor der Sondersitzung der Fraktion. Er sei sehr zufrieden mit dem Kompromiss. Es seien mehr Transparenz und Markt gewonnen worden. Es sei aber klar, dass sich bei einem Kompromiss jeder bewegen müsse. Auch SPD-Fraktionschef Franz Müntefering machte bereits im Vorhinein deutlich, dass es „letztlich breite Zustimmung“ geben werde. Nach Seehofer und Schmidt wies auch Müntefering darauf hin, dass keineswegs allein die Patienten belastet würden.

Einseitige Belastung

Außerhalb der Politik gab es dennoch zahlreiche Stimmen, die die Reform als sozial unausgewogen bezeichneten. So kritisierte der Sozialverband VdK: „Die Versicherten und Rentner sollen offenkundig abgezockt werden.“ Die zusätzliche private Absicherung des Krankengeldes, die auf 2006 vorgezogen werde, gehe voll zu Lasten der Rentner. Der Chef der Barmer-Ersatzkasse, Eckart Fiedler, sagte, der Kompromiss gehe einseitig zu Lasten der Versicherten. Auch der DGB äußerte sich ablehnend zum Gesundheitskompromiss. Der Konsens sei ein Programm zur Senkung der Nettolöhne, ein staatlicher Griff in die Taschen der Bürger.

 

Der Fahrplan Die Gesundheitsreform soll zum 1. Januar 2004 in Kraft treten. Für Anfang September sind noch einmal Fraktionsklausuren festgelegt. Bei Zustimmung der Koalitions- und der Unionsfraktionen könnte ein Gesetzentwurf beschlossen und dieser in der zweiten Septemberwoche in den Bundestag eingebracht werden. Das Parlament nimmt seine Arbeit nach der Sommerpause am 8. September wieder auf. Die erste Lesung des Gesetzentwurfs soll nach bisherigen Plänen am 11. oder 12. September sein, ein Vorziehen um ein paar Tage ist aber nicht ausgeschlossen.

Danach tagen Ausschüsse. Weitere Lesungen sind vom 22. September an möglich. Ziel ist aber bisher, dass der unionsdominierte Bundesrat am 26. September und damit nach der bayerischen Landtagswahl (21. September) zustimmen kann.

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