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Wissenschaftliche Schulen und die Marburger Pharmazie

09.07.2001  00:00 Uhr

PHARMAZIEGESCHICHTE

Wissenschaftliche Schulen und die Marburger Pharmazie

von Christoph Friedrich, Marburg

An der Universität Marburg, an der am 22. April 1851 ein selbstständiges Pharmazeutisch-Chemisches Institut entstand, besitzt die Pharmazie besonders reiche Traditionen. Hier war bereits 1609 Johannes Hartmann (1568 bis1631) zum Professor der Chymiatrie berufen worden, und 1786 nahm mit dem Schüler Jakob Reinbold Spielmanns (1722 bis 1783), Conrad Moench (1744 bis 1805), erneut ein Hochschullehrer seine Tätigkeit auf, der sich besonders engagiert der Apothekerausbildung widmete. Jedoch wurde die Pharmazie von Moench und seinen Nachfolgern wie auch anderenorts stets in enger Abhängigkeit von der Chemie gelehrt (1). 1851, also vor 150 Jahren, erlangte die Pharmazie in Marburg ihre wissenschaftsorganisatorische, personelle und wirtschaftliche Selbstständigkeit.

Die Verselbstständigung der Pharmazie erfolgte zu einem Zeitpunkt als dieses Fach an den meisten deutschen Universitäten noch ein Schattendasein fristete und von Professoren der Chemie mitvertreten wurde (2). Im folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, warum sich in Marburg so früh eine eigenständige Pharmazie bildete und wie sich dies auf die weitere Entwicklung der Hochschulpharmazie auswirkte.

Robert Wilhelm Bunsen und die Pharmazie

Die Emanzipation der Pharmazie in Marburg ist eng mit dem Namen Robert Wilhelm Bunsens (1811 bis 1899) verbunden. Bunsen war 1839 von Kassel, wo er an der Höheren Gewerbeschule Chemie unterrichtet hatte, nach Marburg versetzt worden und entfaltete hier eine rege Lehr- und Forschungstätigkeit. Obwohl Bunsen, der 1841 - also im Alter von 30 Jahren - zum Ordinarius berufen wurde, über einen stetig wachsenden Etat verfügte, kam es mit steigenden Studentenzahlen zu finanziellen Schwierigkeiten. Als Ausweg empfahl Bunsen eine Verringerung der Studentenzahl zugunsten einer qualitativ besseren Ausbildung. Man darf wohl vermuten, dass er hier auch an eine Reduzierung der Pharmaziestudenten gedacht hatte, die der Chemiker sicher nicht als ebenbürtig betrachtet haben dürfte.

Die Universität Marburg wünschte aber keinesfalls eine Verminderung der Studentenzahl, weshalb Bunsens Etat sowie sein Gehalt 1850 erneut angehoben wurden. Dennoch verließ er ein Jahr später Marburg, da ihm die Universität Breslau den Bau eines neuen Chemischen Institutes zugesagt hatte. Zuvor konnte er indessen noch die Verselbstständigung der Pharmazie in Marburg durchsetzen (3). Hierzu mögen ihn verschiedene Gründe bewogen haben, von denen einige genannt werden sollen:

Bunsen war selbst - im Unterschied zu anderen Chemikern seiner Zeit - kaum an pharmazeutischen Fragen interessiert. Christoph Meinel konnte nur eine einzige Arbeit zu einem pharmazeutisch-pharmakologischen Thema in Bunsens Werk ausmachen (4). Bunsen kann aber im Unterschied zu vielen seiner Fachkollegen als ein Chemiker bezeichnet werden, der seine Disziplin nicht als "reine Lehre", gewissermaßen im "Elfenbeinturm" betrieb, sondern sich auch für praktische Probleme interessierte. Bereits in seiner Dissertation hatte er sich mit dem Hygrometer beschäftigt, und seiner Promotion folgte eine sechzehnmonatige Studienreise, in der er neben chemischen Fabriken und Laboratorien auch Bergwerke und Maschinenfabriken besichtigte.

