Nahrungsergänzung mit Vitaminen noch umstritten |
05.05.2003 00:00 Uhr |
Menschen mit einem hohen Risiko für Gefäßkrankheiten haben auch häufig erhöhte Homocysteinwerte. Aber gibt es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zwischen der toxischen Aminosäure und den Erkrankungen? Die Vertreter der neu gegründeten DACH-Liga Homocystein beantworten diese Frage mit einem klaren „ja“ und empfehlen zumindest Risikogruppen die Supplementation mit Folat und B-Vitaminen.
Gesunden Menschen wollte Professor Dr. Wolfgang Herrmann vom Zentrallabor der Universitätskliniken des Saarlandes in Homburg, Mitglied der DACH-Liga Homocystein (siehe Kasten), noch nicht generell zur Nahrungsergänzung mit Vitaminen raten. Die Supplementation sei aber eine empfehlenswerte Option im Sinne einer Prophylaxe, sagte er während einer Pressekonferenz anlässlich der „3rd Conference on Hyperhomocysteinemia“ am 11. April in Saarbrücken.
DACH-Liga Homocystein Die neu gegründete DACH-Liga Homocystein ist ein eingeschriebener Verein, zu dem sich Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (D.A.CH.-Länder) zusammengefunden haben. Sie wollen Forschung und Information zu Homocystein fördern, besonders im Bereich Diagnostik, Therapie und Prävention. Die DACH-Liga Homocystein hat jetzt Richtlinien und Empfehlungen erarbeitet, die die Beurteilung von Homocystein und Folsäure in Zusammenhang mit der Behandlung kardiovaskulärer und thrombotischer Erkrankungen erleichtern sollen. Die erste Version dieser Richtlinien ist gerade erschienen und wurde während der Homocystein-Konferenz in Saarbrücken erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Konsensuspapier ist abrufbar unter www.dach-liga-homocystein.org.
Bei Homocystein handelt es sich um ein schwefelhaltiges Zwischenprodukt im Stoffwechsel von Methionin. Neben der Versorgung mit der essenziellen Aminosäure dient der Stoffwechselzyklus auch als Methylgruppenquelle für viele biologische Reaktionen.
Zwei verschiedene Stoffwechselwege halten die Homocysteinspiegel in der Zelle niedrig. Homocystein wird zum einen von der Methionin-Synthase in Methionin umgewandelt. Dafür ist als Kofaktor Vitamin B12 sowie Folsäure nötig. Zum anderen wird es in einer von Vitamin-B6-abhängigen Reaktion zu Cystein abgebaut. Fehlen die Vitamine oder sind Enzymaktivitäten eingeschränkt, wird weniger Homocystein abgebaut, und die intrazelluläre Konzentration des Stoffwechselprodukts steigt an. Da Homocystein zelltoxisch ist, wird es mit steigenden Spiegeln aus der Zelle exportiert und lässt sich im Plasma nachweisen.
Dass extrem hohe Homocysteinspiegel im Plasma gefäßschädigend wirken, stellte sich bereits in den 60er-Jahren heraus. Bei Patienten mit einem schweren genetischen Defekt der Cystathionin-b-Synthetase wiesen Wissenschaftler hohe Spiegel des Stoffwechselproduktes nach. Kinder mit dieser erblich bedingten Stoffwechselstörung, auch Homocystinurie genannt, bleiben geistig zurück, leiden früh unter Arteriosklerose und häufig unter Thromboembolien.
Erhöhte Spiegel bei Gefäßkrankheiten
Später untersuchten Forscher anhand von retrospektiven epidemiologischen Studien die Auswirkungen leicht erhöhter Homocysteinspiegel, wie sie bei 5 bis 10 Prozent der Allgemeinbevölkerung auftreten. Bis zu 40 Prozent der Patienten mit Gefäßerkrankungen wiesen solche moderat erhöhten Homocysteinspiegel auf. Bei ihnen traten Herzinfarkte, Schlaganfälle sowie Thromboembolien deutlich häufiger auf. Diese Zusammenhänge beobachteten Wissenschaftler inzwischen auch bei Kindern. Ein erhöhter Homocysteinspiegel gilt auch bei ihnen als Risikofaktor für Schlaganfälle.
