Zwei Nullen machen Ärger |
29.03.1999 00:00 Uhr |
Computerpraxis
JAHR-2000-PROBLEM
Wenn sich am Silvesterabend 1999 der Uhrzeiger gen Mitternacht bewegt, wird bei EDV-Experten der Adrenalinspiegel deutlich steigen. Denn niemand kann genau vorhersehen, ob unsere Mikrochip-gesteuerte Welt den Sprung ins nächste Jahrtausend problemlos schafft.
Schuld daran sind zwei Nullen, die - wenn sie allein für die Datumsangabe in einem Computerprogramm verantwortlich sind - ihre zugedachte Aufgabe nicht ordentlich erfüllen. Der Computer interpretiert die Jahresangabe "00" nicht als 2000, sondern 1900. Es ist zu befürchten, daß manche Programme nach dieser virtuellen Zeitreise ihren Dienst quittieren werden. Soft- und Hardware, die mit vierstelligen Jahresangaben arbeiten, dürften nach Expertenmeinung dagegen keine Probleme mit dem Jahrtausendwechsel haben.
Besondere Kopfschmerzen bereitet es den Fachleuten, daß sie die Ausmaße des Jahr-2000-Problems nicht richtig abschätzen können. Auch wenn die Botschafter der Apokalypse, die Szenarios wie den versehentlichen Abschuß russischer Atomraketen oder einen globalen Zusammenbruch des Flugverkehrs befürchten, wohl nicht Recht behalten werden, möchte niemand den regionalen Ausfall der Stromversorgung so recht ausschließen.
Die größten Probleme werden nach einhelliger Expertenmeinung Mikroprozessoren und Mikrochips bereiten. Diese sogenannten "embedded systems" sind in den Steuerungseinheiten technischer Anlagen und Geräte versteckt. Sie finden sich nicht nur in Maschinensteuerungen, elektronischen Zugangssytemen oder Alarmanlagen, sondern auch in so profanen Dingen wie Funkuhren oder Faxgeräten.
Nach Einschätzung der hessischen Technologiestiftung kann eine fehlerhafte Datumsinterpretation solcher Prozessoren zum Absturz des gesamten Systems führen. In einer Untersuchung kam die Technologiestiftung zu dem Schluß, daß bei 2 bis 5 Prozent der Produktionsanlagen ein Jahr-2000-Fehler zum Ausfall der Anlage führen wird.
Auch wenn die Zahl der gefährdeten Systeme nicht allzu groß ist. Wenn sich ein Mikroprozessor an einer sensiblen Stelle am Neujahrstag nicht im nächsten Jahrtausend, sondern in Kaiser Wilhelms Zeiten wähnt, kann dies auch für die medizinische Notfallversorgung fatal sein. Das Versagen eines Informationssystems in einer Krankenhaus-Intensivstation könnte im Extremfall sogar Menschenleben gefährden, befürchtet das Bundesministerium für Forschung und Bildung auf seinen Internetseiten zum Jahr-2000-Problem. So sei es denkbar, "daß die Computersteuerung wichtige, lebenserhaltende Systeme abschaltet, da nach einem Datumswechsel vermeintlich das Wartungsintervall um 100 Jahre überschritten wurde".
Die Gefahr bei "embedded systems" ist zwar erkannt, gebannt ist sie jedoch keineswegs: Es gibt einfach zu viele solcher Chips. Erschwerend kommt hinzu, daß einige aus der EDV-Steinzeit stammen und selbst Fachleute die Datums-relevanten Angaben aus den Hieroglyphen antiker Programmierkunst nur mühsam herauslesen können. So kommt das Forschungsministerium auch zu der deprimierenden Erkenntnis, daß "eine vollständige Prüfung der Jahr-2000-Fähigkeit von Informationssystemen ... mit technisch und wirtschaftlich vertretbarem Aufwand nicht möglich ist".
Weniger gefährdet sind dagegen private Computer und deren Software. Zumindest bei neueren Geräten sind die Probleme überschaubar. Liebhaber von älteren PCs werden sich dagegen möglicherweise von ihrem in die Jahre gekommenen Gerät verabschieden müssen.
Neue Betriebsysteme und Computerprogramme sind ebenfalls nicht oder kaum gefährdet. So muß bei Windows 95 und Windows NT gegebenenfalls das Datumsformat in eine vierstellige Jahresangabe korrigiert werden (über Start-Einstellungen-Systemsteuerung-Ländereinstellungen-Datum-Kurzes Datumsformat auf TT.MM.JJJJ). Erste Hilfe finden Ängstliche bei den Universitäts-Rechenzentren. Auf ihren Internetseiten informieren diese über die Jahr-2000-Fähigkeit gängiger Software. Sehr hilfreich ist das Angebot des Würzburger Rechenzentrums.
Glaubt man den Herstellern von Apothekensoftware, müssen sich die Apotheker kaum Sorgen machen. Gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung zeigten sich die Softwarehäuser zuversichtlich, daß ihre Programme den Jahreswechsel ohne Probleme überstehen. Absolute Sicherheit können freilich auch sie nicht versprechen, wenn die Software noch auf alten PCs läuft.
