Fortschritt kommt nicht allen Aidskranken zugute |
08.02.1999 00:00 Uhr |
"Die meisten der weltweit rund 33 Millionen an HIV-Infektion und Aids leidenden Patienten haben keinerlei Zugang zu Medikamenten", stellt die internationale Hilfsorganisation Unaids in einem aktuellen Report fest. Trotz diverser Anstrengungen der führenden Herstellerunternehmen, neu HIV-Therapeutika auch in Entwicklungsländern anzubieten, muß die große Mehrzahl seropositiver Patienten dort nach wie vor ohne die nötigen Medikamente auskommen. Experten befürchten, daß sich an dieser bedrückenden Situation so schnell nichts ändern wird.
Glaxo Wellcome, Roche, Abbott, Bristol-Myers Squibb, Merck Sharpe & Dohme (MSD) und andere forschende Arzneimittelhersteller haben in den vergangenen zehn Jahren Milliardenbeträge in die Entwicklung neuer HIV-Therapeutika investiert und enorme Fortschritte in der HIV-Therapie erreicht: Protease-Inhibitoren, Nukleosidanaloga und Reverse-Transkriptase-Hemmer senkten die Aids-Morbidität in Deutschland und anderen Industrieländern dramatisch. Nicht jedoch in den armen Ländern.
Laut Unaids kostet die Kombinationstherapie eines HIV-/Aids-Patienten jährlich durchschnittlich 10.000 Dollar (rund 17.000 DM). "Heute kommen aber mehr als 90 Prozent aller Neuinfektionen in Entwicklungsländern vor. Neun von zehn mit dem HI-Virus infizierten Patienten leben in Ländern, in denen das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Jahr weit unter 10.000 Dollar liegt.
Sie sind nicht in der Lage, mit Hilfe von Krediten die Arzneimittel einzukaufen. Trotzdem würden diverse afrikanische Länder - wie etwa Malawi, Uganda, Zambia und Zimbabwe - Weltbankdarlehen nutzen, um für ihre Bevölkerung die benötigten Therapeutika zu erstehen. In vielen Ländern fehlt es allerdings noch immer am Nötigsten im Lebensalltag, wie etwa an sauberem Trinkwasser und Nahrungsmitteln. Solange diese Mißstände nicht beseitigt sind, so Unaids, ist es unrealistisch, an eine Verteilung von modernen (und teuren) Arzneimitteln zur Behandlung von Aids zu denken. "Können reiche Industrienationen mit ansehen, wie in den ärmsten Ländern dieser Welt Millionen Menschen an einer behandelbaren Infektionskrankheit sterben, während die eigene Bevölkerung in den Genuß wirksamer Arzneimitteltherapien kommt?"
Diese Frage stellte kürzlich das für seinen ausgewogenen und objektiven Journalismus bekannte britische Wirtschaftsmagazin Economist in einem Editorial. "Theoretisch könnten Industrieländer wie Amerika und Deutschland im Rahmen ihrer Entwicklungshilfe die HIV-Therapeutika umsonst in die Dritte Welt schaffen. Allerdings zeigt uns die nackte Arithmetik - 10.000 Dollar pro Patient und Jahr multipliziert mit mindestens 20 Millionen Patienten - wie unrealistisch das wirklich ist." Immer häufiger sind Kinder in der Dritten Welt die Opfer der Immunschwäche. Längst hat ihre Zahl die Schallmauer von einer Million überschritten. Laut Unaids sind 1998 von den rund 1,8 Millionen Todesopfern der Immunschwäche mehr als 400.000 vor ihrem 15. Geburtstag verstorben.
Außer Afrika ist vor allem die Bevölkerung in zehn asiatisch-pazifischen Staaten von der Infektionskrankheit bedroht. Dort soll sich die Zahl der HIV-Infizierten bis zum Jahr 2001 versechsfachen! Und sie werden viel schneller dahingerafft als die Aids-Kranken in den Industriestaaten. In Europa erlebten zum Beispiel vier Fünftel der HIV-infizierten Kinder ihren dritten Geburtstag. Jedes fünfte wird zumindest zehn Jahre alt. Im afrikanischen Staat Zambia erlebt dagegen kaum ein seropositives Kind seinen dritten Geburtstag. Annähernd 90 Prozent der betroffenen Kinder werden durch ihre Mutter mit dem HI-Virus infiziert.