Neuerdings weisen Studien auch auf Zusammenhänge zwischen erhöhtem Homocystein und neuropsychiatrischen Störungen sowie reduzierten kognitiven Funktionen, vor allem bei älteren Menschen, hin. So zeigte kürzlich die Datenauswertung von mehr als 1000 Teilnehmern der Framingham-Studie, dass erhöhte Homocysteinspiegel ein starker, unabhängiger Risikofaktor für Demenz und Alzheimer sind.
Bei schwangeren Frauen korreliert ein erhöhter Homocysteinwert mit Komplikationen während der Schwangerschaft. Außerdem bringen sie häufiger Kinder mit Neuralrohrdefekten zur Welt.
Nicht alle prospektiv angelegten Studien konnten diese Korrelationen jedoch bestätigen. Trotzdem gilt Homocystein heute als unabhängiger Risikofaktor für Gefäßkrankheiten und die Gesamtmortalität. Etwa 10 Prozent des Gesamtrisikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen schreiben Wissenschaftler dem Homocystein zu. Erhöhte Homocysteinspiegel wirken sich demnach ähnlich negativ aus wie Rauchen und erhöhte Cholesterolspiegel. Ob die toxische Aminosäure jedoch ursächlich an der Entstehung der Erkrankungen beteiligt oder zum Beispiel nur ein Parameter für einen insgesamt ungesunden Lebensstil ist, bleibt nach Meinung einiger Experten jedoch weiterhin unklar.
Von moderat erhöhten Homocysteinspiegeln sprechen die Fachleute inzwischen, wenn der Wert 12 µmol pro Liter überschreitet. Allerdings gibt es keinen Schwellenwert, ab dem Homocystein zum Beispiel gefäßschädigend wirkt. Eine Erhöhung des kardiovaskulären Risikos lässt sich ab einem Homocysteinwert von etwa 9 µmol pro Liter in einer linearen Dosis-Wirkungsbeziehung darstellen.
Oxidativer Stress
Wie schädigt Homocystein die Gefäße? Kardiovaskuläre Zellen können Homocystein nicht zu Cystein abbauen. Damit ist der Homocysteinmetabolismus in diesem Gewebe ausschließlich auf die Vitamin-B12-abhängige Methylierung zu Methionin angewiesen. Daher gilt das kardiovaskuläre System als besonders empfindlich für Homocystein-Erhöhungen. Dies scheint Veränderungen in der Gefäßmorphologie zur Folge zu haben, Entzündungsprozesse zu stimulieren, das Endothel sowie die Gerinnungskaskade zu aktivieren und die Fibrinolyse zu hemmen. Insgesamt entsteht dadurch ein prokoagulatorisches Milieu. Ursache der Störungen ist durch Homocystein vermittelter oxidativer Stress, vermuten die Experten. Andere Risikofaktoren wie Rauchen, arterieller Hypertonus und Hyperlipidämie wirken offenbar synergistisch.
Generell steigen die Homocysteinwerte im Alter an, wahrscheinlich wegen geringerer Aufnahme von Vitaminen und der Abnahme der Nierenfunktion. In jüngeren Jahren haben Männer normalerweise höhere Werte als Frauen, nach der Menopause gleichen sich die Spiegel an. Außerdem bestimmen genetische Faktoren den Homocysteinspiegel. So ist bei 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung ein Enzym im Folatstoffwechsel genetisch verändert. Die Betroffenen reagieren besonders empfindlich auf Folatmangel mit erhöhten Homocysteinspiegeln. Auch Rauchen, starker Alkoholkonsum sowie bestimmte Medikamente (Methotrexat, Antiepileptika, Theophyllin et cetera) sorgen für erhöhte Spiegel der toxischen Aminosäure. Als mit Abstand häufigste Ursache für erhöhte Homocysteinwerte gilt jedoch die Unterversorgung mit Folat, Vitamin B6 und B12 (siehe Kasten).
