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Senioren profitieren besonders

26.05.2003  00:00 Uhr

PHARMAZIE

Klinische Pharmazie

Senioren profitieren besonders

 

von Axel Helmstädter, Lissabon

Wissenschaftlich versteht man unter „älteren Patienten“ meist solche über 65 Jahren. Davon erhalten 40 Prozent mehr als vier Medikamente gleichzeitig; die meisten nehmen zusätzlich zwei bis drei Nahrungsergänzungsmittel ein. Dadurch ergibt sich eine Komplexität der Arzneimitteltherapie, die ohne professionelle pharmazeutische Hilfe für die meisten Betroffenen kaum noch überschaubar ist.

Die Vereinfachung von Dosisregimen, die Stärkung der Compliance und die Vermeidung von Nebenwirkungen sind zentrale Anliegen klinisch-pharmazeutischer Dienstleistungen. Dabei sind zielgruppenspezifische pharmakokinetische und pharmakodynamische Parameter ebenso zu beachten wie kognitive oder motorische Einschränkungen beim älteren Patienten. Mit wissenschaftlichen Grundlagen und Strategien für die Praxis beschäftigte sich der vierte Frühjahrskongress der European Society of Clinical Pharmacy (ESCP) Mitte Mai in Lissabon.

Nach Ansicht des Niederländers Dr. Foppe van Mil machen Senioren den größten Anteil derjenigen Patienten aus, die pharmazeutischer Betreuung bedürfen. Ihre Medikation besteht nicht selten aus zahlreichen Präparaten und sie werden oft von mehr als einem Arzt behandelt, wobei unklar bleibt, wer die Gesamtverantwortung für die Therapie trägt. Erfahrungsgemäß sind polypharmazeutische Behandlungsregime und weniger das Alter als solches Hauptursache für einen Anstieg arzneimittelbezogener Probleme, die Studien zufolge in 15 bis 40 Prozent der über 65jährigen Patienten auftreten. Zudem sollte man manche ältere Patienten infolge nachlassenden Erinnerungsvermögens oder schwacher Sehkraft nicht mit ärztlichen Anweisungen und klein gedruckten Beipackzetteln alleine lassen. Veränderungen in Pharmakokinetik und Wirkungsweise einzelner Arzneistoffe sind zusätzlich zu beachten.

Physiologische Veränderungen

Allerdings, so Professor Amilcar Falcao, Coimbra, Portugal, ist das chronologische Alter ein wenig geeigneter Parameter, um auf die metabolische Leistung von Organen zu schließen, schließlich gibt es große Unterschiede in der körperlichen Verfassung Gleichaltriger. Dringend erforderlich wären Kriterien, die es erlauben, Organfunktionen abzuschätzen, wie es beispielsweise mit Hilfe des APGAR-Scores bei Neugeborenen geschieht. Damit käme man der Bestimmung des eigentlich relevanten „biologischen Alters“ näher. Mit fortschreitendem Lebensalter, allerdings im Einzelfall früher oder später, treten bestimmte physiologische Veränderungen auf; manche haben einen großen Einfluss auf die Wirkung von Arzneimitteln. Im Sinne einer Faustregel kann man davon ausgehen, dass die Ausscheidungskapazität für Arzneistoffe mit dem Alter deutlich abnimmt.

Während das Freisetzungs- und Resorptionsverhalten der Wirkstoffe gewöhnlich unverändert ist, kommt der Metabolisierungskapazität der Leber eine große Bedeutung zu; enzymatische Reaktionen der Phase I sind deutlich verlangsamt. Verringertes Körpergewicht, ein zugunsten des Körperfettanteils reduzierter Wassergehalt und eine schwächere Auswurfleistung des Herzens haben einen großen Einfluss auf Verteilungsvorgänge. Auch ein um 15 bis 20-prozentiger Verlust am Plasmaalbumin kann sich entsprechend auswirken. So verdoppelt sich die Halbwertszeit des lipophilen Wirkstoffs Diazepam im Laufe des Lebens.