Diese detaillierten Einblicke in die Errungenschaften der Industriellen Revolution hatte er anderen Chemieprofessoren, die meist über das Medizinstudium zur Chemie gekommen waren, fraglos voraus. So schien ihm der Gedanke, dass praktische Fächer wie auch die Pharmazie einer eigenen wissenschaftlichen Ausbildung bedürfen, wohl nicht fremd (5). Zudem stand offenbar mit Constantin Zwenger (1814 bis 1884) eine nach Ansicht Bunsens besonders geeignete Persönlichkeit für die Vertretung der Pharmazie zur Verfügung.

Bunsen - obwohl ein bedeutender Lehrer und Forscher - vermochte allerdings selbst keine Schule zu begründen. Offenbar duldete er Schüler nur so lange neben sich, wie diese bereit waren, nach seinen Anweisungen Untersuchungen durchzuführen, weshalb überragende Chemiker wie Hermann Kolbe (1818 bis 1884) Bunsen schon nach kurzer Zeit wieder verließen. Constantin Zwenger war ein Schüler Bunsens, unter dem er sich 1841 für Chemie und Medizin habilitiert hatte. Auf Antrag seines Lehrers wurde Zwenger drei Jahre später zum außerordentlichen Professor ernannt (6).

Möglicherweise trug aber auch die Tatsache, dass Zwenger von Hause aus Mediziner und nicht Apotheker war, dazu bei, dass Bunsen ihn besonders förderte. Im Unterschied dazu verwehrte er nämlich in Heidelberg, wo er nach 1853 tätig war, dem Apotheker Georg Friedrich Walz (1813 bis 1862) seine Unterstützung, sprach sich gegen dessen Ernennung zum Professor aus und äußerte sich zudem negativ über das Studium der Apotheker (7).

Das Pharmazeutisch-Chemische Institut unter Zwenger

Bevor Bunsen 1851 nach Breslau wechselte, empfahl er, den Etat des Chemischen Institutes von 1000 auf 700 Taler herabzusetzen und stattdessen dem Pharmazeutisch-Chemischen Institut drei Räume sowie 300 Taler als jährliche finanzielle Mittel zuzuweisen. Die Universität folgte diesen Vorschlägen. Die Tatsache aber, dass ein Institut auf Kosten eines anderen entstand, sollte den Fortbestand des Pharmazeutisch-Chemischen Instituts in den nächsten Jahrzehnten immer wieder gefährden.

So stellte Hermann Kolbe, der die Nachfolge Bunsens angetreten hatte, 1860 den Antrag, das Pharmazeutisch-Chemische Institut wieder mit dem Chemischen zu vereinigen, da, wie er ausführte, "keines von beiden die Mittel besitzt, die zu einem lebenskräftigen Gedeihen und erfolgreicher Wirksamkeit notwendig sind". Es gab weitere Interventionen Kolbes, weil Zwenger auch Übungen zur Allgemeinen Chemie anbot und so in Konkurrenz zu Kolbe trat. Obwohl Zwenger insbesondere mit seinen phytochemischen Studien einen Beitrag zur pharmazeutischen Forschung leistete, blieb er doch im eigentlichen Sinne Chemiker. Kolbes Antrag wurde indessen abgewiesen, was wohl mit zu seinem Weggang 1865 aus Marburg führte.

Aber auch mit den Nachfolgern Kolbes gab es immer wieder Auseinandersetzungen, da das "sogenannte Pharmazeutisch-chemische Institut ...tatsächlich ein zweites chemisches" war (8). 1873 konnte das Pharmazeutisch-Chemische Institut einen Neubau beziehen und verfügte damit über eines der modernsten Marburger Institutsgebäude.

Theodor Zincke (1843 bis 1929), der 1875 die Leitung des Chemischen Instituts übernommen hatte und selbst dem Apothekerberuf entstammte, vertrat zwar die Ansicht, "dass wir alles aufbieten müssen, den deutschen Apothekerstand hoch zu halten und wenn möglich noch zu heben", da Apotheker insbesondere in kleinen Orten häufig die "Träger der naturwissenschaftlichen Bildung" seien. Als Zwenger aber 1884 starb, schlug Zincke dem preußischen Kultusminister Friedrich Althoff (1839 bis 1908) die Aufhebung des Pharmazeutisch-Chemischen Institutes vor. In einem Gespräch in Berlin einigten sich Zincke und Althoff schließlich darauf, das Institut fortbestehen zu lassen, jedoch seine Lehraufgaben ganz auf pharmazeutische Fächer zu beschränken. Als Nachfolger Zwengers kam deshalb nur ein Apotheker in Frage (9).