So erklärt Wolfgang Trapp, Bereichsleiter bei Cida, Darmstadt: "Im allgemeinen gibt es keine Probleme, wir schicken unseren Kunden eine Testdiskette, im Einzelfall muß per Hand umgestellt werden." Für 286/386-Rechner will er, wie andere Softwarehäuser auch, keine Gewähr übernehmen. Diese Rechner müßten möglicherweise entsorgt werden.
Lauer Fischer versichert auf der Homepage, das Haus sei "auf diese Herausforderung bestens vorbereitet." Der Software-Wartungsvertrag decke alle Arbeiten ab, die für die Softwareumstellung notwendig seien. Den Apotheker koste das nichts. Die Hardware müsse "nach heutigem Kenntnisstand" nicht umgestellt werden.
Auch Asys, Oberhausen, bezeichnet seine Programme als Jahr-2000-fähig. In einem Schreiben teilt das Unternehmen mit, daß alle Programme getestet sind und die Anpassung mit der Auslieferung eines "Jahr-2000-Upgrades" abgeschlossen sei. Das Unternehmen bietet zudem Informationsveranstaltungen für seine Kunden an.
Ähnlich äußerte sich Dr. Ing. Stahl, Bietigheim, die ebenfalls nur bei alten Rechnern Probleme sehen. Und auch die anderen befragten Unternehmen (CSE, Pharmatechnik, ADG) erwarten keine Schwierigkeiten beim Jahrtausendwechsel - immer mit der Einschränkung, daß die Programme auf neuen PCs laufen.
Das Apothekenrechenzentrum ARZ Haan gibt nur für das Warenbewirtschaftungsprogramm AIDA 2 uneingeschränkt grünes Licht. Beim älteren AIDA müsse eventuell umgestellt werden. Eine potentielle Schwachstelle sieht das Rechenzentrum ebenfalls in zu alter Hardware. Das Unternehmen will daher Testdisketten an die Kunden schicken. Apothekerinnen und Apotheker können damit ihren Computer auf Jahr-2000-Fähigkeit überprüfen. Das Testprotokoll sollten sie zudem ans ARZ schicken.
Arbeitsgruppen in verschiedenen Geschäftsbereichen der ABDA - Bundesvereinigung deutscher Apothekerverbände beschäftigen sich ebenfalls mit möglichen Schwierigkeiten beim Jahrtausendwechsel. Im Moment läuft die interne Abstimmung der Beteiligten, für Mitte April ist ein Treffen mit den Softwarehäusern anberaumt.
Auch wenn nach heutigem Wissensstand die Apotheker wohl mit einiger Gelassenheit auf den 1. Januar 2000 blicken können, mit einem Restrisiko müssen auch sie leben. Denn von einem zumindest theoretisch möglichen Stromausfall wären auch sie betroffen. Den Ausfall von Ampelanlagen oder Verkehrsleitsystemen will auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung nicht gänzlich ausschließen. Logistische Probleme sind deshalb zumindest denkbar.
Die Belastungen für die Industrie sind in jedem Fall größer. So bezifferte Bayer-Vorstandschef Dr. Manfred Schneider auf der Bilanzpressekonferenz am 16. März die Gesamtkosten der Umstellung für den Konzern auf rund 400 Millionen DM. Er kündigte an, daß besonders gefährdete Anlagen zum Jahreswechsel abgeschaltet werden sollten.
BASF fürchtet vor allem um seine Anlagen in Brasilien, hier seien größere Probleme zu erwarten, hieß es auf der Bilanzpressekonferenz am 15. März. Unter Berufung auf eine amerikanische Untersuchung beziffert das Bundesministerium für Wissenschaft und Bildung die globalen Kosten auf 300 bis 600 Milliarden Dollar.
Wie es auch kommen wird, Leidtragende der Jahrtausendwende werden zumindest die Mitarbeiter von EDV-Abteilungen sein. Sie müssen sich wohl keine Gedanken machen, ob sie das historische Ereignis in New York, Rio oder an einem anderen exponierten Ort verbringen wollen. Die meisten von ihnen dürften in einem klimatisierten Raum sitzen und unabhängig von der Zimmertemperatur schwitzen, ob das datenverarbeitende Ungetüm neben ihnen weiterschnurrt, wenn draußen die ersten Raketen in die Luft steigen.
In die Luft steigen wir nach Agenturmeldungen auch der australische Premierminister John Howard. An Bord eines Flugzeuges will er beweisen, daß es nicht zum Zusammenbruch der Flugüberwachung kommt. Manager von British Airways und der chinesischen Fluggesellschaft planen ebenfalls, den Jahreswechsel im Flugzeug zu verbringen. Ob Vertrauen in die Technik oder Ignoranz die Triebfeder dieser Menschen ist, wird sich am 1. Januar 2000 zeigen.
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