Arzneimitteltherapie für alle |
12.08.2002 00:00 Uhr |
von Jörg Breitkreutz, Münster, Peter Kleinebudde, Halle, und Joachim Boos, Münster
Fast alle Eltern haben schon einmal den Kampf um die Applikation eines Arzneimittels mit ihrem Nachwuchs durchlitten. Darreichungsformen, die den besonderen Bedürfnissen von Kindern entsprechen, sind selten. Häufig sind die verwendeten Arzneimittel für Erwachsene konzipiert worden. Gibt es neue Ansätze und Trends zu geeigneten Arzneiträgern für alle Atersgruppen?
„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“. Diese fast zur Platitüde gewordene Erkenntnis setzt sich bei der Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder zunehmend durch. Obwohl jeder fünfte Bürger in der Europäischen Union jünger als 16 Jahre alt ist, wurden Arzneimittel in der Vergangenheit fast ausschließlich für Erwachsene konzipiert und an Erwachsenen klinisch getestet. Kinder werden daher nicht selten zu therapeutischen Waisen (therapeutic orphans).
Je jünger das Kind und je ernster die Erkrankung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass kein geprüftes Arzneimittel zur Verfügung steht. Die Europäische Kommission hat den Mitgliedsländern im Februar 2002 eine Reihe von Initiativen zur Eindämmung dieser Fehlentwicklung vorgeschlagen (1).
Grundvoraussetzung einer effektiven pädiatrischen Arzneitherapie ist die Verwendung einer kindgerechten Darreichungsform. Während beispielsweise ein Erwachsener den bitteren Geschmack eines Arzneimittels toleriert und möglicherweise sogar mit einer besonders guten Wirkung verbindet, verweigern Kinder meistens die Einnahme solcher Präparate. Größere Arzneiformen zur peroralen Anwendung, zum Beispiel Kapseln oder Tabletten, können Neugeborene und Kleinkinder gar nicht schlucken (2).
Physiologische Besonderheiten
Kinder sind kein homogenes Kollektiv. In dem seit Januar 2001 europaweit gültigen Leitfaden zu klinischen Studien bei Kindern (3) werden altersabhängig die Kategorien Frühgeborene, Neugeborene, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche unterschieden (Tabelle 1). Diese Einteilung ist sehr allgemein gehalten. Ein Frühgeborenes in der 30. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 1500 g ist beispielsweise mit einem Frühgeborenen aus der 25. Woche mit 500 g kaum zu vergleichen.
Bezeichnung
Alter
Frühgeborenes (preterm newborn infant)
Geburt vor kalkuliertem Termin
Neugeborenes (term newborn infant)
0 bis 27 Tage
Kleinkind (infant and toddler)
28 Tage bis 23 Monate
Kind (child)
2 Jahre bis 11 Jahre
Jugendlicher (adolescent)
12 bis 18 Jahre
In der frühen Kindheit verändert sich der menschliche Körper gravierend. Die Wassermenge pro kg Körpergewicht liegt beim Neugeborenen durchschnittlich um 15 Prozent höher als beim Erwachsenen. Vor allem der Anteil des extrazellulären Wassers ist erhöht, so dass bei der Dosierung vieler Arzneistoffe größere Verteilungsvolumina zu berücksichtigen sind (4).
Bestimmte Enzymsysteme wie das Cytochrom P450 3A4 sind beim Neugeborenen noch nicht vollständig ausgebildet. Andere metabolisierende Enzymsysteme sind dagegen stärker aktiv als beim Erwachsenen. Die Azidität des Magens ist bei Kindern bis zu drei Jahren deutlich reduziert; in den ersten Monaten ist das Magenmilieu neutral. Die Magen-Darm-Passage ist bei Neugeborenen und Kleinkindern verlangsamt. Sie kann ohne pathologischen Hintergrund mitunter eine Woche betragen.
Diese physiologischen Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen und deren direkte Auswirkung auf die Arzneitherapie müssen bei der Entwicklung kindgerechter Arzneimittel berücksichtigt werden.
Wege in den Körper
Grundsätzlich können bei Kindern die gleichen Applikationswege genutzt werden wie bei Erwachsenen. Die physiologischen Unterschiede schränken jedoch die zur Verfügung stehenden Darreichungsformen zur peroralen oder parenteralen Verabreichung erheblich ein . Früh- und Neugeborene, die stationär versorgt werden müssen, erhalten ihre Arzneimittel oft parenteral.
