Pockenimpfstoffe in Deutschland |
20.09.1999 00:00 Uhr |
PHARMAZIEGESCHICHTE
"Ein Drittel aller Menschen stirbt an Seuchen" - so titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 30. Juni 1998 einen Bericht der deutschen Sektion der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Infektionskrankheiten sind danach die häufigste Todesursache in den armen Ländern Afrikas und Asiens, während in den Industrieländern nur 1,2 Prozent der Todesfälle mit Seuchen in Verbindung gebracht werden können. Der medizinischen Wissenschaft gelang es bisher erst ein einziges Mal, eine Infektionskrankheit mit so großem Erfolg zu bekämpfen, dass sie von der epidemiologischen Weltkarte gestrichen werden konnte. Die Menschenpocken gelten für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 1979 als ausgerottet (1): Anlass genug, sich genauer mit der Geschichte jenes Arzneimittels zu befassen, das wesentlich dazu beigetragen hat und in mehr als einer Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt.
Bei diesem Arzneimittel handelt es sich um einen Impfstoff, und Impfstoffe nehmen generell unter den Arzneimitteln eine Sonderstellung ein - nicht nur für Ärzte, sondern auch für Apotheker. Waren sie doch nicht nur nicht in der Lage, diese Medikamente in ihren Offizinen selber herzustellen; sie konnten sie auch nicht prüfen und somit auch nicht für deren Qualität bürgen. Die Impfstoffe wurden vielmehr gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, nicht auf Grund von Erfahrung, sondern nach systematischer Forschung und Versuchen, neue theoretische Konzepte und Denkansätze für die Erklärung des Beobachteten zu finden - mit einer Ausnahme, den Pockenimpfstoffen. Deren Geschichte unterscheidet sich gänzlich von der anderer Impfstoffe.
Während diese entdeckt und hergestellt wurden, nachdem die jeweiligen Krankheitserreger identifiziert worden waren, waren Pockenimpfstoffe schon mehr als ein Jahrhundert in Gebrauch gewesen, bevor überhaupt Pockenerreger entdeckt wurden. Eine Vermehrung des Impfstoffs erfolgte, ohne dass die Existenz dessen, was vermehrt wurde, nämlich Viren, überhaupt bekannt war; und es wurden wirksame Impfstoffe hergestellt, ohne dass auch nur immunologische Grundkenntnisse vorgelegen hätten. Die anfängliche Anwendung eines Pockenimpfstoffs erfolgte auf der Grundlage volksmedizinischer Empirie ohne theoretischen Bezug, als zur Zeit der Spätaufklärung die Übernahme von Beobachtungen der Volksmedizin und deren Prüfung wichtige Merkmale der Schulmedizin bildeten. Erst im Zuge von deren Verwissenschaftlichung wurde das Herstellungsverfahren nach theoretischen Gesichtspunkten erforscht, systematisch verändert und weiterentwickelt (2).
In der Ära der Variolation
Die Variolation, im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als einzige "einpfropfende" Impfform auch generell als Inokulation bezeichnet, war ein ursprünglich aus der Volksmedizin stammendes Verfahren, bei dem stets Pockeneiter operativ übertragen (eingepfropft) wurde. Die Impfung diente dem Schutz vor einer späteren, womöglich wesentlich ernsthafteren Pockenerkrankung.
Das Verfahren soll von Indien, China oder Persien aus über Konstantinopel nach Europa gekommen sein, wo es während des 17. Jahrhunderts eingeführt wurde. In England nahmen es viele Ärzte begeistert auf, während die Ärzte in Deutschland ihm mit Skepsis begegneten, die sich noch vergrößerte, nachdem es durch Modifikationen der bewährten, überlieferten Primitivmethode zu ernsten, häufig tödlich verlaufenden Komplikationen gekommen war. Außerdem bestand ein erhebliches Risiko, durch den eingeimpften Pockeneiter ernsthaft zu erkranken; auch konnte durch Verimpfen dieses virulenten, hochkontagiösen Materials eine Epidemie ausgelöst werden. Um letzteres zu vermeiden, mussten die Geimpften isoliert werden, so dass die Variolation nur für gesellschaftliche Eliten in Betracht kam.
Bei dem Bestreben, die Variolation zu einem gefahrlosen Eingriff zu machen, spielte anfänglich die Frage nach der Qualität des Impfstoffs eine geringere Rolle als die nach der Impftechnik. Man bemühte sich, möglichst Pockenstoff von nur leicht Erkrankten zu verimpfen, versuchte aber auch, die Virulenz des Pockenmaterials abzuschwächen, ohne die schützende Wirkung zu beeinträchtigen. Dies geschah durch bewährte Mittel wie Moschus und Kampfer oder durch Behandeln mit Hitze, Kälte, Licht, Trocknen, Faulen, Altern oder Verdünnung (3). Den Impfstoff verwendete man entweder direkt nach der Gewinnung oder getrocknet, beispielsweise in Form von Eiterkrusten (das seit dem Mittelalter gebräuchliche volkstümliche Blatternbelzen) oder von Impffäden. Deren Benutzung war offenbar so verbreitet, dass Jacob Christoph Scherb (1756 bis 1811) in seinem 1779 in Zürich erschienenen Buch »Über die Einpropfung der Pocken« fordern konnte, sie in Apotheken vorrätig zu halten (4). Zur Herstellung tränkte man Baumwoll-, Woll-, Seiden- oder Leinenfäden mit Pockeneiter und ließ ihn trocknen; bei Bedarf schnitt man größere oder kleinere Stücke der Fäden ab und zog sie durch eine am Arm mittels eines Pflasters gezogene Hautblase (5).
