Informieren und beraten senkt die Einnahmehäufigkeit |
Kopfschmerzpatienten sollten so früh wie möglich und immer wieder auf das Risiko eines Schmerzmittel-Übergebrauchs und dadurch verstärkter Schmerzen hingewiesen werden. / Foto: Getty Images/Westend61 / gpointstudio
»Der Übergebrauch von Akutmedikamenten wie Triptanen und NSAR ist Ursache der Schmerzchronifizierung, insbesondere bei Migräne-Patienten. Die entsprechende Edukation ist von hoher Relevanz«, unterstrich Privatdozent Dr. Charly Gaul, Frankfurt, beim vierten interdisziplinären Kopfschmerzsymposium der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) und des Psychologischen Instituts der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er sprach von einem hohen Expertenkonsens.
Akutmedikation teilweise oder vollständig absetzen? Prophylaxemedikation von Anfang an oder abwarten? Überbrückungsmedikation ja oder nein? Therapie ambulant oder stationär? Hinsichtlich der weiteren Behandlungsstufen und -optionen, so Gaul, gebe es noch viele offene Fragen.
»Nicht nur die Diagnosestrategien, auch die diversen medikamentösen Therapien werden wissenschaftlich nach wie vor kontrovers diskutiert. Die Meinungen gehen vielfach auseinander«, betonte er. Fest jedoch stehe, dass die kontinuierliche medizinische und pharmazeutische Betreuung der Patienten unumgänglich ist, wenn es darum geht, das Medikamenten-Übermaß und somit das Erkrankungs- und Rezidivrisiko zu senken.
Gaul machte deutlich, dass sich die MOH-Diagnose (MOH: Medication Overuse Headache) auf die Anamnese unter besonderer Berücksichtigung der vorbestehenden primären Kopfschmerzerkrankung und der im Kopfschmerztagebuch dokumentierten Medikation stützt. Bei einem Großteil der Patienten könnten die entsprechende Aufklärung und Edukation zur signifikanten Reduktion beziehungsweise Beendigung des MOH beitragen; dies treffe insbesondere auf Menschen ohne schwerwiegende psychiatrische Komorbiditäten zu, die nur Triptane oder einfache Analgetika einnehmen.
Wenn die erste Stufe der Behandlung in Form von Edukation und Beratung zur Reduktion der Medikamenteneinnahme auf weniger als 10 oder 15 Tage keine Erfolge zeigt, könne eine Medikamentenpause (Entzug) unumgänglich werden. Diese könne bei Patienten, die Analgetika oder Triptane einnehmen, meist umgehend, also quasi abrupt begonnen werden. Auch sei beim unkomplizierten MOH ein ambulanter Entzug möglich.
Beim komplizierten MOH mit Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder schweren anderweitigen psychiatrischen und auch internistischen Erkrankungen hingegen könne sich ein stationärer Entzug als notwendig erweisen. Auch sei bei Patienten mit gleichzeitigem Übergebrauch von Opioiden, Barbituraten, Tranquilizern oder Anxiolytika ein langsames Ausschleichen der Medikamente zu empfehlen.
Die Behandlung der Entzugssymptome während der Medikamentenpause umfasst unter anderem Flüssigkeitsersatz sowie die Gabe von Antiemetika und Überbrückungsmedikamenten wie Trizyklika und Corticosteroiden.
Gaul hob hervor, dass er die parallele prophylaktische Therapie, sprich: den früh- beziehungsweise gleichzeitigen Einsatz von Topiramat und/oder Onabotulinumtoxin A beziehungsweise monoklonalen Antikörpern gegen Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) oder CGRP-Rezeptoren stets als unbedingt sinnvoll erachtet.
Als diagnostische Kriterien eines MOH gelten gemäß der International Headache Society (IHS) Kopfschmerzen, die an mindestens 15 Tagen pro Monat bei Patienten mit vorbestehender Kopfschmerzerkrankung bestehen. Der regelmäßige Übergebrauch eines oder mehrerer schmerzlindernder Akutmedikamente wie NSAR/Paracetamol (mehr als 15 Einnahmetage pro Monat) beziehungsweise Triptane, Mutterkornalkaloide, Opioide oder Kombinationsanalgetika (mehr als zehn Einnahmetage pro Monat) erstreckt sich definitionsgemäß über einen Zeitraum von mindestens einem Vierteljahr und ist durch eine andere ICDH-3-Diagnose nicht zu erklären.
Die spezifischen, dem MOH zugrundeliegenden Pathomechanismen seien noch unbekannt, so Gaul. Diskutiert werden Überempfindlichkeitsreaktionen durch diverse genetische Polymorphismen, zum Beispiel des Wachstumsfaktors BDNF oder des spezifischen Serotonintransporters SLC6A3. Auch werden Veränderungen im Metabolismus von Neurotransmittern vor allem im serotonergen und/oder im Endocannabinoid-System vermutet, die zu einer verstärkten Reizantwort in Form von Schmerzen führen.
Mittels bildgebender Verfahren lassen sich funktionelle und strukturelle Veränderungen in verschiedenen Hirnarealen finden, die sich - wie auch die Modifikationen auf Ebene der Botenstoffe - bei Beendigung des Medikamentenübergebrauchs als reversibel erweisen. Doch könnten insbesondere psychische Komorbiditäten und die Nähe zur Sucht die Therapie erschweren.