Hauterkrankungen werden im Kindesalter häufig mit Dermatika behandelt. Dagegen wird die transdermale Verabreichung mit dem Ziel der systemischen Verfügbarkeit des Arzneistoffs bisher kaum genutzt, obwohl einige transdermal applizierte Substanzen durchaus Bedeutung für die Pädiatrie haben (Tabelle 2). Die Gründe hierfür sind vielfältig.
Handelsprodukt, Hersteller Arzneistoff Arzneiform Zulassung (Jahr)
neos nitro OPT, Optimed Pharma
Glyceroltrinitrat
Salbe
> 18
TD Spray Iso, Mack
Isosorbiddinitrat
Spray
> 18
Nitroderm TTS, Novartis
Glyceroltrinitrat
Membranpflaster
> 18
Androderm, AstraZeneca
Testosteron
Membranpflaster
> 18
Scopoderm TTS, Novartis
Scopolamin
Membranpflaster
> 10
Nicotinell, Zyma
Nicotin
Matrixpflaster
> 18
NiQuitin, GlaxoSmithKline
Nicotin
Membranpflaster
> 18*
Durogesic, Janssen-Cilag
Fentanyl
Membranpflaster
> 12 **
Transtec, Grünenthal
Buprenorphin
Matrixpflaster
> 18
* Anwendung ab 12 Jahren nur unter strenger Kontrolle des Arztes.
** Positive Berichte über die Anwendung bei jüngeren Patienten liegen vor.
Bei Neugeborenen und Kleinkindern liegt die Haut stark hydratisiert vor. Das Stratum corneum, das die wesentliche Permeationsbarriere für Arzneistoffe darstellt, ist weniger stark ausgebildet, so dass höhere systemische Blutspiegel resultieren können. Klinische Untersuchungen bei Kindern sind daher unerlässlich. Sechs von acht Berichten an die schwedische Behörde über Halluzinationen bei der Therapie der Reisekrankheit mit Scopolamin-Pflastern betreffen 9- bis 15-jährige Kinder (5). Die perorale Einnahme oder das Kauen auf Transdermalpflastern kann bei Kindern schwere Vergiftungen auslösen. Daher enthalten Packungsbeilagen detaillierte Hinweise zu deren sicherer Entsorgung. Häufig liegen einfach keine klinischen Studien vor, die die effektive und sichere Verwendung von transdermalen therapeutischen Systemen bei Kindern belegen.
Die rektale Gabe von Arzneistoffen in Suppositorien und Klistieren ist vor allem bei den Eltern von Neugeborenen und Kleinkindern sehr beliebt, da das Kind das Medikament praktisch nicht verweigern kann. Jedoch ist die Resorption von Arzneistoffen aus dem Rektum vergleichsweise gering (Tabelle 3). Selbst das bei den Eltern sehr geschätzte Paracetamol-Zäpfchen erreicht, verglichen mit einer peroral gegebenen Tablette, nur eine relative Bioverfügbarkeit von 68 Prozent (6). Häufig fragen Kinderärzte nach Suppositorien mit antibiotisch wirksamen Substanzen, zum Beispiel Phenoxymethylpenicillin oder Erythromycin. Die Entwicklung dieser Arzneimittel scheitert jedoch an der geringen rektalen Bioverfügbarkeit der Substanzen und der vergleichsweise großen Menge, die reproduzierbar systemisch verfügbar gemacht werden muss.
Arzneistoff
perorale Form
Suppositorien-Grundmasse
relative BV (Prozent)
Levodopa
Kapseln
Kakaobutter
0
Phenytoin
Suspension
Hartfett
0
Allopurinol
Tablette
Kakaobutter
6
Tamoxifen
Tablette
Hartfett
28
Phenoxymethylpenicillin
Tablette
Hartfett
33
Acetylsalicylsäure
Tablette
Kakaobutter
63
Paracetamol
Tablette
Kakaobutter
68
Piroxicam
Lösung
Hartfett
78
Theophyllin
Tablette
Hartfett
79
Naproxen
Tablette
Hartfett
97
Coffein
Tablette
Hartfett
107
Die Anwendung von Inhalanda hängt stark vom Entwicklungsstand des Kindes, den Erfahrungen des Therapeuten und den aktuellen Empfehlungen der Fachgremien, zum Beispiel der Deutschen Atemwegsliga, ab. Übersichten zur Verwendung von Atemmasken, Verneblern, Dosieraerosolen und Pulverinhalatoren bei Kindern von 1 bis 5 Jahren zeigen, dass trotz moderner Technik Compliance und Arzneimittelsicherheit selten gewährleistet sind (7). Weitaus am häufigsten erhalten Kinder ihre Medikamente auf peroralem Weg.