Aids-Epidemie ist nicht gebannt
Gleichzeitig warnte die in Genf ansässige Hilfsorganisation die Industriestaaten vor der Fehleinschätzung, die Aids-Epidemie sei dank der Fortschritte in der medikamentösen Behandlung der letzten fünf Jahre bereits gebannt. "Die Epidemie ist nicht vorbei. Jedes Jahr werden in der ganzen Welt mehr als 3,5 Millionen Menschen mit HIV infiziert." Unaids hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, im Rahmen des Co-Sponsorenprogramms innovative Therapeutika und Medikamente zur Behandlung von opportunistischen Infektionen in arme Entwicklungsländer zu bringen. Die Organisation arbeitet eng mit der Pharmaindustrie, mit Regierungen und internationalen Hilfsorganisationen zusammen. Ähnliches versucht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit dem Action Programme on Essential Drugs (DAP).
Nicht zuletzt dank der Unterstützung durch die Pharmaindustrie kann so die Situation von Tausenden Patienten in den Entwicklungsländern verbessert werden. Das Problem für Hersteller wie Glaxo Wellcome ist, daß Länder wie Zambia oder Indien, in denen sich die Zahl der Infizierten derzeit alle 18 Monate verdoppelt, die teuren Protease-Hemmstoffe nicht bezahlen können. Die Hersteller müssen als kommerzielle Unternehmen natürlich darauf achten, daß sich ihre Forschungsinvestitionen auszahlen. Bis heute spielen daher Entwicklungsländer als Absatzmärkte für HIV-Therapeutika kaum eine Rolle. So beschränken sich die Marktforschungsunternehmen in ihren Studien über den Markt von HIV-Therapeutika nur auf Europa und Amerika. Nach neuen Studienangaben von Frost & Sullivan, London, erhalten in Europa zwischen 50 und 80 Prozent aller medikamentös behandelten HIV-Patienten eine Dreifachkombinationstherapie. 1997 gaben die europäischen Länder insgesamt mehr als 2,2 Milliarden DM für die medikamentöse Behandlung von HIV-Infektion und Aids aus, stellen die Londoner Marktforscher fest.
Handelsabkommen und andere Erschwernisse
Teure Kombinationstherapeutika an Entwicklungsländer billiger abzugeben, scheidet - wie bereits gesagt - für westliche Pharmahersteller aus wirtschaftlichen Gründen aus. Für sie besteht zusätzlich die Gefahr, daß diese Arzneimittel über Umwege als Reimporte zurück in den Westen gelangen und dort die Preise verderben. Zum anderen verursachten die teilweise recht komplizierten Einnahmevorschriften erhebliche Compliance-Probleme. Selbst wenn die HIV-Therapeutika in den Entwicklungsländern zur Verfügung stünden, gäbe es dort das Problem der nicht sachgerechten Arzneimittellagerung. Kürzlich kehrte der für seine oftmals kontroversen und eigenwilligen Äußerungen bekannte amerikanische Politiker und Aids-Aktivist David Scondras von einer mehrwöchigen Informationsreise aus Indien nach Boston/New York zurück.
Scondras wandte sich unverzüglich an die Weltpresse und warf westlichen Pharmaherstellern unanständige Geschäftemacherei und Profitstreben vor. Der Amerikaner behauptet, indische Pharmahersteller, beispielsweise Cipla in Bombay, stellten Reverse-Transkriptase-Hemmer für einen Bruchteil des Preises her, der in den USA und Europa für diese Medikamente verlangt werde. Der Wirkstoff AZT koste die Inder bei Cipla umgerechnet 2,40 DM für eine 300-Milligramm-Kapsel. In den USA müsse viermal soviel bezahlt werden. Für Scondras ist es ein Skandal, daß die internationalen Pharmariesen mittels internationalen Handelsabkommen die Preise für ihre Produkte zu schützen versuchten.
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