Schrittmacher für die Nerven |
30.08.2017 11:16 Uhr |
Von Christina Müller / Morbus Parkinson, Epilepsie und chronischer Schmerz: Die Neurostimulation kommt oft dann zum Einsatz, wenn Medikamente und physikalische Therapien versagen. Die Möglichkeiten, die das Verfahren bietet, scheinen dabei noch lange nicht ausgeschöpft. Eventuell kann über Strom auch das Immunsystem moduliert werden.
Als Neurostimulation wird die Beeinflussung von Nerven mithilfe elektrischer Impulse bezeichnet. Ziel ist es, die Erregungsweiterleitung überaktiver Nerven zu normalisieren. Bei einigen Verfahren erfolgt die Stimulation mit einem externen Gerät, bei anderen wird der Neurostimulator unter die Haut implantiert. Der Stimulator ist etwa so groß wie eine Streichholz- oder Zigarettenschachtel und enthält die benötigte Hochleistungselektronik sowie eine Batterie. Er sendet Impulse an eine oder mehrere Elektroden, die wiederum einen Nerv oder eine Hirnregion stimulieren. Die Impulse verändern zum Beispiel die Schmerzwahrnehmung, ohne den Nerv zu schädigen.
Die Okzipitalnerv-Stimulation wird zur Behandlung von chronischer Migräne eingesetzt.
Foto: St. Jude Medical
Das bekannteste Beispiel ist die tiefe Hirnstimulation, bei der die Elektroden bestimmte Hirnareale beeinflussen. Der Zielort hängt dabei von der Indikation ab. Insgesamt 120 000 Menschen haben weltweit bislang ein solches als Hirnschrittmacher bezeichnetes System implantiert bekommen. In Deutschland leben derzeit etwa 6000 Menschen mit einem Hirnschrittmacher, jedes Jahr kommen etwa 400 bis 500 Patienten hinzu.
Strom statt Tabletten
Das Prinzip »Strom statt Tabletten« hat bei einzelnen Indikationen bereits Einzug in die Leitlinien gehalten. So etwa in der Therapie des idiopathischen Parkinson-Syndroms (IPS). Laut S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie aus dem Jahr 2016 ist eine bilaterale elektrische Hirnstimulation Patienten anzubieten, die an einem medikamentös nicht kontrollierbaren Tremor, Dyskinesien oder Fluktuationen leiden. Dies gilt, sofern sie auf Levodopa ansprechen, keine Frühsymptome der Demenz zeigen und keine signifikanten psychischen oder so-matischen Komorbiditäten oder neurochirurgischen Kontraindikationen aufweisen.
»Die tiefe Hirnstimulation ist ein etabliertes Verfahren zur Behandlung des IPS und wird heute bei der überwiegenden Zahl der Patienten im Nucleus subthalamicus vorgenommen«, heißt es in der Leitlinie. In den vergangenen Jahren seien zahlreiche große und kontrollierte Studien erschienen, die den Empfehlungsgrad für den Einsatz dieser Behandlungsform verbessert hätten. In den Untersuchungen hatten sich fast alle Parameter wie Beweglichkeit, Alltagskompetenz, Abnahme von Fluktuationen und Dyskinesien und krankheitsspezifische Lebensqualität hoch signifikant verbessert.
Über die Aktivierung des Vagus-Nervs lassen sich Entzündungsprozesse im Körper reduzieren.
Foto: Shutterstock/chombosan
Parkinson ist die Hauptindikation für eine tiefe Hirnstimulation. Die Methode ist aber auch bei anderen Bewegungsstörungen wie dem essenziellem Tremor, Tourette-Syndrom und Dystonien (Muskeltonus-Störungen, die zu Fehlstellungen des Körpers oder einzelner Glieder führen) und auch bei anderen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen wie Zwangsstörungen und Epilepsie zugelassen. Darüber hinaus wird die tiefe Hirnstimulation bei einer Reihe von Krankheiten experimentell getestet, etwa bei Depressionen, Demenzen, Essstörungen oder Suchterkrankungen.
Statt einzelner Hirnareale kann auch das Rückenmark mittels Neurostimulation beeinflusst werden, was vor allem in der Behandlung von Schmerzen eingesetzt wird. So schneidet die Methode in der S3-Leitlinie »Epidurale Rückenmarkstimulation zur Therapie chronischer Schmerzen« aus dem Jahr 2013 bei bestimmten Indikationen gut ab – obwohl die an der Erstellung beteiligten Fachgesellschaften um die Deutsche Schmerzgesellschaft betonen, dass die Wirkungsweise des Verfahrens trotz des weltweit häufigen Einsatzes bislang nicht vollständig geklärt ist. Vor allem bei neuropathischen Schmerzen kann diese Therapieform demnach eine Option sein, wenn konservative Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Und dies ist recht häufig der Fall: Nur bei etwa 30 bis 40 Prozent der Betroffenen lässt sich mithilfe von Arzneimitteln eine befriedigende Schmerzlinderung erreichen, heißt es. Die epidurale Rückenmarkstimulation kommt unter anderem für Patienten infrage, die am komplexen regionalen Schmerzsyndrom, peripherer arterieller Verschlusskrankheit, chronischem Angina-pectoris-Schmerz oder therapierefraktärem Rücken-Bein-Schmerz nach einer fehlgeschlagenen Rückenoperation leiden.