Vitaminmangel Folatmangel gilt als häufigster Vitaminmangel in Europa. Er entsteht durch Mangel an frischem Obst und Gemüse. Folatquellen sind grüne Gemüse, Getreideprodukte, Obst, Hefe und in eingeschränktem Maß auch Leber. Folat ist jedoch hitze-, lagerungs- und lichtempfindlich. Bis zu 90 Prozent der Folate können daher bei der Verarbeitung von Lebensmitteln verloren gehen. Die mittlere tägliche Zufuhr sollte 350 bis 400 Mikrogramm Folatäquivalente (1 µg Folatäquivalent entspricht 1 µg Nahrungsfolat oder wegen der besseren Bioverfügbarkeit 0,5 µg synthetischer Folsäure) betragen. Da dies kaum jemand erreicht, haben zum Beispiel die Vereinigten Staaten schon begonnen, Mehl Folat beizumischen. Auch in Deutschland und der Schweiz wird diese Option derzeit von Fachleuten diskutiert.
Vitamin B12 wird in der Regel im Überschuss aufgenommen. Trotzdem tritt ein B12-Mangel bei bis zu 30 bis 40 Prozent der älteren Menschen auf. Ursache ist die unzureichende Resorption in höherem Alter. Vitamin B12 kann nur von Bakterien synthetisiert werden und wird daher vor allem über tierische Nahrungsmittel wie Fisch, Fleisch, Eier und Milchprodukte aufgenommen. Vitamin B12 ist verhältnismäßig stabil und wird durch die Nahrungsmittelzubereitung kaum zerstört.
Vitamin B6 ist vor allem in Fleisch, Milch- und Vollkornprodukten, Kartoffeln, Obst und Gemüse enthalten.
Nicht geklärt ist jedoch, ob man mit Supplementation der Vitamine tatsächlich kardiovaskuläre Ereignisse oder gar Todesfälle verhindern kann. Auch ob die Einnahme von Vitamin-Präparaten Einfluss auf den kognitiven Verfall nimmt, bleibt offen. Groß angelegte Studien, die diese Fragen beantworten sollen, haben zwar begonnen, die Ergebnisse lassen allerdings noch auf sich warten. Daher ziehen es einige Wissenschaftler vor, erhöhte Homocysteinwerte als Risikomarker anstatt als Risikofaktor zu bezeichnen.
Die Wissenschaftler, die sich für eine Vitamin-Supplementation aussprechen, führen jedoch kleinere Studien ins Feld, um zumindest Risikopersonen und Patienten mit manifesten Gefäßkrankheiten die Einnahme der Vitamine ans Herz zu legen. So hatte eine Untersuchung mit 101 Patienten gezeigt, dass sich unter der Vitamintherapie die Fläche atherosklerotischer Plaques in den Karotiden verringert. Außerdem verhinderte die Vitamingabe bei einer placebokontrollierten Studie mit 205 Patienten die Restenoserate nach Koronarangioplastie um 50 Prozent. Einige Studien belegen, dass die alleinige Senkung des Homocysteinspiegels den Blutdruck senkt, andere bleiben diesen Nachweis jedoch schuldig. Nach theoretischen Berechnungen mit Hilfe von Metaanalysen ließe sich die Inzidenz von venösen Thrombosen, zerebralen Insulten und der Mortalität durch koronare Herzkrankheiten um 25 Prozent reduzieren, würde der Homocysteinspiegel um 3 bis 5 µmol pro Liter gesenkt.
Empfehlungen zur Vitamineinnahme
Daher empfiehlt die DACH-Liga Homocystein Patienten mit einer manifesten Gefäßerkrankung die Messung des Homocysteinwerts und anschließend die Therapie mit 0,2 bis 0,8 Milligramm Folsäure, 3 bis 30 Mikrogramm Vitamin B12 (bei über 60-Jährigen 100 Mikrogramm) sowie 2 bis 6 Milligramm Vitamin B6 zur Prophylaxe. Menschen mit erhöhtem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten ebenfalls den Homocysteinwert bestimmen lassen. Liegt er über 10 µmol pro Liter, sollten auch sie die gleichen Mengen an Vitaminen zu sich nehmen, so die DACH-Liga Homocystein.
Vegetarier haben erhöhte Homocysteinspiegel Sowohl Veganer als auch Lacto- sowie Ovo-Lacto-Vegetarier haben häufig erhöhte Homocysteinspiegel. So wiesen in einer Studie mit 95 Vegetariern und 75 Personen, die auch Fleisch aßen, 33 Prozent der Ovo-Lacto- und Lacto-Vegetarier sowie 55 Prozent der Veganer erhöhte Homocysteinspiegel auf – im Vergleich zu 16 Prozent der sich normal ernährenden Probanden. Zudem stellten die Wissenschaftler bei Veganern die niedrigsten Vitamin-B12-Spiegel fest. Auch die Kinder von Vegetarierinnen werden über die Muttermilch nicht ausreichend mit Vitamin-B12 versorgt. Dabei gilt: Je länger sich die Mutter bereits vegetarisch ernährt hat, desto geringer sind die B12-Konzentrationen in der Muttermilch.