Beginn der Vakzinationsära
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - die früheste bisher bekannte Nachricht stammt aus dem Jahre 1769 (6) - hatte man gelegentlich festgestellt, dass Milchmägde und -knechte, die sich beim Melken mit Kuhpocken infiziert und diese leichtere Form einer Pockenerkrankung ohne große Beschwerden überstanden hatten, während Pockenepidemien nicht erkrankten. Daraus schloss man, dass das Überstehen einer Kuhpockenerkrankung eine ähnliche Wirkung habe wie das Überstehen einer echten Pockenerkrankung, so dass der bislang aus Menschenpocken gewonnene Impfstoff offenbar auch aus Kuhpocken genommen werden konnte.
Der englische Landarzt Edward Jenner (1749 bis 1823) setzte 1796 erstmals die Kuhpockenlymphe (Vaccina, abgeleitet von vacca, die Kuh) systematisch als Impfstoff ein, prüfte mittels nachträglicher Variolation die Wirksamkeit der Impfung und berichtete 1798 über seine Erfolge mit diesem "Vakzination" genannten Verfahren (8). Durch das Verimpfen der Kuhpockenlymphe wurden die nach der Variolation auftretenden unangenehmen Begleiterscheinungen (hohes Fieber, Ausbruch eines sekundären allgemeinen Pockenexanthems) vermieden; die Geimpften mussten nicht mehr isoliert und ein Ausbruch von Pockenepidemien nicht mehr befürchtet werden.
Dennoch ist bemerkenswert, wie rasch die Vakzination sowohl von den zuständigen Regierungsstellen der damaligen deutschen Länder - auch auf Grund merkantilistischer Überlegungen (9) - als auch von den Impfenden akzeptiert wurde, zu denen nicht nur Angehörige von Heilberufen wie Ärzte, Chirurgen, Apotheker und Landhebammen, sondern auch Landpfarrer und Schullehrer zählten (10). Es schienen nicht nur die medizinisch begründeten Argumente gegen eine Pockenimpfung, sondern auch viele emotionsgeladene und weltanschauliche Einwände vorerst verstummt zu sein. Die Pocken waren aus humoralpathologischer Sicht bis ins 19. Jahrhundert doch auch als Gährungs- und/oder Reinigungsprozess angesehen worden, als ein mehr oder weniger notwendiger, in der Regel postnatal ablaufender Vorgang und nicht eigentlich als eine Krankheit.
Die Begeisterung der Patienten selbst und von deren Eltern fiel naturgemäß geringer aus. Ein beredtes Beispiel für Skepsis und Ablehnung bilden nicht nur die ab dem späten 19. Jahrhundert auftretenden organisierten Impfgegnerbewegungen, sondern auch die zahlreichen Eltern, die schon zu Beginn des Jahrhunderts die Impfung ihrer Kinder verweigerten. Dabei spielten neben der Furcht vor direkten schädlichen Nebenwirkungen durchaus auch ökonomische Gesichtspunkte eine Rolle - nicht nur die Meinung, dass man sich Kosten und Zeitaufwand nicht leisten könne, sondern auch die Befürchtung, dass mehr Kinder der eigenen Familie überleben könnten als wirtschaftlich zu verkraften seien (11).
Impfen mit humanisierter Lymphe
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die 1880er Jahre war in Deutschland die "humanisierte" Lymphe der am häufigsten benutzte frische Impfstoff. Sie wurde nach dem Einimpfen originärer Kuhpocken auf einen Menschen von diesem als "Vorimpfling" gewonnen und dann durch Verimpfen von Mensch zu Mensch (Arm zu Arm) weitergezüchtet. Interessierte Ärzte gewannen die Vakzine jeweils individuell und versorgten sich anfangs gegenseitig damit. Aber schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts sorgten einzelne Regierungen für die Verfügbarkeit des Impfstoffs und schufen die technischen Voraussetzungen zu seiner Gewinnung durch die Einrichtung so genannter Impfinstitute oder -anstalten, zuerst in München 1801, in Berlin 1802 und in Köln 1803. Der von Ärzten aus den Impfanstalten bezogene Impfstoff diente jedoch stets nur zum "Animpfen" von Vorimpflingen. Die Weiterzüchtung für eine gesamte Impfsaison hatte jeder Impfarzt selbst zu besorgen, ohne dass er dafür gesondert honoriert wurde. Er musste die Impftermine in seinem Bezirk so planen, dass laufend frisch geimpfte Kinder als "Abimpflinge" zur Verfügung standen und die Kette zu seiner Impfstoffquelle nicht unterbrochen wurde.
Schon bald nach Errichtung der ersten Impfinstitute führten einzelne deutsche Länder eine obligatorische Impfpflicht ein - so das Großherzogtum Hessen am 6. August 1807 und das Königreich Bayern am 20. August 1807. Andere Länder folgten. Für das Militär galten jeweils eigene Vorschriften.
Das Impfgeschäft unterlag von Anfang an einer strengen Dokumentationspflicht. Die Impfärzte wurden angehalten oder gar verpflichtet (wie in Preußen durch ein Circulare vom 1. Juli 1801), über alle Geimpften ein genaues Journal zu führen. In Preußen musste darin beispielsweise vermerkt werden, von welchem Impfling Lymphe entnommen und weiterverimpft wurde, wie die Impfreaktion verlief und so fort. Diese Dokumentation sollte ein genaues Bild über Nutzen und Risiken ermöglichen. Dabei wurden auch Beobachtungen wie die im Laufe der Zeit auftretende verzögerte und uncharakteristische Entwicklung von Impfpusteln und wie das Fehlen der typischen Allgemeinreaktion dokumentiert. Da zu Beginn der Vakzinationsära jedoch viele Impfärzte - wie auch Jenner selbst - fest von der unveränderlichen Wirksamkeit der Vakzine überzeugt waren, wurden solche Beobachtungen nicht ernsthaft hinterfragt; man züchtete vielmehr ein und denselben Impfstamm auch schon einmal über hunderte von Generationen.