Flüssige Arzneiformen richtig dosiert
Wenn Kinder eine Arznei wegen deren schlechtem Geschmack verweigern oder die lokale Verträglichkeit des Arzneistoffs im Mundraum nicht gegeben ist, sind flüssige Arzneimittel in der pädiatrischen Anwendung abzulehnen. Kinder reagieren besonders empfindlich auf einen bitteren Geschmack. Dies mag in der Evolution ein Selektionsvorteil gewesen sein, denn viele toxische Naturstoffe, zum Beispiel Alkaloide, schmecken für den Menschen bitter. In der pädiatrischen Praxis ist jedoch eines der größten Probleme, dass Kinder die Einnahme von Medikamenten verweigern. In einer dänischen Studie gaben 43 Prozent aller befragten Eltern an, mit der oralen Verabreichung von Arzneimitteln für ihre Kinder überfordert zu sein (8).
Als flüssige Arzneiformen stehen Tropfen, Säfte, Emulsionen und Suspensionen zur Verfügung. Da die Dosis beliebig angepasst werden kann, reicht in der Regel eine Packungsgröße für mehrere Altersstufen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht freut dies den pharmazeutischen Unternehmer, da weniger Entwicklungs-, Herstellungs- und Lagerkosten entstehen sowie Gebühren im Zulassungsverfahren eingespart werden können.
Die Dosierungsgenauigkeit ist bei einphasigen Systemen (Lösung, Saft) meistens gegeben, wenn geeignete Hilfsmittel verwendet werden. Bei Suspensionen können Redispergierbarkeit und damit die Dosierungsgenauigkeit von der individuellen Handhabung abhängen (9).
Bei Tropfflaschen ist zu beachten, dass man Zentral- und Randtropfer unterschiedlich halten muss (10). Pflanzliche Tropfenpräparate sind wegen ihres heterogenen Aufbaus manchmal selbst von pharmazeutisch geschultem Personal nicht richtig zu dosieren (11). Diese Einschränkung der Arzneimittelsicherheit betrifft unter anderem Kardiaka und Antitussiva (12).
Verschiedene Dispensierhilfsmittel liegen heutzutage den Arzneimittelpackungen bei. Dosierbecher, Dosierlöffel, Spritzen oder Tropfer zur oralen Anwendung sind vor allem bei Neugeborenen und Kleinkindern nützlich. Bei verschiedenen Medizinprodukte-Herstellern kann man volumenbezogene Messinstrumente einzeln beziehen. Hilfsmittel wie Ess- oder Teelöffel sind obsolet, weil das abgemessene Volumen je nach Ausformung des Löffels stark schwanken kann.
Aber auch moderne Dispensierhilfen bergen Tücken: Spritzen zur oralen Anwendung sind im Krankenhaus nach ordnungsgemäßer Vorbereitung vom Personal schon versehentlich parenteral appliziert worden. Unterschiedliche Farbkennzeichen je nach Applikationsweg können helfen, Verwechselungen zu vermeiden. Zu Hause sollten frisch gefüllte Spritzen sofort verwendet werden, um den versehentlichen Gebrauch durch Geschwister auszuschließen. Ferner gibt es Berichte, dass vor der Applikation vergessen wurde, die Schutzkappe einer Spritze zu entfernen, die dann unter hohem Druck zusammen mit der Lösung in den Rachenraum gespritzt wurde und in Speise- oder Luftröhre gelangte.
Jedes Jahr werden der American Association of Poison Control Centers durchschnittlich 7000 unerwünschte Arzneimittelwirkungen durch falsch verwendete Dispensierhilfsmittel gemeldet (13). Durch eingehende Beratung der Eltern lassen sich diese Fehler weitgehend vermeiden.
In einer Studie zur praktischen Anwendung eines Antibiotikum-haltigen Trockensaftes erhielten trotz mündlicher Anweisung der Eltern durch den Apotheker nur 37 Prozent der Kinder die vorgesehene Einzeldosis. Der Dosierungsbereich lag zwischen 32 und 147 Prozent. Bei der Verwendung einer Spritze zur oralen Anwendung und kurzer Demonstration der Handhabung erhielten 83 Prozent der Kinder die richtige Dosis des Medikaments. Nachdem der Apotheker die verordnete Dosis auf der Spritze farbig kennzeichnete und die Handhabung kurz demonstrierte, erhielten alle Kinder die korrekte Dosis (14). Das Beispiel zeigt, dass die intensive Beratung in der Apotheke die Arzneimittelsicherheit verbessern kann.