Auf Empfehlung des Straßburger Professors Friedrich August Flückiger (1828 bis 1894) erhielt 1884 der aus Halle kommende Ernst Schmidt (1845 bis 1921) den Ruf, wobei das Institut in "Pharmazeutisches Institut" umbenannt wurde. Schmidt gelang es in Marburg eine wissenschaftliche Schule zu begründen, die von seinem Nachfolger fortgesetzt wurde, eine Ausstrahlung weit über Marburg hinaus besaß und der Pharmazie insgesamt bemerkenswerte Impulse gab. Im folgenden sollen zunächst einige Anmerkungen zum Phänomen der wissenschaftlichen Schule folgen.

Der Begriff und die Merkmale der "wissenschaftlichen Schule"

Der Terminus "Schule" gehört zu den häufig verwendeten Begriffen der Sprache und findet sich bereits im Brockhaus-Lexikon von 1817, wo Philosophen- und Malschulen erwähnt werden (10). Meyers "Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände" aus dem Jahre 1851 definiert die Schule als "Anhänger eines berühmten Meisters in der Wissenschaft und Kunst" beziehungsweise als einen Kreis von "Männern, welche durch Ansichten oder Methoden eines originellen Lehrers oder Meisters, welchem Sie in ihren Werken gefolgt sind, oder durch Nationalität einen gemeinschaftlichen Charakter angenommen haben".

Dementsprechend ist ein Schüler jemand, "der die Grundsätze seines Lehrers in den eigenen Werken befolgt" beziehungsweise der "Zögling eines Gelehrten oder Künstlers" (11). Neuere Lexika verstehen den Terminus Schule in analoger Weise, obgleich Wissenschaftshistoriker stets betonen, dass eine allgemeingültige Definition fehle.

Um eine vergleichbare Analyse von unterschiedlichen Forschungs- und Ausbildungsstätten zu ermöglichen, erwies es sich als notwendig, solche Untersuchungsschwerpunkte auszuwählen, die zum einen als Merkmale wesentliche Seiten einer wissenschaftlichen Schule widerspiegeln, zum anderen aber quellenmäßig fassbar sind; und zwar sowohl für Schulen im 18. als auch im 19. und 20. Jahrhundert. Demgemäß wurden die Schulmerkmale

  • der Leiter,
  • das Forschungsprogramm,
  • die Schüler,
  • der Arbeitsstil und
  • die wissenschaftliche und soziale Anerkennung

als geeignete Untersuchungsschwerpunkte festgelegt.

Die Untersuchungen umfassen zunächst biographische Studien zum Schulenleiter, wobei vor allem dessen pädagogisches und organisatorisches Können, aber auch seine Leistungen als Forscher im Mittelpunkt stehen. Für die Analyse des Forschungsprogramms ist die quantitative und qualitative Auswertung der gesamten Forschungsergebnisse der Lehrer-Schüler-Gemeinschaft erforderlich. Die Untersuchungen zum Schulenmerkmal Schüler zielen nicht nur auf deren möglichst vollständige Erfassung, sondern schließen zugleich eine Differenzierung der Schüler nach der Zeitdauer ihrer Zugehörigkeit zur Schule sowie die Verfolgung ihres weiteren Lebensweges ein. Studien zum Arbeitsstil gründen sich auf die Beschreibung des "Schulenklimas", der Kommunikationsbeziehungen sowie der organisatorischen und apparativen Bedingungen, während die Analyse der wissenschaftlichen und sozialen Anerkennung nach "autoritativen Zeugnissen" über die Stellung des Lehrers und der gesamten Lehrer-Schüler-Gemeinschaft in der "scientific community" sucht.