Retrovakzine und vakzinale Tierlymphe
Als dann im Laufe der nächsten zwanzig Jahre immer häufiger atypische Impfreaktionen beobachtet wurden, vermuteten Sachverständige, dass die Impfstämme bei weiterer Fortpflanzung mehr und mehr degenerierten. Sie forderten die außerhalb von Impfinstituten arbeitenden Impfärzte deshalb auf, ihren Impfstoff immer wieder durch frischen aus der Impfanstalt zu ersetzen (12). Dort bemühte man sich nicht nur, Impfstämme aus originären Kuhpocken jeweils frisch zu gewinnen, sondern regenerierte vermeintlich auch humanisierte Lymphe, indem man die Vakzine auf ihre ursprüngliche natürliche Quelle, die Kuh, zurückübertrug und dort "auffrischen" ließ - der so gewonnene Impfstoff wurde als Retrovakzine bezeichnet. Württemberg erließ schon 1818 eine Verordnung, wonach der Pockenimpfstoff auf der Kuh aufgefrischt werden musste (13), und über einen bayrischen Zentralimpfarzt wird berichtet, dass er bereits seit 1835 sämtliche Impfärzte des Landes mit Retrovakzine versorgen konnte.
Wäre es bei den Bestrebungen, die Qualität des Impfstoffs zu verbessern, nur darum gegangen, seine Virulenzabnahme zu verhindern und die Immunogenität zu steigern, so wäre die Retrovakzination vorerst sicherlich ausreichend gewesen. Aber die Qualität des Impfstoffs wurde bei der Herstellung zusätzlich durch Verunreinigungen beeinträchtigt, ohne dass sich die Impfärzte dessen bewusst waren. Es dauerte viele Jahre, bis man erkannte, dass durch das Impfen so schreckliche Krankheiten wie Hepatitis B und Wundrose, vor allem aber Syphilis übertragen werden können. Letztere wurde so häufig übertragen, dass man sogar ernsthaft diskutierte, ob nicht der Pocken- und der Syphiliserreger identisch seien (14). Auch die Notwendigkeit einer Desinfektion der Geräte war noch nicht erkannt worden. Eine einmal armierte Lanzette wurde vielmehr absichtlich bei mehreren Kindern nacheinander benutzt, damit der wertvolle Stoff für möglichst viele Impfungen ausreiche. Nachdem aber die Existenz einer "vakzinalen Syphilis" und anderer Infekte durch humanisierte Lymphe nicht mehr geleugnet werden konnte, schien auch die Methode der Retrovakzination nicht mehr unbedenklich.
In privaten Impfanstalten, deren vermeintlich mangelnden Sorgfalt man die negativen Begleiterscheinungen gern anlastete, wurde deshalb parallel zur Gewinnung von humanisierter Lymphe ein Verfahren zur Herstellung von vakzinaler Tierlymphe als animalem Impfstoff entwickelt und - in Deutschland seit 1865 - vorwiegend angewendet. Ein wesentlicher Unterschied zur humanisierten Lymphe bestand darin, dass diese erst nach dem siebten oder achten Tag weiterverimpft wurde, während originäre Kuhpocken sich lediglich etwa vom vierten bis zum sechsten Tag zum Weiterimpfen eigneten. Die Gewinnung war schwieriger, Ausbeute und Haltbarkeit waren geringer und diese Tierlymphe damit insgesamt teurer. So lehnten die staatlichen Impfärzte, von denen nur wenige das mühsamere Fortzüchten originärer Kuhpocken beherrschten, diesen Impfstoff ab, obwohl damit eine Übertragung der gefürchteten Krankheiten vermeidbar zu sein schien.
Weitere Methoden der Impfstoffgewinnung bestanden in der Variolation von Kühen (15) und in der Vakzination anderer Tiere wie Kaninchen, Schweine, Schafe, Esel, Pferde und Ziegen. Diese wurden als Zwischenwirte eingeschaltet, um die Wirksamkeit der Lymphe zu verbessern.
Das Reichsimpfgesetz
Obwohl die Regierungen der einzelnen deutschen Staaten für eine kontinuierliche und flächendeckende Versorgung ihrer Territorien mit Impfstoff sorgten, konnte von einem ausreichenden und umfassenden Impfschutz keine Rede sein. Phasen der Impfbegeisterung wechselten mit Phasen von Impfmüdigkeit, je nach Einstellung der Bevölkerung, Engagement der Impfenden, drohenden Epidemien, staatlichen Regelungsmaßnahmen oder anderen Interessenlagen.
Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Nachfrage in Deutschland besonders zurückgegangen - mit der Folge, dass zu Beginn des deutsch-französischen Krieges der Jahre 1870/71 nur in der deutschen Armee, für deren Angehörige Impfzwang galt, ein weitgehender Impfschutz gewährleistet war. Die Schlagkraft des deutschen Heeres wurde daher durch eine in Frankreich grassierende Pockenepidemie kaum beeinträchtigt, während das Heer der Franzosen, dessen Soldaten nicht "vakziniert" waren, empfindlich dezimiert wurde (16): Den 459 Pockentoten im deutschen Heer standen 23400 pockentote Soldaten auf französischer Seite gegenüber. Da Deutschlands Zivilbevölkerung keinen vergleichbar guten Impfschutz besaß, gab es aber hier große Verluste, als französische Kriegsgefangene die Seuche nach Deutschland einschleppten. 1871 sollen allein im Königreich Preußen 60000 Menschen an den Pocken gestorben sein (17).
