Politik

SPD rechnet mit Seehofer und der Reform ab
Der gesundheitspolitische Kongreß der SPD mit dem Thema "solidarische Gesundheitsversorgung für die Zukunft sichern" war der Abschluß einer bundesweiten Aktionswoche zum Thema Gesundheit. Auf der Veranstaltung am 24. Januar in der Berliner Charité äußerten zahlreiche Vertreter von Berufsverbänden und Selbsthilfegruppen ihre Sorgen über bestehende und künftige Versorgungslücken. Mit Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer und der Reform des Gesundheitswesens gingen Politiker und Funktionäre ins Gericht.
Nach Auffassung von Rudolf Dreßler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, stellt die Bundesregierung den Sozialstaat zur Disposition. Sie brauche die Krise, um sie anschließend zu mißbrauchen. "Erst wenn es ordentlich kriselt, kann man auch ordentlich abräumen", so Dreßler. Er nannte Seehofers Politik schamlos, weil er die Konflikte mit den Beteiligten im Gesundheitswesen scheue und statt dessen die Patienten zur Kasse bitten wolle, was als "Privatisierung der Krankheitsrisiken des Einzelnen" verbrämt werde. Das solidarische Finanzierungselement in der GKV solle zurückgedrängt werden. Wer der pharmazeutischen Industrie durch Streichung der vereinbarten Positivliste für Arzneimittel über zwei Milliarden DM hinterher werfe, wer den Ärzten durch Honorarerhöhung und Regreßverzicht per Gesetz zu Lasten der Sozialversicherung 840 Millionen DM zusätzlich in die Tasche stecke und 1992 vereinbarte, kostensparende Strukturreformen der Kranenkversicherung durch seine Politik systematisch sabotiere, habe kein Recht, über Kostenprobleme im Gesundheitswesen zu klagen.
Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, erwartet, daß die nächste Bundestagswahl an der sozialen Frage entschieden wird. Die Gesetzliche Krankenversicherung, "unser soziales Immunsystem", müsse in ein integratives Gesundheitswesen eingegliedert werden, wobei die Kultur des Helfens und Heilens eine neue Struktur bekommen müsse. Dies könne nicht über kosmetische Eingriffe, sondern nur über eine Kulturrevolution geschehen. Hubers Bitte an Bonn: eine Befreiung Berlins von monetären Zwängen, um der Hauptstadt die Möglichkeit zu geben, ein Modell eines sozial integrativen und finanzierungsfähigen Gesundheitswesens umzusetzen.
Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen, hält für nicht glaubwürdig, wer Vorfahrt für die Selbstverwaltung will und gleichzeitig vor dem Marsch in den Kassenstaat warnt. Als "aggregierten Unsinn" bezeichnete er die Entwürfe der GKV-Neuordnungsgesetze, nachdem das Beitragsentlastungsgesetz ein Defizit von 1,5 Milliarden DM einbringe. Rebscher erwartet für 1997 ein Defizit von 15 bis 20 Milliarden DM in der GKV. Geradezu grotesk sei der Plan, Elemente aus dem privaten Versicherungsgewerbe in die GKV übernehmen zu wollen. Es könne keinen Sinn ergeben, jungen, gesunden Versicherten eine Beitragsrückgewähr zu geben und gleichzeitig alte und kranke Menschen noch höher zu belasten. Dies sei ein Rückschritt in der sozialpolitischen Diskussion. Seehofers Ankündigung zurückzutreten, wenn an den Neuordnungsgesetzen gerührt werde, zeige nach Rebschers Auffassung, "wie nervös er ist und daß kaum noch jemand hinter ihm steht".
Scharfe Kritik an der Regierung übte auch die Sozialministerin von Brandenburg, Regine Hildebrandt. Allein die Überschriften in den Gesetzentwürfen zur Gesundheitsreform - Ausweitung der Versichertenrechte oder Ausweitung der Gestaltungsleistungen der GKV - seien Blasphemie. Die Ministerin bedauerte, daß keine Einigung über den von der SPD vorgeschlagenen Gesetzentwurf eines zweiten Gesundheitsstrukturgesetzes erzielt werden konnte. An der Erhöhung der Zuzahlung sei abzulesen, daß die Entsolidarisierung im vollen Gange sei und der Übergang zur Selbstfinanzierung durch die Patienten begonnen habe. Eine Verhinderung der von der Regierung eingebrachten Gesetze sei jetzt am dringlichsten. Dann müßten neue Verhandlungen im Sinne von Lahnstein eingeleitet werden. Zur herrschenden Situation: Der Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern lasse es zu, daß Patienten immer noch das bekommen, was sie wünschen anstelle der Therapien und Verordnungen, die sie brauchen.
PZ-Artikel von Gisela Stieve, Berlin © 1996 GOVI-Verlag
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