Demgemäß verstehen wir unter einer wissenschaftlichen Schule eine Organisationsform schöpferischer Tätigkeit, die auf der Basis einer pharmazeutischen Ausbildungs- und Forschungsstätte existiert und neben der Herausbildung eines wissenschaftlichen Nachwuchses mit besonderen kreativen Potenzen ein vom Leiter der wissenschaftlichen Schule generiertes Forschungsprogramm bearbeitet, das in methodisch-methodologischer und/oder wissenschaftstheoretischer Hinsicht neu ist und demzufolge im Verlauf eines Wettbewerbes - eventuell mit anderen Schulen - um allgemeine Anerkennung kämpfen muss (12).

Die wissenschaftliche Schule von Ernst Schmidt

Ernst Schmidt, der 1845 als Sohn eines Fabrikanten in Halle geboren wurde, studierte ab 1869 an der dortigen Universität. Sein Lehrer war dort der Chemieprofessor Wilhelm Heinrich Heintz (1817 bis 1880), ein Schüler des berühmten Apothekers und Chemieprofessors Heinrich Rose (1795 bis 1864) (13). 1870 - die deutsche Apothekerbiographie schreibt fälschlich 1871 - bestand Schmidt die Pharmazeutische Staatsprüfung (14). Anschließend arbeitete er unter Heintz an seiner Dissertation.

Da Schmidt, wie die meisten Apotheker seiner Zeit, kein Abitur hatte, war die Promotion an einer preußischen Universität nicht möglich, weshalb er an der Universität Leipzig promoviert wurde (15). Nachdem er 1872 das Abitur in Aschersleben nachgeholt hatte, setzte er seine Studien an der Universität Berlin und danach wieder als Assistent bei Heintz in Halle fort, mit dem Ziel sich zu habilitieren. 1874 hielt er seine Probevorlesung zum Thema "Über die Synthese in der Organischen Chemie" sowie sein Antrittskolleg "Über den Kohlenstoff in der organischen Natur" (16). Als Privatdozent las er nun in Halle Pharmazeutische und Analytische Chemie, "Ausmittlung von Giften und Nahrungsmitteln", sowie "Ueber Alkaloide" und schließlich auch "Ausgewählte Kapitel der Geschichte der Chemie".

1878 wurde Schmidt zum Extraordinarius ernannt und übernahm nach dem Tod von Heintz vertretungsweise die Direktion des Chemischen Laboratoriums und des Pharmazeutischen Institutes. 1881 bemühte er sich um die Gründung eines selbstständigen, das heißt vom Chemischen Laboratorium getrennten, Pharmazeutischen Instituts in Halle. Der Vorschlag wurde indessen abgelehnt, weshalb Schmidt, nachdem 1882 Jakob Volhard (1834 bis 1910) das Ordinariat für Chemie in Halle erhalten hatte, einen Ruf als Nachfolger Zwengers zum ordentlichen Professor für Pharmazeutische Chemie und Direktor des Pharmazeutischen Institutes Marburg gern folgte (13). Hier gelang es ihm, eine Schule der Pharmazeutischen Chemie aufzubauen.

Als Leiter seiner Schule war Schmidt Generator aller Themen, die er gemeinsam mit seinen Schülern bearbeitete. Die Breite seiner Forschungsgebiete und die dabei entfalteten Aktivitäten rechtfertigen es, ihn gemäß der Klassifizierung großer Wissenschaftler nach Wilhelm Ostwald, dem Typ des "Romantikers" zuzuordnen (17), der eine Vielzahl von Ideen in die Pharmazeutische Chemie einbrachte. Auch sein umfangreiches Lehrangebot widerspiegelt sein tiefes, vielseitiges, enzyklopädisches Wissen. Bereits in seiner Antrittsvorlesung in Marburg kennzeichnete er als Ziel des Pharmaziestudiums die Ausbildung für den "öffentlichen Sanitätsdienst". Hierfür hielt er neben einer praktischen Apothekerausbildung eine naturwissenschaftliches Grundlagenstudium für unverzichtbar (13). Seine Hauptvorlesung Pharmazeutische Chemie gestaltete er vornehmlich als eine Allgemeine Chemie, in der er das für die Pharmazie Wichtige jeweils hervorhob.