Hilfsstoffe sorgfältig auswählen
Einige häufig verwendete Hilfsstoffe können für Neugeborene und Kleinkinder unverträglich und sogar tödlich sein. Als Substanzen mit antimikrobiellen Eigenschaften werden Arzneimitteln zum Beispiel Ethanol, Propylenglykol oder die Konservierungsmittel Benzoesäure, Natriumbenzoat, Parabene oder Benzylalkohol zugesetzt.
Ethanol als Hilfsstoff in Kinderarzneimitteln wird immer wieder kontrovers diskutiert (15 - 17). Befürworter führen die vergleichsweise geringen Plasmakonzentrationen nach der Gabe von Arzneimitteln (bis 0,2 Promille) und das Ausbleiben akuter Vergiftungsfälle an. Andere Fachleute halten dagegen, dass Kinder empfindlicher auf Ethanol reagieren als Erwachsene, die Blut-Hirn-Schranke bei Kindern durchlässiger ist und die metabolisierenden Enzymsysteme in Abhängigkeit vom Alter noch nicht voll entwickelt sind. Mindestens sollte man auf den Alkoholgehalt achten und falls möglich ein alkoholfreies Alternativpräparat vorziehen.
Die Toxizität von Propylenglykol wird für Kinder noch höher bewertet. Neben dem laxierenden Effekt durch die Hyperosmolarität solcher Produkte ist bei Kindern unter vier Jahren die geringe Aktivität der Alkohol- und Aldehyddehydrogenasen von Bedeutung, was zu einer Kumulation von Propylenglykol im Körper führt. Krampfanfälle, Herzarrhythmien, Leberschäden und sogar der Tod können die Folge sein (18). Vor zwei Jahren musste GlaxoWellcome eine weltweite Warnung für sein Produkt Agenerase® wegen des hohen Gehalts an Propylenglykol in der oralen Lösung aussprechen (19). Die Altersgrenze wurde auf vier Jahre heraufgesetzt.
Benzoesäure und ihr Salz Natriumbenzoat werden in flüssigen Arzneimitteln häufig als Konservierungsmittel verwendet. Da bei Kindern bis zu zwei Jahren die Konjugation zum Metaboliten Hippursäure noch nicht vollständig funktioniert, kann Benzoesäure kumulieren. Dies kann zu gravierenden Enzephalopathien und einer schweren Atmungsbeeinträchtigung mit Todesfolge (Gasping-Syndrom) führen. Dieselbe Gefahr droht bei Benzylalkohol, der im Organismus zur Benzoesäure oxidiert wird. Klinisch wurde das Gasping-Syndrom zuerst bei Intoxikationen von 100 mg/kg Körpergewicht Benzylalkohol beschrieben (20), die mindestens 16 Todesfälle von Kindern verursachten (21).
In den ersten Lebensmonaten findet im Körper eine umfangreiche Immunisierung gegen Fremdstoffe statt. Bekannte Allergene in Pharmaka sollten deshalb bei Neugeborenen und Kleinkindern vermieden werden. Vor der Verwendung des Tensids Macrogolricinoleat (Polyoxyethylen-Rizinusöl, Cremophor EL) wird gewarnt, da dieses bei wiederholter Exposition einen anaphylaktischen Schock auslösen kann.
Auch Zuckeraustauschstoffe wie Cyclamat und Aspartam sollten gemieden werden. Da die natürlich vorkommenden Zucker Saccharose, Glucose und Fructose kariogen sind, ist die Auswahl der Süßungsmittel bei Kleinkindern sehr eingeschränkt. Lactose ist wegen der Lactose-Intoleranz einiger Kinder nur eingeschränkt zu empfehlen. Sorbitol kann in höherer Dosis osmotische Diarrhöen und gastrointestinale Beschwerden verursachen. Da Sorbitol zu Fructose verstoffwechselt wird, ist es bei Kindern mit Fructose-Intoleranz kontraindiziert (22). Häufig wird der Zuckeralkohol Xylitol verwendet, der aber eine relativ geringe Süßkraft aufweist. Für das seit kurzem verwendeten Peptid Thaumatin (E 957), das eine hohe Süßkraft aufweist und nicht resorbiert werden soll, liegen bisher keine gesicherten Daten bei Kleinkindern vor.