Die Erfahrungen mit dieser Epidemie bereiteten den Boden für das am 8. April 1874 verabschiedete Reichsimpfgesetz, durch das die Pockenimpfung in Deutschland auch für die zivile Bevölkerung reichseinheitlich zur Pflicht wurde. Den Landesregierungen wurde die Einrichtung von Impfinstituten "zur Beschaffung und Erzeugung der Schutzpockenlymphe" übertragen, und die schon bestehenden Impfinstitute, die sich zum Teil in städtischem Besitz befanden, wurden von den Länderregierungen übernommen. Für die Impfstoffherstellung und Versorgung der öffentlichen Impfärzte brachte das Gesetz allerdings vorerst keine spürbaren Änderungen. Geimpft wurde weiterhin hauptsächlich mit humanisierter Lymphe.
Auf Grund der breiten Anwendung der Pockenimpfstoffe und der begleitenden Dokumentation wurden aber Nebenwirkungen und Impfzwischenfälle häufiger registriert. Die Existenz der vakzinalen Syphilis und Wundrose sowie andere Folgeschäden konnten nicht mehr geleugnet werden. Als der Druck der Öffentlichkeit immer größer wurde, beschloss 1885 der Bundesrat - der Staat war durch die Einführung des Impfzwangs ja verpflichtet, einwandfreien Impfstoff bereitzustellen -, die Impfung mit Tierlymphe allgemein einzuführen, wohlwissend, dass dieser Beschluss das Impfgeschäft ganz erheblich verteuern würde, bedeutete er doch eine flächendeckende Errichtung von Tierimpfanstalten. Die bestehenden Institute waren nur zur Gewinnung relativ geringer Mengen der billig zu beschaffenden Menschenlymphe für die Animpfung errichtet worden. Mit der Umstellung auf Tierlymphe mussten dagegen die Anstalten Impfstoff für jeden einzelnen Impfling produzieren und bereitstellen. So konnte erst 1917 die Verwendung von Tierlymphe verbindlich vorgeschrieben werden.
Auch in den folgenden sechzig Jahren bis zur Aufhebung des Impfgesetzes und der allgemeinen Impfpflicht im Mai 1976 stellten die zahlreichen Verordnungen und Richtlinien zur Gewinnung, Aufbewahrung und Versendung dieser Tierlymphe sowie zu Einrichtung und Betrieb der staatlichen Impfanstalten (18) häufig einen Kompromiss dar zwischen den als notwendig erkannten und den als finanziell und praktisch durchführbar erscheinenden Maßnahmen. Dabei wurde die Gesetzgebung stärker von den Vertretern des Reichsgesundheitsamtes und den Leitern der staatlichen Landesimpfanstalten, die häufig in den die Bundesratsbeschlüsse vorbereitenden Kommissionen vertreten waren, beeinflusst als von der durch die Impfgegner alarmierten Öffentlichkeit und den sich ihrer Interessen annehmenden Politiker.
Wirksamer Bestandteil: Pockenviren
Lange Zeit wurde postuliert, dass die zur Herstellung von Pockenimpfstoffen benutzten Vakzinevirusstämme nur geringe Unterschiede aufwiesen. Man maß der so genannten Anzuchtlymphe, später auch als Saatmaterial bezeichnet, wenig Bedeutung bei. So konnte die Anzuchtlymphe aus unterschiedlichem Material bestehen, beispielsweise originären Kuhpocken, frischer oder konservierter Menschenlymphe, Variola-Vakzine, Retrovakzine, Tierlymphe oder Lapine, einer auf Kaninchen gewonnenen Aussaat. Nachdem allerdings erkannt worden war, dass die Konstanz der Viruseigenschaften eine wichtige Vorbedingung für gute Animpfstoffe ist und dass die einzelnen Virusstämme neben unterschiedlichen immunologischen auch unterschiedliche biologische Eigenschaften besitzen, die sich auf Nebenwirkungen wie postvakzinale Enzephalitis, Gewebeschädigungen und anderes auswirken, bemühten sich die Forscher um einheitlicheres Material und arbeiteten verstärkt an der Züchtung nur eines wirksamen und gut verträglichen Stammes.
1959 empfahl die WHO den Einsatz eines Saatvirussystems, um Veränderungen der Viren beim Weiterzüchten vorzubeugen (19). Einheitliche Mengen von Viren, deren Vorgeschichte und Eigenschaften bekannt waren, sollten dazu eingefroren und zum Animpfen zur Verfügung gestellt werden. Die Anzahl der erlaubten Passagen betrug anfangs nicht mehr als zehn, später sogar nur fünf. Auch dem Vermehrungssubstrat wurde größere Beachtung geschenkt. Die von der WHO 1959 bezüglich des Saatgutsystems ausgesprochenen Empfehlungen wurden von der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie von der Deutschen Demokratischen Republik übernommen.
Berücksichtigt man, dass die Existenz von Viren erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekannt wurde und sich die eigentliche Virusforschung mit ihren neuartigen immunologischen Arbeits- und Labormethoden (serologische Techniken wie Agglutination oder Komplementbindung) erst im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte (20), so wird verständlich, warum die Forschung nur langsam voranschritt. Die Entdeckung der Pockenviren erfolgte schrittweise seit 1901 entsprechend der allgemeinen Entwicklung technischer Möglichkeiten (21); sie kann deshalb weder sicher einem Datum noch einem Forscher zugeordnet werden.