Daneben bewies Schmidt ausgeprägtes organisatorisches Talent, indem er nicht nur zahlreiche Ämter nebeneinander ausübte, sondern auch die apparative Ausstattung seines Instituts beträchtlich zu erweitern vermochte (18).

Schmidts wissenschaftliches Werk umfasst neben zwei Lehrbüchern 197 Publikationen, sowie 113 von ihm betreute Promotions- und vier Habilitationsschriften. Zwei Drittel seiner wissenschaftlichen Arbeiten waren der Phytochemie gewidmet, der sich damals vor allem die pharmazeutischen Chemiker zuwandten, während die Pharmakognosie noch überwiegend eine beschreibende Wissenschaft war. Im Mittelpunkt dieses Forschungskomplexes stand die Alkaloidchemie, ein Gebiet, das bekanntlich 1805 von dem Paderborner Apothekergehilfen Friedrich Wilhelm Sertürner (1783 bis 1841) begründet worden war. 1876 begann sich Schmidt in Halle mit Veratrumalkaloiden zu befassen. Später kamen Studien über Papaveraceenalkaloide - zunächst über Morphin - hinzu. Schmidt und seine Schüler fanden die Summenformeln des Chelidonins, des Chelerythrins und Sanguinarins.

Nach 1881 standen dann vor allen Solanaceenalkaloide im Mittelpunkt seines Interesses. So stellte Schmidt fest, dass Atropin in Hyoscyamin überführbar ist. 1888 gelang ihm die Isolierung des Scopolamins. Weitere Pflanzenbasen, mit denen er sich befasste, waren die Purin- und Berberidaceenalkaloide. 1917 gelang ihm gemeinsam mit August Eberhard (1887 bis 1960) die Synthese des Ephedrins (13).

Schmidts Schüler lassen sich in drei Gruppen einteilen: Vier können als Schüler im engsten Sinne bezeichnet werden, da sie ihre gesamte wissenschaftliche Qualifikation bis zur Habilitation unter Schmidt absolvierten. 109 Schüler, die unter ihm promovierten, davon allein 100 in Marburg, gelten als Schüler im engeren Sinne, standen sie doch während der Arbeiten an ihren Dissertationen in engem Kontakt zum Schulenleiter. Zu den Schülern im weiteren Sinne gehören seine insgesamt 1200 Pharmaziestudenten. Aus der Schmidt-Schule ging eine Reihe späterer Hochschullehrer hervor, darunter Alfred Partheil (1861 bis 1909), Johannes Gadamer (1867 bis 1928), Oscar Keller (1877 bis 1959), Karl Feist (1876 bis 1952), Hermann Emde (1880 bis 1935), Franz Lehmann (1881 bis 1961) und Erwin Rupp (1872 bis 1856). Sie trugen die methodischen Erfahrungen der Schmidt-Schule nach Basel, Breslau, Gießen, Göttingen, Greifswald, Jena und Königsberg (13).

Der Arbeitsstil der Schmidt-Schule war durch eine besonders enge Lehrer-Schüler-Kommunikation gekennzeichnet. Wie es in den Quellen heißt, stand Schmidt "dem Unterricht den ganzen Tag zur Verfügung [...]. Von einem Arbeitsraum in den anderen gehend, besprach er in unaufhörlichem Turnus mit jedem einzelnen Praktikanten dessen Arbeit. Sein erstaunliches Gedächtnis für Sache und Person ermöglichte ihm die individuelle Behandlung jedes einzelnen seiner Schüler und die Darbietung immer neuer Anregungen" (19).

Die wissenschaftliche und soziale Anerkennung der Schmidt-Schule widerspiegelt sich einerseits in der Tatsache, dass ein großer Teil seiner Doktoranden Ausländer war, die die Anregungen der Schmidt-Schule nach Holland, Schweden, Finnland, Russland, England, Chile und in die USA trugen. Die Anerkennung widerspiegelt sich andererseits aber auch darin, dass vierzehn Schmidt-Schüler auf zum Teil bedeutende Lehrstühle berufen wurden. Ernst Schmidt, der schon zu Lebzeiten als "Vater der pharmazeutischen Chemie" galt, hinterließ mit dem Bau eines neuen Hörsaal- und Institutsgebäudes in Marburg unverkennbare Spuren. 1919 übergab er im Alter von 74 Jahren das Amt an seinen Schüler Johannes Gadamer (13).