Häufig gelingt es nicht, den schlechten Geschmack einer Arzneistofflösung mit Hilfsstoffen zu maskieren. Wie eigene Versuchsreihen zeigen, kann ein saurer oder salziger Geschmack durch geschickte Kombination von Süßungsmitteln wie Xylitol, Aromastoffen wie Bananen-Aroma und Verdickungsmitteln, zum Beispiel Xanthan Gummi, überdeckt werden. Dagegen bleibt ein bitterer Geschmack häufig, zumindest in der Form eines Nachgeschmackes, bestehen.
Antibiotische Substanzen wie Erythromycin, Clarithromycin und Amoxicillin schmecken mehr oder minder ausgeprägt bitter. Da die Geschmacksmaskierung mit Hilfsstoffen nicht ausreichend gelingt und Kinder die Einnahme häufig verweigern, sind einige Firmen dazu übergangen, Salzformen wie Erythromycin-Estolat einzusetzen. Das Problem lässt sich häufig auch durch Bindung des Arzneistoffs an einen Ionenaustauscher oder durch einen magensaftresistenten Polymerfilm (zum Beispiel in Klacid®) lösen. Solange das Kind die Partikel in der grießartigen Suspension nicht zerbeißt und den Mundraum nach dem Schlucken gut mit einem Getränk ausspült, wird der unangenehme Geschmack des Arzneistoffes nicht empfunden.
Feste Formen mit galenischem Kniff
Feste Arzneiformen bieten in der Regel eine hohe Stabilität von Arzneistoff und Arzneimittel, hohe Dosierungsgenauigkeit und verschiedene Variationen für eine kontrollierte Arzneistofffreisetzung. Sie können vollständig aus Hilfsstoffen aufgebaut werden, die für Kinder unbedenklich sind. Bei monolithischen Tabletten oder Kapseln ist die Größe häufig problematisch, doch mittlerweile können Mikrotabletten mit weniger als 2 mm Durchmesser (23) oder winzige Weichgelatinekapseln, auch als "Perlen" vermarktet, hergestellt werden.
Vorsicht: Kinder können Tabletten über Minuten in der Wangentasche aufbewahren und später ausspeien. Daher - und zur Beschleunigung der Speiseröhrenpassage - sollte man dem Kind nach der Verabreichung des Arzneimittels möglichst viel zu trinken geben. Leider sind Kinder in der Regel nicht einsichtig, so dass die empfohlenen minimalen Flüssigkeitsmengen (24) häufig völlig utopisch sind.
Eine moderne Arzneiform für Arzneistoffe mit akzeptablem Geschmack sind schnell freisetzende Bukkaltabletten (Fast-Dissolving Drug Formulations, FDDF). Die FDDF, zum Beispiel Zofran Zydis®, Imodium lingual®, Tavor Expidet® und Pepdul Rapid® werden durch Einfrieren einer Arzneistoff/Hilfsstoff-Suspension direkt in den Blisterhöfen der Primärverpackung und anschließende Gefriertrocknung hergestellt (25). Die resultierenden Formkörper sind schwammartig, druckempfindlich, stark hygroskopisch und zerfallen innerhalb von fünf Sekunden vollständig im Speichel. Ein Ausspucken der festen Form ist damit unmöglich. Leider sind Kinder bislang von diesen fortschrittlichen Arzneiformen wegen fehlender klinischer Erfahrungen und Zulassungen weitgehend ausgeschlossen.
Feste selbst emulgierende Arzneiformen (Self-emulsifying Drug Delivery Systems, SEDDS) wurden zur pädiatrischen Verwendung vorgeschlagen, da sie sich ebenfalls in Sekunden in der Mundhöhle auflösen (26). Bisherige SEDDS enthalten jedoch bis zu 25 Prozent ethoxylierte nichtionische Tenside, die für Kinder nicht optimal sind. In eigenen Arbeiten haben wir daher SEDDS auf der Basis von Milchprodukten (Vollmilch, fettarme Milch, hypoallergene Säuglingsnahrung, Muttermilch) entwickelt. Die Produkte zeigen nach der Gefriertrocknung schwammartige Strukturen, die in Anwesenheit von Wasser innerhalb von Sekunden zerfallen und eine Emulsion bilden. Etwas längere Auflösungszeiten erreichen Schmelztabletten (zum Beispiel D-Fluoretten®) und Multifunktionstabletten zum Kauen, Auflösen oder Schlucken (Softchews®).