Besondere Schwierigkeiten bereitet es, die Nierenleistung älterer Menschen abzuschätzen, die ebenfalls mit dem Alter abnimmt. Infolge des absolut sinkenden Creatinin-Gehaltes im Blut bleibt der leicht zu bestimmende Parameter Serum-Creatinin noch lange Zeit konstant, auch wenn die Nierenleistung schon deutlich abgenommen hat. Auch die Abschätzung der Glomerulären Filtrationsrate nach der Formel von Cockcroft and Gault führt dann in die Irre.

Kinetik und Dynamik

Arzneimittelwirkungen sind immer das Produkt aus pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Effekten. Professor Hartmut Derendorf, Gainesville, USA, wies in seinem Vortrag auf große Defizite in der Erforschung altersabhängiger Pharmakodynamik hin. Dabei kommt es darauf an, eine veränderte Empfindlichkeit physiologischer Systeme gegenüber Arzneistoffen nachzuweisen. Bis jetzt kann man nicht einmal für einzelne Substanzklassen allgemein gültige Regeln formulieren, wie Derendorf am Beispiel der Benzodiazepine zeigte. Während sich bei Alprazolam weder pharmakokinetische noch pharmakodynamische Parameter ändern, benötigen ältere Patienten wesentlich geringere Dosen von Midazolam und Diazepam. Bei letzterem sind es sowohl kinetische als auch dynamische Effekte, die eine Dosisreduktion bedingen; bei Midazolam, das keine Veränderungen in der Pharmakokinetik zeigt, geht die Wirkungsverstärkung allein auf pharmakodynamische Effekte zurück. Sie haben gewöhnlich stärkere Auswirkungen auf die Therapie als die Kinetik, wie etwa beim Wirkstoff Allopurinol: Der Effekt des Urikostatikums nimmt im Alter sogar ab, obwohl pharmakokinetische Daten das Gegenteil erwarten lassen. Ähnlich ist auch Morphin zu beurteilen; seine Halbwertszeit ist im Alter reduziert, doch wird der Effekt durch eine höhere Empfindlichkeit des Körpers für den Wirkstoff überkompensiert.

Arzneimitteltherapie koordinieren

Noch wichtiger als solche Kenntnisse sind in der Praxis Techniken, die die Compliance der Patienten verbessern. Gerade hoch Betagte haben mit der Koordination ihrer Pharmakotherapie erhebliche Schwierigkeiten. Ein wichtiges Prinzip ist, die Arzneimitteleinnahme schon bei der Verordnung so einfach wie möglich zu gestalten; eventuell muss man sich auf die Behandlung der wichtigsten Beschwerden beschränken und rein altersbedingte, leichtere Symptome unbehandelt lassen. Der Auswahl der Fertigarzneimittel und Arzneiformen kommt ebenfalls eine große Bedeutung zu. Da viele ältere Patienten schlecht sehen, sind leicht unterscheidbare Darreichungsformen zu bevorzugen; nach einer französischen Studie erkennen 74 Prozent älterer Patienten ihre Medikation an Form und Farbe und achten nicht auf die Angaben auf Packungen und Blister; ein ständiger Wechsel des Generikums wird also unweigerlich zu großer Verwirrung führen.

Bei der Verschreibung oder in der Apotheke ist abzuklären, ob die Arzneimittel leicht geschluckt werden können; viele Patienten haben damit Schwierigkeiten und vermeiden daher die Einnahme oder greifen zu wenig geeigneten Verfahren wie der Zerkleinerung von Retardtabletten, dem Öffnen von Kapseln, dem Vermischen mit Nahrung oder zum Suspendieren aller Medikamente zusammen in einem trinkbaren „Cocktail“. In französischen Krankenhäusern werden bis zu 40 Prozent der Arzneiformen meist wegen Schluckschwierigkeiten der Patienten vor der Einnahme manipuliert; dies sollte durch sachgerechte klinisch-pharmazeutische Interventionen zu verhindern sein. Die Arzneimitteleinnahme kann durch Herrichten der Medikation in Behältern mit Wochentags- und Zeiteinteilung strukturiert werden.