Die Gadamer-Schule

Gadamer darf wohl als der bedeutendste Schmidt-Schüler bezeichnet werden, der nicht nur das Werk seines Lehrers fortsetzte, sondern dem es gleichfalls gelang, in Marburg eine Schule zu begründen. Inwieweit es sich dabei um eine eigenständige oder aber um die Fortsetzung der sogenannten "Ersten Marburger Schule" handelt (6), soll hier nicht erörtert werden. Aber die Tatsache, dass Gadamer eine Reihe der Schmidtschen Forschungsarbeiten weiterführte, weist zumindest auf eine enge Verwandtschaft beider Schulen hin.

Johannes Gadamer wurde als Sohn eines Fabrikanten im schlesischen Waldenburg geboren und begann seine pharmazeutische Ausbildung in Magdeburg bei dem Apotheker Wilhelm Danckwortt (1822 bis 1892). Danckwortt, einer der markantesten Standesapotheker jener Zeit - 1868 wurde er Oberdirektor des Norddeutschen Apothekervereins - prägte den jungen Apothekenlehrling nachhaltig, zumal Danckwortt als Vorsitzender der Arzneibuchkommission auch in wissenschaftlicher Hinsicht Kompetenz besaß.

Nach dem Studium der Pharmazie, das Gadamer 1891 in Marburg begann und mit dem pharmazeutischen Staatsexamen abschloss, wurde er 1895 unter Ernst Schmidt promoviert. Die Habilitation erfolgte bereits zwei Jahre später für Pharmazeutische und Nahrungsmittelchemie (21). 1902 übernahm Gadamer den Lehrstuhl für Pharmazeutische Chemie an der Universität Breslau. Hier entfaltete er eine engagierte Lehr- und Forschungstätigkeit (20).

Siebzehn Jahre später kehrte er nach Marburg zurück; wie aus den Quellen ersichtlich, erfolgte seine Berufung auf Grund einer Einerliste. Im maßgeblichen Gutachten hieß es: "Nur Gadamer hat die wissenschaftliche Bedeutung, Nachfolger von Professor E. Schmidt zu werden" (21). Bis zu seinem Tode leitete Gadamer das Marburger Institut.

Auch Gadamer verfügte, wie seine Schüler übereinstimmend berichteten, über ein vielseitiges und enzyklopädisches Wissen, das sich nicht nur auf die Pharmazeutische Chemie, sondern ebenso auf andere Gebiete, wie zum Beispiel die Toxikologie erstreckte. Seine Doktoranden und Studenten erzog er mit pädagogischem Geschick zur selbstständigen wissenschaftlichen Arbeit. Er wird als kraftvolle Persönlichkeit, aber auch als stiller, fester und pflichtbewusster Mensch geschildert, der zugleich über scharfen Witz und eine "tüchtige Dosis Sarkasmus" verfügte (23).

Von Gadamers wissenschaftlichem Werk entfällt freilich nur ein kleinerer Teil auf die Marburger Zeit, insgesamt verfasste er drei Bücher und 100 Veröffentlichungen. Gadamer, der sich 1897 über die Bestandteile des schwarzen und weißen Senfsamens habilitiert hatte (24), setzte die Untersuchungen von Senfölglycosiden später fort. Im Rahmen der Alkaloidchemie beschäftigte er sich zunächst mit Corydalisalkaloiden; 1923 konnte er die Struktur des Corydalins aufklären und zwei Jahre später durch die Synthese verifizieren. Weitere Alkaloide, mit denen sich Gadamer gemeinsam mit seinen Schülern befasste, waren Chelidonium- sowie Solanaceenalkaloide. Als Weiterführung des Forschungsprogramms der Schmidt-Schule können Gadamers Vorschläge für Gehaltsbestimmungen von Alkaloiden gelten, die Eingang in das DAB 6 fanden, an dessen Fertigstellung er bedeutenden Anteil hatte.