In den Vereinigten Staaten gibt es für ältere Kinder Arzneiformen, die Süßigkeiten wie Lollipops oder Fruchtbonbons nachempfunden sind. Diese Entwicklung betrachten wir mit Sorge, da die klare Grenze zwischen therapeutisch notwendigen Arzneimitteln und leckeren Süßigkeiten zu verschwimmen droht. Berechtigte Ausnahmen sind medizinische Kaugummis (wie Superpep® Reise-Kaugummidragee) oder der neue, nicht für Kinder zugelassene Fentanyl-Lutscher (Actiq®), die einen therapeutischen Fortschritt darstellen.
Wie teilt man Monolithen?
Monolithische Arzneiformen lassen häufig keine Dosisanpassung zu. Überzogene monolithische Tabletten können nicht geteilt werden, ohne das Prinzip der Retardierung oder Magensaftresistenz zu verändern. Die Anforderungen bezüglich der Gleichförmigkeit von Masse und Gehalt der Bruchstücke werden häufig auch bei Tabletten mit Bruchrillen nicht erfüllt (27).
Kürzlich wurde erstmals eine Vorschrift in das Europäische Arzneibuch unter der Monographie "Tabletten" aufgenommen, wonach die Bruchstücke von Tabletten mit Bruchrille entweder der Prüfung auf Gleichförmigkeit der Masse oder der Prüfung auf Gleichförmigkeit des Gehalts entsprechen müssen. Auch wenn die Ergebnisse stark von der Versuchsperson und der verwendeten, nicht vorgeschriebenen Teilungstechnik abhängen: Ungenügende Teilbarkeit durch schlechte Tablettengeometrie wird erstmals als schwerer Qualitätsmangel eingestuft.
Verbesserte Tablettenformen, zum Beispiel mit Snap-Tab®-Geometrie, mit leichter Teilbarkeit und homogeneren Bruchstücken sind vorteilhaft. Tablettenteiler erleichtern zwar die Zerteilung, verbessern allerdings in der Regel nicht die Gleichförmigkeit der Bruchstücke (27).
Völlig abzulehnen ist die Teilung von Tabletten mit toxischen Substanzen wie Zytostatika. Dies wird den Eltern leukämiekranker Kinder zugemutet, die 6-Mercaptopurin (PuriNethol®) bekommen. Das Präparat ist nur in einer Dosierungsstärke im Handel, wird aber gemäß einem Standardprotokoll für die ambulante Dauertherapie der akuten lymphatischen Leukämie dosiert. Kürzlich haben wir die Risiken des Teilens dieser Tabletten untersucht – mit erschreckenden Ergebnissen bezüglich Arzneimittelsicherheit und Sicherheit für die Eltern – und Empfehlungen für ein besseres Vorgehen gegeben (28).
Vorteile für Pellets und Co.
Multipartikuläre Arzneiformen wie Granulate oder Pellets (Beispiel: Kreon® für Kinder) haben in der pädiatrischen Praxis bedeutende Vorteile. Die Einzelpartikel können in Mehrdosenbehältnissen oder in Hartgelatinekapseln abgefüllt vorliegen. In den letzten Jahren haben sich auch Tabletten mit verpressten unbeschädigten Pellets etabliert (Beispiel: Beloc®ZOK, Antra® MUPS).
Die Arzneistoffdosis fester multipartikulärer Träger kann ähnlich wie bei den flüssigen Arzneiformen fast beliebig angepasst werden. Durch Auftragen von Polymerschichten auf die Partikel kann die Arzneistofffreisetzung gesteuert werden. Therapiefortschritte durch speichel- oder magensaftresistente sowie retardierte Arzneiformen sind somit auch bei Kindern möglich.
Kleine Partikel unter 1 mm können die Speiseröhre von Kleinkindern ab etwa drei Monaten passieren. Die Arzneiträger können in Brei eingerührt und damit verabreicht werden. Dabei ist die Stabilität zu beachten. In den Untersuchungen zum 6-Mercaptopurin stellte sich heraus, dass das Einrühren in Milch den Gehalt des Arzneistoffs bis auf 25 Prozent reduzieren kann, da die Xanthinoxidase in der Kuhmilch noch aktiv ist (28). Speichelresistent überzogene Arzneiformen sollte man nicht in Fruchtsäure-haltige Getränke einrühren, da Überzüge aus basischen Polymeren verfrüht aufgelöst werden. Überzogene Arzneiformen sollten möglichst in halbfesten Systemen wie Grießbrei oder Vanillepudding verabreicht werden.