Bei Vegetariern gleiche jedoch die insgesamt wesentlich gesündere Lebensweise die hohen Homocysteinspiegel aus, hieß es während der Pressekonferenz. Allerdings könnten Vegetarier, besonders Veganer, mit Vitaminsupplementen zum Beispiel einer Demenz vorbeugen. Dabei reiche es jedoch nicht aus, ausschließlich Folat einzunehmen, Vegetarier sollten zusätzlich vor allem Vitamin B12, aber auch B6 einnehmen, sagte Herrmann.
Zu den Risikogruppen zählen Menschen mit einer positiven Familienanamnese für kardiovaskuläre Erkrankungen, Patienten mit arteriellem Hypertonus oder Hyperlipidämie, Diabetes oder metabolischem Syndrom, Niereninsuffizienz sowie Raucher. Therapieziel sei, bei Patienten mit manifesten Gefäßerkrankungen und bei den Risikogruppen den Homocysteinwert auf unter 10 µmol pro Liter zu senken. Der Therapieerfolg muss nach vier bis sechs Wochen kontrolliert werden. Tritt er nicht ein, sollten die Vitamindosen erhöht werden.
Gesunden über 50-Jährigen und Risikogruppen für Vitaminmangel wie alte Menschen, Vegetarier, Patienten mit entzündlichen Magen-Darm- oder Nierenerkrankungen empfiehlt die Dach-Liga Homocystein die frühzeitige Bestimmung des Homocysteinwerts. Liegt er über 12 µmol pro Liter, gilt die Prophylaxe mit den Vitaminen als Option. Generelle Empfehlungen für die Vitaminsupplementation Gesunder beziehungsweise Personen mit niedrigem Risikoprofil will die DACH-Liga Homocystein mangels Studienergebnissen allerdings noch nicht geben. Prinzipiell sei zu beachten, dass die ausschließliche Folatsupplementation für die Senkung der Homocysteinspiegel nicht ausreicht, zumindest Vitamin B12 sei ebenso nötig. Fehlt Vitamin B12, kann Folat nicht regeneriert werden. Dadurch erhöhen sich die Homocysteinwerte und trotz ausreichender Folsäurewerte im Plasma, kommt es zu einem funktionellen Folatmangel (Folatfalle).
Ernährungsumstellung
Sicherlich könne man einem Vitamindefizit auch mit einer gesunden Ernährung vorbeugen, aber die Empfehlung, 700 Gramm Obst und Gemüse pro Tag zu sich zu nehmen, sei ja wohl kaum umzusetzen, meinte Herrmann. Da scheint die Einnahme von Vitaminpräparaten doch viel einfacher. Besonders teuer sei die medikamentöse Supplementation auch nicht, ein Zuviel werde einfach ausgeschieden, daher gelte die Einnahme der Vitamine als sicher - bei einem zu erwartendem großen Nutzen.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sieht das anders. Zwar werde derzeit die Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure diskutiert, wie es etwa in den Vereinigten Staaten bereits geschieht. Dies jedoch nur, weil die Versorgung mit Folat mit einer normalen Ernährung kaum zu erreichen ist und sich mit einer Folatanreicherung der Lebensmittel nachgewiesenermaßen Neuralrohrdefekte bei Neugeborenen verhindern lassen. Auch die Supplementation von Vitamin B12 bei älteren Menschen, die unter einem nachgewiesenen B12-Mangel leiden, unterstützt die DGE. Die Organisation spricht sich allerdings gegen eine breite Streuung von Vitaminpräparaten zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen aus, hieß es auf Anfrage der PZ. Wegen der fehlenden Studien und weil eine gesunde Ernährung neben einer Senkung des Homocysteinspiegels noch weitere günstige Effekte habe, die man nicht mit der alleinigen Einnahme einzelner Vitamine ausgleichen kann.
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