Ziel der Neurostimulation können auch einzelne periphere Nerven sein. So wird zum Beispiel die Okzipitalnerv-Stimulation in der Therapie von chronischer Migräne und Cluster-Kopfschmerz eingesetzt. Invasive Neurostimulationsverfahren sollten aber laut aktueller Leitlinie zur Migränetherapie nur bei Patienten mit chronischer Migräne und Therapieresistenz erwogen werden. Der Einsatz könne nur bedingt und im Rahmen klinischer Studien empfohlen werden. Zu nicht invasiven Methoden, bei denen die Neurostimulation durch die Haut hindurch erfolgt, lägen keine ausreichenden Wirksamkeitsnachweise vor, sodass diese Verfahren derzeit nicht empfohlen werden können.
Elektrische Immunsystem-Hemmung
Neurologische und psychiatrische Erkrankungen mittels Nervenmodulation zu behandeln, liegt nahe. Es gibt aber auch Ansätze, die Indikationsliste auszudehnen und auch immunologische oder metabolische Erkrankungen mit Strom zu therapieren. Die These dahinter ist, dass alle Organe des Körpers von Nerven gesteuert werden und dies therapeutisch genutzt werden könnte. So ist zum Beispiel das Immunsystem eng mit dem Nervensystem verbunden, wobei der Nervus vagus eine besondere Rolle spielt. Eine Übersicht hierzu gibt Douglas Fox in einem Artikel im Fachjournal »Nature« (DOI: 10.1038/545020a).
Tierversuche zeigen, dass die Aktivität des Vagus-Nervs die Ausschüttung von Tumornekrosefaktor (TNF) und anderen proinflammatorischen Zytokinen im Körper hemmt. Dies erfolgt in der Milz. Die Nervenenden setzen dort Noradrenalin frei, das direkt mit T-Zellen kommuniziert. Dabei ähneln die Verbindungen zwischen Nervenzelle und Immunzelle den Synapsen zwischen zwei Neuronen. Die so aktivierten T-Zellen wiederum schütten Acetylcholin aus, das an Makrophagen bindet und bei diesen bewirkt, dass weniger proinflammatorische Botenstoffe gebildet werden. Synapsen-ähnliche Verbindungen zwischen Neuron und Immunzellen wurden außer in der Milz unter anderem auch in Lymphknoten, im Thymus und im Darm gefunden. Die Aktivität der Nervenzellen dort hatte zumeist auch antiinflammatorische Effekte. Hierzu passt die Beobachtung, dass in Tiermodellen von Autoimmunerkrankungen diese Signaltransduktion häufig gestört ist.
Daher liegt die Vermutung nahe, dass über eine Stimulation des Vagus-Nervs entzündliche und autoinflammatorische Prozesse im Organismus reduziert werden könnten. In einer Pilotstudie konnte ein Forscherteam um Dr. Frieda Koopmann vom Zentrum für Rheumatologie und Immunologie der Universität Amsterdam zeigen, dass dies tatsächlich zutrifft. Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis hemmte die Stimulation des Vagus-Nervs die Ausschüttung von TNF. Der Schweregrad der Erkrankung verringerte sich bei den 18 Probanden, die medikamentös vorbehandelt waren, signifikant. »Die Ergebnisse legen nahe, dass es möglich ist, neuromodulierende Geräte in der experimentellen Therapie von Rheumapatienten einzusetzen und eventuell auch bei anderen entzündlichen Autoimmunerkrankungen«, schlussfolgern Koopmann und Kollegen in ihrem Beitrag im Fachjournal »PNAS« (2016, DOI: 10.1073/pnas.1605635113).
Forschung an Electroceuticals
Eine französische Arbeitsgruppe verwendete die Vagus-Nerv-Stimulation zur Therapie der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn – ebenfalls mit Erfolg (»Neurogastroenterology & Motility«, 2016, DOI: 10.1111/nmo.12792). Andere Teams testen den Einsatz der Methode bei Sepsis, heißt es in dem Nature-Artikel. Noch stünde dieses Forschungsfeld ganz am Anfang, die neuronalen Verbindungen zum Immunsystem seien noch nicht vollständig aufgeklärt und die Ergebnisse aus den Pilotstudien müssten noch in größeren Untersuchungen reproduziert werden. Dennoch setzen große Pharmafirmen, vor allem Glaxo-Smith-Kline, auf die Entwicklung von sogenannten Electroceuticals. Und die US-amerikanische Gesundheitsbehörde NIH hat ein Programm gestartet, die neuronalen Schaltkreise aufzuklären, um deren Modulation eines Tages therapeutisch nutzen zu können. /