Herstellung von Dermolymphe
Die Tier- oder auch Dermolymphe wurde ursprünglich fast ausschließlich auf dem rasierten und gereinigten Unterbauch von Kälbern gezüchtet, die dazu entweder gekauft oder gemietet wurden, was kostengünstiger war. Die Impfstoffabnahme erfolgte etwa vier bis sechs Tage nach der Beimpfung durch Ausschaben der Impfpocken. Die ausgeschabte Pockenmasse stellte den Rohimpfstoff dar, der zur Dauerlymphe verarbeitet wurde. Das geschah lange Zeit durch Verreiben der Masse in einer Reibschale mit einem Konservierungsmittel (meist Glyzerin), das nach und nach in kleinen Portionen eingearbeitet wurde. Geronnene Blutklümpchen, Haare und andere Verunreinigungen, die entdeckt wurden, sollten bei der Verarbeitung entfernt werden. Die Zugabe von Konservierungsflüssigkeit richtete sich nach Gefühl oder praktischer Erfahrung des Herstellers. Ausschlaggebend war die richtige Konsistenz der Masse - eine halbflüssige Emulsion. Da trotz sorgfältigster Zubereitung Gewebsbestandteile der Pusteln und der Epidermis nebst Bakterien, Blutkörperchen und anderem zurückblieben, besaß die Lymphe ein weißlich-graues, trübes Aussehen, was ihr in Impfgegnerkreisen zu der Bezeichnung "Geschwürjauche" verhalf.
Um die Verarbeitung zu vereinfachen und die Qualität zu verbessern, benutzten die Impfanstaltsleiter im Laufe der Jahre Lymphreibemaschinen, erst handbetriebene, dann mit elektrischem Antrieb versehene, die später durch hochtourige Homogenisatoren ersetzt wurden. Ursprünglich war der Impfstoff gleich nach der Abnahme gebrauchsfertig hergestellt worden. Später verwahrte man den Rohimpfstoff bei -20 °C und verdünnte ihn erst nach entsprechender Anforderung zu Dauerlymphe beziehungsweise zu Stamm- und Gebrauchs- oder Versandlymphe.
Anfänglich schienen organoleptische Prüfung und Probeimpfung am Menschen für das nachträgliche Urteil über den Impfstoff und seine weitere Verwendung auszureichen. Jedoch musste später, als Bakteriologie und Virologie entsprechende Erkenntnisse erbracht hatten, bedacht werden, dass bei der Vermehrung eines Virus auf der Haut eines lebenden Tieres auch mit Bakterien gerechnet werden muss und dass die geimpfte Haut durch Stallstreu oder durch Darmentleerungen des Tieres bakteriell verunreinigt werden kann.
Nachdem die Verantwortlichen in den Regierungsstellen eingesehen hatten, dass pathogene Erreger in Lymphe aus staatlichen Impfanstalten identifiziert worden waren, beauftragte 1895 der Königlich Preußische Minister für geistliche Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten eine Kommission mit Arbeiten zur Verbesserung des Impfstoffs. Vor der breiteren Öffentlichkeit wurden die Verunreinigungen von Regierungsseite aus aber einfach geleugnet (22) und Meldungen, die auf die Nachteile der Lymphe hinwiesen, verharmlost. So wurde noch 1925 offiziell behauptet, dass "eine Verunreinigung der Impfstellen durch den angewandten Impfstoff [...] als ausgeschlossen gelten" könne (23). Die Einführung einer generellen bakteriellen Prüfung hätte zusätzlichen Arbeitsaufwand und damit erhebliche Mehrkosten bedeutet, die nicht aufzubringen waren.
Die Umsetzung verbesserter Techniken verlief insgesamt ausgesprochen schleppend, und Innovationen wurden nur schwerfällig eingeführt. So war schon 1914 bekannt, dass trotz sorgfältiger Stallhygiene Milzbrand- und Tetanussporen in die Lymphe gelangen können (24), aber erst 1925 trat eine "Richtlinie für die bakteriologischen Untersuchungen des fertigen Pockenimpfstoffs" in Kraft (25), die vorschrieb, dass Impfstoffe, die Tetanuskeime enthalten, zu vernichten seien. Nach dieser Richtlinie waren sowohl eine Keimart- wie auch eine Keimzahlbestimmung durchzuführen. Ein maximaler Keimgehalt wurde jedoch erst 1970 verbindlich festgelegt.
Für eine weitere Qualitätskontrollmethode - die Virulenz- oder Wirksamkeitsbestimmung - existierten seit 1914 der Intrakutantest am Kaninchen und die Hornhautimpfung am Meerschweinchen und seit 1928 offizielle Richtlinien, die aber erst 1940 verpflichtend wurden. Im Jahr 1960 für die Bundesrepublik Deutschland erlassene Bestimmungen sahen vor, zwischen jedem der drei Verarbeitungsstufen Rohimpfstoff, Stammlymphe und Gebrauchs- oder Versandlymphe auf Bakterienfreiheit und Virulenz zu prüfen. Der endgültige Verdünnungsgrad richtete sich dann nach dem Virusgehalt.
Erstaunlich ist, wie uneinheitlich Pockenimpfstoffe auch in Deutschland über viele Jahrzehnte trotz zahlreicher gesetzlicher Regelungen, die den Leitern der Impfanstalten jedoch genügend Handlungsspielraum ließen, produziert wurden. Die Gesundheitsbehörden unternahmen weder durchgreifende Maßnahmen zur Standardisierung des Produktionsprozesses noch gab es eine zentrale Aufsicht, wie sie immerhin seit 1895 für die industrielle Fertigung von Seren und Impfstoffen bestand. Zu viele Einzelinteressen standen dem offensichtlich entgegen, nicht zuletzt das Interesse der Länder, die Kosten für die Impfstoffproduktion so gering wie möglich zu halten. Die Abnahme des Impfstoffs war zudem durch das Impfgesetz garantiert, so dass es keinen Wettbewerb der herstellenden Impfanstalten untereinander gab. Durchgreifende Verbesserungen scheinen erst unter dem Druck des 1967 begonnenen WHO Eradication Program durchführbar gewesen zu sein. Die WHO-Experten entwickelten innerhalb weniger Jahre Standards, durch die die Qualität der Pockenimpfstoffe wesentlich verbessert wurde, auch in den beiden deutschen Staaten.