Natriumbenzoat gut verpackt
Kürzlich gelang es unserer Arbeitsgruppe, das salzig und sehr bitter schmeckende Natriumbenzoat in eine kindgerechte Darreichungsform zu überführen. Natriumbenzoat wird bei angeborenen Defekten der Verstoffwechselung von Aminosäuren, zum Beispiel bei der Nonketotischen Hyperglycinämie, eingesetzt. Bei dieser Erkrankung ist das mitochondriale Glycin-Metabolisierungssystem defekt, was zur Kumulation von Glycin im gesamten Körper führt. Die betroffenen Kindern leiden an Hirnfunktionsstörungen, Krampfanfällen und schweren Behinderungen. Viele sterben bereits nach wenigen Tagen; Patienten mit milderen Formen können jedoch mit einer kontrollierten medikamentösen Therapie das Erwachsenenalter erreichen.
Benzoat ist in der Lage, Glycin zu binden und das renal eliminierbare Hippurat zu bilden. Hierfür sind hohe Dosen erforderlich: 6 mal 1 g Natriumbenzoat am Tag für ein zweijähriges Kind. Die Verabreichung ist eine Qual für Eltern und Kind. Zahlreiche Versuche mit flüssigen oder halbfesten Arzneiformen, die geschmacksmaskierende Zusätze enthielten, waren erfolglos. Selbst aus reiner Nuss-Nougat-Creme (Nutella®) sticht der bittere Geschmack des Natriumbenzoats heraus.
Mit der Entwicklung speichelresistent überzogener Partikel gelang der Durchbruch. Die gerundeten zylinderförmigen Partikel von etwa 1 mm Durchmesser setzen Natriumbenzoat nur langsam in neutraler Umgebung, jedoch schnell und vollständig in saurem Medium, zum Beispiel im Magen, frei. Durch den Polymerfilm sind die Partikel geschmacklos und werden vollständig von den Kindern akzeptiert. Auch das bisher gelegentlich auftretende Erbrechen nach der Einnahme von Natriumbenzoat scheint auszubleiben.
Rezeptur mit Tücken
Bei individuellen Heilversuchen werden häufig Arzneimittel eingesetzt, die hinsichtlich Alter, Indikation, Dosis, Applikationsweg oder Gegenanzeigen nicht für Kinder oder in Deutschland überhaupt nicht zugelassen sind. In allen Fällen tragen Arzt und Apotheker eine erhöhte Verantwortung.
Bei der Verdünnung von konzentrierten Arzneistofflösungen kann sich die Oberflächenspannung und damit die Anzahl der Tropfen pro Gramm verändern, was bei der Dosierung berücksichtigt werden muss. In Tabelle 4 ist die Verdünnung von Ethanol-haltigen Novodigal®-Tropfen mit Wasser beschrieben (29). Eine Verdünnung von 1 : 8 ergibt wegen der geänderten Oberflächenspannung etwa ein Viertel der ursprünglichen Dosis pro Tropfen und nicht ein Achtel, wie theoretisch berechnet. Wird dies nicht berücksichtigt, wird die doppelte Dosis gegeben.
Verdünnung Oberflächenspannung [mN/m]Tropfenvolumen [μl]Acetyldigoxin pro Tropfen [μg]Überdosierung [%] --- 23,3 21,5 6,9 0 1:2 28,9 27,8 4,5 30 1:4 37,4 33,4 2,7 57 1:8 48,2 41,7 1,7 97
Mitunter werden Injektionslösungen peroral verabreicht. Dabei sollten wichtige Punkte beachtet werden (30). Die Pharmakokinetik ist nach peroraler Gabe gegenüber der Injektion deutlich verändert. Wenn der Arzneistoff im Magen chemisch zersetzt wird (Beispiel Omeprazol), darf eine Lösung nicht gegeben werden. Bei Arzneistoffen mit hohem First-pass-Effekt kann die erforderliche Menge an Injektionslösung inakzeptabel hoch werden. Einige Arzneistoffe müssen peroral als Prodrug verabreicht werden. Einige Injectabilia enthalten bedenkliche Hilfsstoffe wie Ethanol oder Propylenglykol in hohen Konzentrationen oder schmecken widerlich. Schließlich können Injectabilia oft aus Kostengründen nicht verwendet werden.
