Lahnstein II an der Spree |
23.06.2003 00:00 Uhr |
Ulla Schmidt war überrascht von so viel Harmonie. „Damit habe ich nicht gerechnet“, sagte die Gesundheitsministerin nach dem ersten Sondierungsgespräch zwischen Koalition und CDU/CSU. Jetzt ist klar: Alle Beteiligten wollen eine gemeinsame Reform. Der Fahrplan steht fest. Und es gibt bereits erste Überraschungen.
Insgesamt zehn Fachleute der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und CSU hatten sich am Dienstagmittag im Berliner Jakob-Kaiser-Haus hinter verschlossenen Türen erstmals zusammengesetzt, um die gegenseitige Bereitschaft zu Verhandlungen auszuloten. Heraus kam mehr als erwartet: ein konkreter Fahrplan und ein gemeinsames Ziel.
Das Personal war von den Partei- und Fraktionsspitzen sorgsam ausgewählt: Für die SPD nahmen neben Schmidt auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gudrun Schaich-Walch, der Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit und Soziales, Klaus Kirschner, und die gesundheitspolitische Sprecherin Helga Kühn-Mengel teil. Mit Horst Seehofer (CSU) waren die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU, Annette Widmann-Mauz, deren Kollege von der CSU, Wolfgang Zöller, und der sozialpolitische Sprecher der CDU, Andreas Storm, gekommen. Für die Grünen nahmen deren gesundheitspolitische Sprecherin Birgitt Bender sowie Thea Dückert teil.
Die FDP ist mächtig sauer, weil nicht im Verhandlungsgremium vertreten. Schaich-Walch und Schmidt wollen die FDP nicht am Tisch sitzen sehen, Seehofer deutete vor dem Treffen zwar an, man werde das Thema sicherlich auch besprechen. Doch auch in Zukunft bleiben die Liberalen außen vor.
Dass das Gremium – jenseits aller zur Schau getragenen positiven Erwartungshaltung – auch in seiner Zusammensetzung nicht unproblematisch ist, zeigte sich bereits bei den Statements nach der ersten Sitzung. Während die offiziellen Statements der Beteiligten von Schaich-Walch, Seehofer und Bender präsentiert wurden, hatte sich Schmidt in eine andere Ecke verzogen und stand dort Rede und Antwort.
Der erste Abschnitt der Verhandlungen wird die Erarbeitung politischer Reformen sein. Erstmals inhaltlich verhandeln werde man am Sonntag dieser Woche. Ort und Zeitpunkt waren am Dienstag noch unbekannt. Bis spätestens Juli wollen die Verhandlungspartner dann die politischen Grundlagen zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs geschaffen haben. Konsequenz dieser Ankündigung: Die für den 8. Juli 2003 angesetzte zweite und dritte Lesung des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG) wird ausgesetzt. Damit bleibt den Verhandlungspartnern deutlich mehr Zeit für intensive Gespräche. Noch nicht auf die Aussetzung festlegen wollte sich SPD-Fraktionschef Franz Müntefering. Er will sich erst nächste Woche, also nach der ersten Verhandlungsrunde, entscheiden.
Der zweite Teil wird dann darin bestehen, unter Federführung des Ministeriums und unter Einbeziehung der Bundesländer einen Gesetzentwurf zu produzieren, mit dem sich dann die zuständigen Gremien im September beschäftigen können. Seehofer wie auch Schaich-Walch kündigten an, man werde den Vorsitzenden der jeweiligen Parteien vorschlagen, von jeder Seite drei Bundesländer einzubringen, damit diese möglichst frühzeitig in die Beratungen eingebunden werden können.
Positivliste auf Eis gelegt
Dass beide Seiten ein echtes Interesse haben, verdeutlicht wohl auch, dass grundsätzliche Fragen, also technische Einzelheiten bis hin zur Auswahl von Protokollanten, bereits geklärt wurden. Seehofer: „Wir wollen gemeinsam und qualifiziert zu einer gemeinsamen Reform kommen, die wirtschaftlich ist und auch gerecht.“ Widmann-Mauz ergänzte: „Wir haben vereinbart, dass wir den Fraktionen vorschlagen wollen, die Verhandlungen nicht durch Beratungen im Parlament zu belasten.“ Deswegen wolle man sowohl die Positivliste als auch das Beitragssatzsicherungsgesetz von der Tagesordnung nehmen. Bender teilt die Meinung aller übrigen Gesprächsteilnehmer, dass man es schaffen könne, „das alles bis zum Herbst durchzubekommen“.