Herstellung anderer Pockenimpfstoffe
Das Vakzinevirus besitzt ein sehr breites Wirtsspektrum, und deshalb gelingt seine Züchtung im lebenden Organismus weitgehend unabhängig von der Tierspezies. Diese Eigenschaft nutzte man zur Entwicklung von Alternativen zur Dermolymphe, zu denen die ab 1913 auch in Deutschland durchgeführten Versuche zur Herstellung von Hoden- und Neurovakzine gehören. Die Experimente beruhten auf der Vorstellung, mit Hoden und Hirn Gewebe gefunden zu haben, auf dem primär sterile Lymphe gezüchtet werden könne. Das Verfahren verlor an Bedeutung, als Bakterien-freier Impfstoff durch feinere Anzuchtmethoden gewonnen werden konnte.
Erste Versuche, Gewebekulturvakzine zu züchten, waren schon 1913 in den USA erfolgreich unternommen worden, aber erst 1927 fand man eine Methode, die sich für die großtechnische Impfstoffproduktion eignete. Man nutzte die Möglichkeiten dieser Züchtung allerdings vierzig Jahre nicht voll aus. Erst als sich in den 1960er Jahren abzeichnete, dass Pockenimpfstoffe an Wirksamkeit und Reinheit anderen Impfstoffen, an die bereits hohe Anforderungen gestellt wurden, entsprechen müssen, wurde ein moderner Zellkultur-Impfstoff hohen Reinheitsgrades entwickelt und 1973 eingeführt. Impfstoffe dieser Qualität waren durch Beimpfen von Kälberhaut nicht herzustellen (26).
Als weitere Alternative zur Dermolymphe wurden etwa 1931 Bruteivakzine in die Laboratorien eingeführt. Sie wurden auf befruchteten Hühnereiern gezüchtet, die sich billig beschaffen ließen, künstlich bebrütet werden konnten - womit die kostenintensive Pflege und Wartung von Versuchstieren entfiel - und ein steriles Arbeiten im Labor erlaubten (27).
Durch physikalische oder chemische Behandlung der Lymphe können inaktivierte Virusimpfstoffe gewonnen werden. Ihre Wirkung beruht allein auf dem Gehalt an antigen wirksamen Substanzen. Da ihre immunisierende Wirkung nicht ausreicht, wurden sie als Vorimpfstoff verwendet - allerdings erst, nachdem Albert Herrlich, Leiter der Bayerischen Landesimpfanstalt, 1956 ein Vakzineantigen aus Formaldehyd-inaktivierten Vakzineviren entwickelt hatte. Erste Versuche zur Herstellung solcher Impfstoffe waren jedoch schon vor 1921 unternommen worden. Der von Herrlich entwickelte Vorimpfstoff konnte bei besonderer Indikation und mit Erfolg vor der Impfung mit der klassischen Glyzerinvakzine gespritzt helfen, die postvakzinale Enzephalitis zu vermeiden, die als Impfzwischenfall nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt in das Bewusstsein von Ärzten und der Bevölkerung drang. Dies war insofern bedeutsam, als die Erstimpfung wegen der Kriegsereignisse nicht durchgehend im Kleinkindalter erfolgt war und immer öfter überalterte Erstimpflinge geimpft werden mussten, die auf Grund der Einreisebestimmungen vieler Länder eine erfolgreiche Pockenimpfung nachzuweisen hatten.
Attenuierte Pockenimpfstoffe wurden entwickelt, nachdem zahlreiche andere Lebendimpfstoffe mit in ihrer Virulenz abgeschwächten Virusstämmen erfolgreich hergestellt worden waren. Bekannt wurde besonders der MVA-Impfstoff, der in der Bayerischen Impfanstalt nach Attenuierungsversuchen mit einem türkischen Dermovakzinestamm (CVA) hergstellt wurde. Der Stamm erhielt nach der 516. Passage den Namen Modifiziertes Vakzinevirus Ankara (MVA). Damit stand ein Impfstoff zur Verfügung, mit dem die Nebenwirkungsrate, die die sonstigen Pockenimpfstoffe aufwiesen, gesenkt werden konnte, wie der spätere weltweite Einsatz zeigte. Er sollte wegen seiner geringen Virulenz allerdings nur für die Vorimpfung zur Basisimmunisierung überalteter Erstimpflinge zugelassen werden.
Die Geschichte dieses wohl verträglichsten und vielversprechendsten Pockenimpfstoffs entbehrt jedoch nicht der Tragik. Die Endphase seiner Entwicklung fiel in eine Zeit gesetzlicher Neuregelungen - "Gesetz über die Errichtung eines Bundesamtes für Sera und Impfstoffe" vom 7. Juli 1972 (28) -, was seine breite Verwendung um mehrere Jahre verzögerte. Nun musste die Zulassung beim Paul-Ehrlich-Institut beantragt werden. Dabei rächte sich, dass sich die Impfanstalten bis zu diesem Zeitpunkt noch nie der Prozedur eines Zulassungsverfahrens hatten unterwerfen müssen und die Standards, die die Pharmazeutische Industrie bei der Impfstoffherstellung zu erfüllen gewohnt war, für die staatlichen Impfanstalten nie im gleichen Maße gegolten hatten. Das Paul-Ehrlich-Institut war gehalten, den MVA-Impfstoff entsprechend dem Stand der Technik und den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu prüfen und die Qualität und Unschädlichkeit der Pockenimpfstoffe mit gleichen Maßstäben zu messen, wie sie für alle übrigen Virusimpfstoffe galten. Für den Hersteller des MVA-Impfstoffes, die Bayerische Impfanstalt, war es jedoch schon äußerst schwierig, die notwendige Anzahl von Prüffällen zu erbringen; denn mit der Aufhebung der allgemeinen Impfpflicht 1976 sank die Zahl der Probanden deutlich.
