Stiller Hungertod im Alter |
23.02.2004 00:00 Uhr |
Mangelernährung bei geriatrischen Patienten ist ein häufig stiefmütterlich behandeltes Problem. Sie müsse aber frühzeitig erkannt und therapiert werden, um einen vorzeitigen Tod der Betroffenen zu verhindern, warnten Ernährungsmediziner in Berlin.
„Von Patienten über 70 Jahren sind etwa 50 Prozent als mangelernährt zu bezeichnen“, sagte Professor Dr. Herbert Lochs von der Charité, Berlin, bei einer Pressekonferenz während des Kongresses „edi 2004 – Ernährung, Diätetik, Infusionstherapie in der Geriatrie“. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) bezog sich dabei auf eine deutschlandweite Untersuchung. Diese ergab zudem, dass Patienten mit einem Body-Mass-Index (BMI) von unter 20 kg/m2 ein vierfach erhöhtes Risiko hatten, im ersten Jahr nach der Krankenhausentlassung zu versterben, als kräftigere Patienten.
Ältere Menschen könnten Veränderungen in ihrer Nahrungsaufnahme nur sehr schlecht kompensieren, so Lochs. Schon wenige Wochen reduzierte Nahrungszufuhr können eine dauerhafte Unterernährung hervorrufen. Daher müsse bei einer Operation, durch die der Organismus einen erhöhten Energiebedarf hat, schon im Vorfeld auf eine ausreichende Ernährung geachtet beziehungsweise frühzeitig Supplemente verabreicht werden. Um das Risiko einer gravierenden Unterernährung zu mindern, gelte in der Geriatrie bereits 20 kg/m2 statt üblicherweise 18,5 kg/m2 als unterer BMI-Grenzwert.
Gründe für eine Mangelernährung sieht der Mediziner neben akuten Erkrankungen auch in psychischem Stress, ausgelöst etwa durch einen Umzug ins Heim, dem Alleinleben im Alter und damit verbundenem Appetitverlust. Haben die Patienten zusätzlich Kaubeschwerden oder Schluckstörungen, sind stark immobil oder geistig beeinträchtigt, wachse das Risiko einer einseitigen und schließlich einer Mangelernährung zusätzlich.
„Man kann in Deutschland in Pflegeheimen und Krankenhäusern am gedeckten Tisch verhungern“, sagte Professor Dr. Elisabeth Steinhagen-Thiessen vom Evangelischen Geriatriezentrum der Charité. Bei der Ernährung müsse das Pflegepersonal besonders aufmerksam sein und Hilfestellung leisten. Aber gerade hier werde zumeist gespart und ungelernte Kräfte eingesetzt, die nicht kontrollieren, ob die Patienten das „oft minderwertige Essen“ einnehmen oder überhaupt ein Gebiss bei den Mahlzeiten tragen. Analog zu Trinkprotokollen sollten auch Ernährungsprotokolle eingeführt werden, die neben einer klinischen Einschätzung Körpergewicht, BMI und Gewichtsverlauf festhalten. Um den normalen Bedarf zu decken, müsse der geriatrische Patient 30 ml/kg Körpergewicht sowie 25 bis 35 kcal/kg Sollgewicht (nach einem BMI von 25) aufnehmen, so Steinhagen-Thiessen. Alarmierend sei ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 5 Prozent in drei oder mehr als 10 Prozent in zehn Monaten.
Die Erhebung des Ernährungszustandes sei nicht über Fallpauschalen abzurechnen und werde daher stark vernachlässigt, kritisierte Lochs. Dies habe auch eine Studie des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) in Sachsen-Anhalt ergeben, die ambulante Patienten und Heimbewohner mit Ernährungssonden untersuchte. Weder bei Heimaufnahme, Sondenanlage noch vor dem MDK-Prüfungsbesuch sei der BMI der Patienten gemessen worden. 19,5 Prozent der 662 erfassten Patienten stuften die Studien-Ärzte als untergewichtig ein, 14,4 Prozent wiesen eindeutige Zeichen einer Exsikkose auf. Über ein Drittel der Patienten erhielten zwischen 500 und mehr als 1500 kcal pro Tag zu wenig an Sondennahrung. Bei den restlichen Patienten konnten die Prüfer die Mengen auf Grund fehlender Dokumentation nicht erfassen. Dabei war nur in weniger als 30 Prozent der Fälle ein Arzt für die Menge der Sondennahrung verantwortlich, bei einem Drittel ließ sich überhaupt kein Verantwortlicher feststellen.
Gerade an der Nahrung dürfe nicht gespart werden, sagte Lochs. Denn eine Mangelernährung rufe Komplikationen hervor, etwa Frakturen auf Grund permanenter Schwächezustände oder eine deutlich längere Rekonvaleszenz nach Operationen. „Drohende und manifeste Mangelernährung stellt daher eine Indikation zur enteralen Ernährung in der Geriatrie dar.“ Dazu hat die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie zusammen mit der DGEM die S3-Leitlinie „Enterale Ernährung in der Geriatrie und der geriatrisch-neurologischen Rehabilitation“ erarbeitet. Dieser zufolge kann enterale Ernährung, die orale Supplemente mit industriell hergestellter Flüssignahrung und Sondennahrung umfasst, die Krankenhausverweildauer bei Mangelernährten verkürzen und die Lebenserwartung verlängern. Zwar kann die Ernährungstherapie die Energie- und Nährstoffzufuhr steigern, ob damit Lebensqualität der Patienten verbessert wird, bleibt jedoch offen.
© 2004 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de