Die Herstellung von Flüssigkeiten aus festen Arzneiformen wie entleerten Kapseln oder zerkleinerten Tabletten muss kritisch bewertet werden. Zunächst ist zu klären, ob eine Zerkleinerung nicht das zu Grunde liegende Freisetzungsprinzip zerstört oder verändert (Beispiel: monolithische Arzneiformen mit magensaftresistentem oder retardierendem Überzug). Multipartikuläre Tabletten dürfen zwar dispergiert, aber nicht zerkleinert werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stabilität des Arzneistoffs, die im festen Zustand üblicherweise höher ist als in einer Flüssigkeit. Auch die physikalische und mikrobiologische Stabilität der so hergestellten Lösung sind nicht gesichert. Kritisch ist eine Filtration, da sich in der Regel nicht alle Bestandteile einer festen Arzneiform lösen. Zumindest der Arzneistoff muss sich vollständig gelöst haben und darf nicht an suspendierten Partikeln oder dem Filtermaterial adsorbiert werden. Eine Filtration sollte daher nur bei Verwendung einer qualitätsgesicherten Analytik erfolgen.
Auch bei der Verdünnung von Kapselinhalten oder zerkleinerten Tabletten, zum Beispiel mit einem Mannitol/Aerosil-Gemisch, wird der Arzneistoff der Hülle beraubt, die ihn vor Licht, Feuchtigkeit oder Sauerstoff schützt. Ferner können bei der „Verdünnung“ einer einzigen Tablette auch bei optimaler pharmazeutischer Arbeitsweise erhebliche Abweichungen vom theoretischen Gehalt auftreten, die durch Schwankungen im Gehalt der Tablette (laut Ph. Eur. maximal 75 bis 125 Prozent des Mittelwertes) und der weiteren Aufarbeitung bedingt sind.
Pharmazeutische Kernkompetenz
Die Entwicklung und Prüfung weiterer kindgerechter Fertigarzneimittel bedürfen zusätzlicher finanzieller Anreize. Vorerst werden individuelle Therapieversuche bei vielen Erkrankungen im Kindesalter unumgänglich sein. Der Apotheker muss über fundierte Kenntnisse zu kindgerechten Darreichungsformen verfügen. Die sachgerechte Herstellung und Verabreichung kindgerechter Arzneimittel gehört zu seinen Kernkompetenzen.
Literatur
Die Autoren
Jörg Breitkreutz ist als Akademischer Oberrat am Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie der Universität Münster tätig. Wissenschaftlich bearbeitet er kindgerechte Darreichungsformen, Orphan Drugs, die Pharmakokinetik und -dynamik von Hilfsstoffen sowie In silico-Methoden zur Vorhersage pharmakokinetischer Eigenschaften. Nach Pharmaziestudium und Promotion sammelte er Erfahrungen in der Pharmaindustrie. 1999 erhielt er den Förderpreis für Habilitanden der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft. In diesem Jahr gründete er mit Kollegen die Ethicare GmbH.
Peter Kleinebudde ist Universitätsprofessor für Arzneiformenlehre an der Universität Halle-Wittenberg. Seine wissenschaftlichen Interessen umfassen die Herstellung und Charakterisierung von Pellets, das Walzenkompaktieren und Trockengranulieren, die Eigenschaften von mikrokristalliner Cellulose sowie kindgerechte Arzneiformen. Nach Pharmaziestudium und Promotion 1987 arbeitete er mehrere Jahre in der Pharmaindustrie und habilitierte sich dann 1997. Nach einer Gastprofessor an der Königlich Dänischen Hochschule für Pharmazie ist er seit 1998 Professor für Arzneiformenlehre.
Joachim Boos ist Universitätsprofessor für experimentelle pädiatrische Onkologie an der Universität Münster und leitet den Forschungsbereich der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie. Seine Forschungsinteressen betreffen die Pharmakologie von Zytostatika bei Kindern, klinische Studien bei Kindern, Therapeutisches Drug Monitoring sowie Pharmakokinetik und Populationskinetik. Boos ist Apotheker, Arzt und klinischer Pharmakologe und habilitierte sich 1994 für das Fach Kinderheilkunde.
Für die Verfasser
Dr. Jörg Breitkreutz
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Institut für Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie
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48149 Münster
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