Wäre dieser weniger risikoreiche Pockenimpfstoff vor dem 1. November 1972 in den Handel gekommen, hätte er danach verwendet werden können. So aber wurden zur regulären, gesetzlich vorgeschriebenen Impfung Pockenimpfstoffe eingesetzt, deren Qualität auf Grund der gesetzlichen Gegebenheiten erst Jahre später nachgewiesen werden mußte. Das Zulassungsverfahren für den MVA-Impfstoff zog sich von 1974 bis 1977 hin; aber schon 1979 erklärte die WHO die Pocken für weltweit ausgerottet.
Pocken-Lebendimpfstoffe sind in Deutschland nicht mehr im Verkehr. Nach Aufhebung des Impfgesetzes von 1874 im Jahr 1976 und weltweiter Tilgung der Pocken wurde nach und nach auch die Produktion der Impfstoffe eingestellt.
Pockenimpfstoff in Apotheke und Arzneibuch
Der Vertrieb von Pockenimpfstoffen erfolgte ursprünglich nur vereinzelt über Apotheken; denn die beamtete Ärzteschaft hegte dagegen lange Vorbehalte. Gern schrieb sie den Apothekern die Schuld an einem Impfversagen zu und forderte, ihnen das Handwerk zu legen, da diese die Lymphe falsch lagerten und, statt die Ärzte mit frischer Lymphe zu beliefern, erst ihre alte Lymphe abverkauften. Tatsächlich ließen die Impfergebnisse der von Apotheken belieferten Privatimpfärzte häufig zu wünschen übrig, was aber durch eine andere Impftechnik verursacht worden sein kann (29).
Abgabe und Lagerhaltung von Pockenimpfstoffen waren schon Ende des 19. Jahrhunderts gesetzlich geregelt worden. Ein Antrag zur schärferen Überwachung des von Apotheken betriebenen Lymphehandels fand Eingang in die Bundesratsbeschlüsse vom 28. April 1887 (30).
Die mit Impfstoff handelnden Apotheker bezogen diesen häufig aus privaten Impfanstalten und bewarben ihn offensiv und geschäftstüchtig, was das Misstrauen der Behörden und Politiker gegenüber diesem kommerziellen Vertriebsweg außerhalb der staatlichen Impfanstalten verstärkt haben wird. So wurde in den Bundesratsbeschlüssen vom 26. Juni 1899 der Handel mit Tierlymphe in Apotheken explizit geregelt und das Lymphebuch eingeführt, das den Apothekern bis zum Jahr 1976 erhalten bleiben sollte - für lange Zeit ein beliebtes Kontrollobjekt bei Apothekenbesichtigungen. Die Lymphe durfte bis zu drei Monate nach Abnahme abgegeben werden. Sie musste aus staatlichen Impfanstalten oder deren "Niederlagen" (Niederlassungen) oder aus solchen Privatanstalten, die einer staatlichen Aufsicht unterstanden, bezogen werden.
Die Errichtung von Niederlagen wurde durch die noch im Jahre 1900 erlassenen "Grundsätze für die Einrichtung von Niederlagen der Königlichen Anstalten zur Gewinnung thierischen Impfstoffes und für deren Betrieb" (32) gesetzlich geregelt. Ihre Anzahl hing von der Einwohnerzahl eines Ortes ab. Sie konnten sowohl Apothekenbesitzern und -leitern als auch Behörden unterstellt werden. Nach den genannten Grundsätzen durfte die Lymphe in den Niederlagen nur noch vier Wochen gelagert werden; danach konnte sie allerdings an die Impfanstalt zurückgegeben werden.
Apotheker, in deren Offizin eine solche Verteilstelle eingerichtetet worden war, durften Kuhpockenimpfstoff nur aus der Impfanstalt abgeben, für die sie zur Niederlage ernannt worden waren; sie durften weder Reklame dafür machen noch Wiederverkäufer beliefern. Es wurde ihnen lediglich erlaubt, Ärzten ihres Vertriebsbezirks zweimal jährlich anzuzeigen, dass ihnen die Verteilung seitens der Behörden übertragen worden sei.
In den in Preußen im Januar 1910 neu erlassenen "Grundsätzen für die Einrichtung und den Betrieb von Niederlagen der Königlichen Impfanstalten in Apotheken" (32) wurde die Niederlagenvergabe liberalisiert. Hiernach konnten alle in dieser Provinz befindlichen Apotheken Pockenimpfstoff vorrätig halten. Eine Rücknahme nicht verkauften Impfstoffs war jedoch nicht mehr vorgesehen. Der Impfstoff durfte nur in der Originalverpackung abgegeben werden, die so beschaffen sein musste, dass sie nicht ohne Zerreißen oder Zerbrechen des Verschlusses geöffnet werden konnte.
Die Verkaufspreise für Schutzpockenlymphe waren unterschiedlich. Sie wurden in jedem Bundesland getrennt festgesetzt oder hatten sich wie in Sachsen nach den gültigen Apothekentaxen zu richten. Für Heereszwecke oder Polizeiformationen galten niedrigere Preise, aber auch für Lieferungen an die an Polen abgetretenen vormals preußischen Gebiete (33).