Seehofer garantierte den Regierungsparteien noch einmal öffentlich, dass man keine Verfahrenseinreden oder ähnliches betreiben wolle, wenn man sich ganz am Ende dann doch nicht habe einigen können. „Dann werden von uns keinerlei Verfahrenshindernisse aufgebaut.“ Das gelte auch für die Aussetzung des BSSichG-Entwurfs von Union und FDP sowie für die Aussetzung des Positivlisten-Entwurfs der Regierung, der eigentlich bereits am 1. Juli 2003 in Kraft treten sollte.
Die Anhörungen zum GMG, die am Montag dieser Woche in Berlin begonnen hatten, werden fortgesetzt. Deren Ergebnisse werden in die Verhandlungen einfließen.
Nach dem „offiziellen“ Start der inhaltlichen Verhandlungen am Sonntag wird man sich zweimal im Monat Juli für jeweils eine komplette Woche zusammensetzen, um Kompromisse zu finden. Schaich-Walch sagte, man wolle in „verschiedenen inhaltlichen Blöcken all das abarbeiten, was abzuarbeiten ist“. Der erste große Verhandlungsblock startet am 4. Juli. Zwei Wochen später wollen sich die Verhandlungspartner den zweiten Block vornehmen. Ende Juli sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein und die Ergebnisse den Parteien zur Beratung vorgelegt werden.
Schweigen ist Gold
Seehofer ließ am Dienstag keinen Zweifel, dass man „inhaltlich klare Vorstellungen“ habe. Man wolle die Positionen geschlossen in den Verhandlungen vertreten. Aber weder Seehofer noch Schmidt oder Schaich-Walch wollten sich auf Stellungnahmen zu Einzelfragen einlassen. Schaich-Walch unterstrich, dass als Verhandlungsgrundlage und damit inhaltliche Plattform der GMG-Gesetzentwurf sowie der Initiativantrag der Unions-Fraktion dienen.
Nach den Beratungen in den Parteien und Fraktionen, die während des Augusts stattfinden müssen, könnte das Gesetz bereits im September in den parlamentarischen Gremien beraten werden und spätestens Ende September oder Anfang Oktober auf den Weg gebracht werden.
Damit die Inhalte nicht frühzeitig und allzu breit öffentlich diskutiert werden, habe man sich „gegenseitig zugesichert, dass wir die Verhandlungen nicht mit inhaltlichen öffentlichen Erklärungen begleiten“, so Seehofer. Man werde auch in den kommenden Wochen nach den Verhandlungen keine Unterrichtungen durchführen, um den Ablauf nicht zu stören.
Seehofer baut auf seine Lahnstein-Erfahrungen, die er gemeinsam mit Kirschner gemacht hat: „Wir wollen bei aller Zügigkeit auch sehr sorgfältig und qualitativ hochwertig arbeiten.“ Und schließlich müssten die Verhandlungen in jedem Fall noch von den Gremien gebilligt werden.
Schmidt sprach vom „ernsthaften Bemühen beider Seiten zueinander zu kommen“. Schmidt werde die eigentlichen Verhandlungen abwechselnd mit Seehofer leiten. Ihr Ministerium werde die Termine organisieren. Die Ministerin macht keinen Hehl daraus, dass es fast keine Alternative zu einem erfolgreichen Verhandlungsverlauf gebe: „Es gibt kaum noch jemanden in Deutschland, der nicht weiß, dass wir eine Reform brauchen. Die Menschen erwarten das von uns.“ Die freundliche Atmosphäre sei ein gutes Zeichen. „Ob es gelingt, wird sich zeigen.“ Man sei bereit, über alle Themen zu sprechen.
In der SPD-Fraktion war man am Dienstagnachmittag über die ersten Signale nicht unglücklich. Die von mehr als 60 Abgeordneten der Fraktion angekündigte Initiative zur Milderung der Überbelastung von Apotheken durch das BSSichG wurde abgeblasen.
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