Eine beim Kongress vorgestellte spanische Untersuchung wies nach, dass dadurch in Verbindung mit pharmazeutischer Beratung die Compliance über 65-jähriger auf bis zu 100 Prozent gesteigert werden kann. Allerdings sollten die Arzneiformen soweit aus Haltbarkeitsgründen vertretbar, in einnahmefertiger Form und nicht etwa in zerschnittenen Blisterpackungen vorgehalten werden. Es ist mehrfach vorgekommen, dass sehbehinderte Patienten die Tabletten mit samt ihrer scharfkantigen Umhüllung eingenommen haben.

Nebenwirkung Geschmackssache

Nicht gesundheitsschädliche, aber unangenehme Nebenwirkungen wie zum Beispiel Geschmacksstörungen können ebenfalls dazu beitragen, die Compliance zu schwächen. Eine Studie in der geriatrischen Abteilung eines französischen Krankenhauses zeigte, dass 95 Prozent der im Schnitt 7.8 Arzneimittel umfassenden Verschreibungen mindestens einen Stoff enthielten, der Geschmacksstörungen hervorrufen kann. Zu erwähnen sind besonders Fluorochinolone, Metronidazol, Amiodaron, ACE-Hemmer, Calciumantagonisten, Sulfonylharnstoffe und das Sedativum Zopiclon. Obwohl sensorische Störungen gewöhnlich nicht zu den schwerwiegenden Nebenwirkungen zählen, können Sie die Compliance und den Therapieerfolg gefährden sowie Appetitlosigkeit hervorrufen.

Antidepressiva im Alter

Möglichkeiten und Grenzen eines Therapeutischen Drug Monitorings von Antidepressiva und Antipsychotika zeigte Privatdozent Dr. Sebastian Härtter auf. Der habilitierte Apotheker arbeitet an der psychiatrischen Universitätsklinik in Mainz und entwickelte dort Messung und Interpretation der Serumkonzentrationen von Psychopharmaka bis zur Routineanwendung. Allerdings gibt es, anders als etwa für Aminoglykoside oder Theophyllin, keine eindeutige Dosis-Wirkungsbeziehung; manche Patienten reagieren auf bestimmte Wirkstoffe sehr schnell, andere hingegen überhaupt nicht. Meist beobachtet man ein Plateau in der Konzentrations-Wirkungskurve: eine gewisse Menge ist für die Wirkung erforderlich, eine weitere Dosiserhöhung bringt eher wieder Nachteile. Dennoch können Serumuntersuchungen wertvolle Hinweise zur Therapie geben. Die Ergebnisse dienen zur Kontrolle der Compliance, zur Dosisfindung sowie zur Bewertung von unerwünschten Wirkungen und Interaktionen, für die manche Antidepressiva wegen ihrer Hemmwirkung auf Cytochrom-Isoenzyme sehr anfällig sind. Erneut profitieren ältere Patienten in besonderem Maße; bislang, so der Referent, sind weniger als 10 Prozent der an Depressionen leidenden Senioren adäquat behandelt. Neuere Substanzen haben gegenüber den trizyklischen Antidepressiva deutliche Vorteile, bevorzugt werden sollte wegen der geringen Gefahr von Nebenwirkungen und Interaktionen das Citalopram. Besonderes geachtet werden muss aber auch hier auf eine vor allem bei älteren Menschen auftretende, gefährliche Nebenwirkung, das „Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion“, das sich in pathologisch niedrigen Natrium-Blutspiegeln zu erkennen gibt.

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