Da die Apotheker den Pockenimpfstoff in Abgabe-fertiger Form erhielten und so weiterreichen mussten, konnten sie ihn auch nicht prüfen. Folgerichtig enthielten die deutschen Arzneibücher auch keine Pockenimpfstoff-Monographie. Erst 1972 wurde eine solche in das 1. Arzneibuch der DDR (DAB 7-DDR) aufgenommen (34). Dieses ab 1964 erschienene Arzneibuch war nicht hauptsächlich auf die Apotheke zugeschnitten, sondern ein für alle Zweige der Pharmazie, besonders für die pharmazeutische Industrie verbindliches Standardwerk, das in enger Zusammenarbeit mit der Pharmazeutischen Industrie der DDR erarbeitet wurde und als Loseblattsammlung ständig deren Anforderungen angepasst werden konnte.
Für die Bundesrepublik Deutschland wurden zum 1. Januar 1976 erstmals zwei Monographien zu Pockenimpfstoffen verbindlich, weil sie im Europäischen Arzneibuch enthalten waren. Bei allen drei Monographien handelte es sich um Dermolymphe. Neue Monographien wurden im 2. AB-DDR 1975 und im DAB 9 von 1986 veröffentlicht und ohne Änderung in die 10. Ausgabe des Deutschen Arzneibuches übernommen. In der zum 1. Januar 1997 gültig gewordenen 3. Ausgabe des Europäischen Arzneibuchs wurden die Monographien "Smallpox vaccine (dermal)" und "freeze dried (164)" wieder gestrichen (35) - eine überfällige Konsequenz aus dem Beschluss der WHO vom Dezember 1979, die Erde für pockenfrei zu erklären.
Pockenviren nur noch im Labor
Das 1967 von der Weltgesundheitsorganisation WHO eingeleitete Pockenausrottungsprogramm, an dem deutsche staatliche Impfinstitute allerdings nicht beteiligt wurden, hat innerhalb von zehn Jahren zum Erfolg geführt. Ein am 26. Oktober 1977 erkrankter Somali gilt nach einer WHO-Mitteilung von 1987 weltweit als der letzte Pockenfall, und Variolaviren werden auf der ganzen Erde nur noch in zwei Laboratorien, in Atlanta und in Moskau, zu Forschungszwecken erhalten. Das von der WHO 1987 beschlossene Datum (31. Dezember 1993), bis zu dem sämtliche Variola-Stämme zerstört werden sollten, wurde zwischenzeitlich auf 1996, dann auf den 30. Juni 1999 und schließlich auf Vorschlag eines Komitees der 52th World Health Assembly (WHA) am 24. Mai 1999 von der WHO nochmals verschoben - bis spätestens zum Jahre 2002 (37).
Pockenschutzimpfstoffe sind grundsätzlich überflüssig geworden, da das Virus als ausgerottet gelten kann. Orthopoxvirus variolae, der ausschließlich für den Menschen pathogene Erreger der Menschenpocken, ist an die Infektkette von Mensch zu Mensch gebunden und kann nur übertragen werden, solange der infizierte Mensch lebt und die Krankheit noch nicht überwunden hat. Auch die Infektkette des originären Kuhpockenvirus (Orthopoxvirus bovis) scheint seit mehr als zwei Jahrzehnten abgebrochen zu sein, doch kommen mehrere Varianten in anderen Wirtstieren vor. Die späteren Vakzineviren (Orthopoxvirus commune) sind dagegen Hybridviren. Auf der engen Verwandtschaft der Antigene aller Orthopoxviren beruht die Möglichkeit der Schutzimpfung.
Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass es bei den Passagen durch verschiedene Wirte oder Zellkulturen wegen der großen Vermehrungsrate der Viren häufig zu Spontanmutationen kommt. Deshalb ist heute nicht mehr festzustellen, ob die verschiedenen Pockenviren des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zumindest hinsichtlich ihrer Virulenz identisch mit den im 20. Jahrhundert untersuchten sind, welches das Pocken-Urvirus war und welche genetischen Verwandtschaftsverhältnisse bestanden.
So ist es durchaus möglich, dass sich nicht nur im Hochmittelalter durch Spontanmutationen ein spezifisch und hoch Menschen-pathogenes Variola-Virus entwickelte, wodurch sich das Fehlen einer auf die Pocken zutreffenden Krankheitsbeschreibung in der antiken und frühmittelalterlichen Literatur erklären ließe - umstritten ist weiterhin, ob es sich bei dem von dem arabischen Mediziner Rhazes (865 bis 923/932) beschriebenen Krankheitsbild um eine Masern- oder Pockenerkrankung handelte (37). Möglich ist ferner, dass eine weitere Spontanmutation im Laufe des 17. Jahrhunderts entweder die Virulenz des Variolavirus abgeschwächt oder das Rinderpockenvirus diesem mehr angepasst hat - was überhaupt erst die Möglichkeit der Pockenschutzimpfung mittels Kuhpockenviren eröffnet haben und das Auftreten entsprechender Nachrichten seit etwa 1769 erklären könnte. Somit könnte der Beginn der Gewinnung von Pockenimpfstoffen nicht nur auf einer Entdeckung und ihrer systematischen Auswertung, sondern sogar auf einer Spontanentstehung des Entdeckten selbst beruhen.
Literatur:
Anschrift der Verfasser:
Dr. Eva-Maria Henig und
Professor Dr. Fritz Krafft
Institut für Geschichte der Pharmazie der Philipps-Universität,
Roter Graben 10,
35032 Marburg
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