Als Schüler im engsten Sinne muss Friedrich von Bruchhausen (1886 bis 1966) bezeichnet werden. 46 Personen, die von Gadamer promoviert wurden, gelten als Schüler im engeren Sinne. Im Hinblick auf seinen Arbeitsstil verdient Erwähnung, dass seine Forschergruppe relativ klein war, weshalb aber eine sehr enge Zusammenarbeit mit den Schülern möglich wurde. Die wissenschaftliche und soziale Anerkennung der Schule zeigt Gadamers Stellung als führender Alkaloidchemiker seiner Zeit. Als Krönung seines Werkes gelten die für das DAB 6 konzipierten Bestimmungen sowie sein "Lehrbuch der chemischen Toxikologie", das als ein Standardwerk der analytischen Kunst bezeichnet wurde. 1922/23 avancierte Gadamer gar zum Rektor der Philippina, was gleichfalls für seine Anerkennung an der Universität spricht (20).

Gadamer starb 1928 viel betrauert, und mit ihm endete eine große Epoche der Pharmazie in Marburg, in der diese Universität das Zentrum der Pharmazeutischen Chemie in Deutschland geworden war. Die Schüler von Schmidt und Gadamer sorgten indessen dafür, dass der Name Marburg weiterhin einen guten Klang bei Pharmazeuten behielt.

Gadamers Nachfolge trat 1928 Kurt Brand (1877 bis 1952) an, der vor allem mit präparativ-organisch-chemischen Arbeiten hervortrat (1, 2). Leben und Werk von Brand untersucht gegenwärtig Claus Gansen im Rahmen seiner von Fritz Krafft, betreuten Dissertation. Ohne den Ergebnissen hier vorzugreifen, darf aber wohl eingeschätzt werden, dass Brand keine wissenschaftliche Schule zu begründen vermochte. Dies resultiert nicht zuletzt auch aus den politischen Verhältnissen, die die Wissenschaftsentwicklung beeinflussten und nach 1933 - verstärkt dann aber nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges - eine nachhaltige Profilierung der Forschung verhinderten.

Jedoch war es ein Glücksfall, dass 1946 mit Horst Böhme (1908 bis 1996) einer der bedeutendsten Vertreter der Schule um Carl Mannich (1877 bis 1947) nach Marburg berufen wurde.

Die Böhme-Ära

Horst Böhme, der 1908 als Sohn eines Apothekers in Bernau geboren wurde, studierte an der Universität München Pharmazie und Chemie. 1933 wechselte er nach Berlin, um hier an dem von Carl Mannich geleiteten Institut seine Doktorarbeit anzufertigen, die er bereits ein Jahr später erfolgreich abschloss. 1935 legte Böhme zusätzlich das Staatsexamen als Lebensmittelchemiker ab und habilitierte sich drei Jahre später. 1943 begann er eine Tätigkeit als Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und wurde zugleich zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Nach Kriegsende übernahm er 1946 die Lehrstuhlvertretung an der Universität Marburg, der bald darauf die Ernennung zum Ordinarius und Institutsdirektor folgte.

Böhme entwickelte - wie Schmidt und Gadamer - eine imposante Lehr- und Forschungsarbeit, die Marburg wiederum zum Mekka der Pharmazeutischen Chemie werden ließ (25).

Eine eingehende Analyse des Wirkens von Böhme und seinem Schülerkreis steht noch aus, indes deuten die Tatsachen darauf hin, dass auch Böhme schulenbildend wirkte. Dies bestätigt wohl auch die von Rudolf Schmitz gewählte Bezeichnung "erste Marburger Schule" für die Lehrer-Schülergemeinschaften um Schmidt und Gadamer, die nahe legt, dass es mindestens eine zweite geben müsste.

Zu Böhmes Doktoranden gehörten bedeutende Wissenschaftler, die selbst Hochschullehrer wurden, wie Erich Schneider, Norbert Kreutzkamp, Rudolf Schmitz, Gerwalt Zinner, Theodor Severin, Hans-Dietrich Stachel, Fritz Eiden, Richard Neidlein, Helmut Stamm, Klaus Hartke, Siegfried Ebel, Gunther Seitz, Bernard Unterhalt, Eberhard Nürnberg, Manfred Haake, Hans-Hartwig Otto, Roland Bitsch, Rainer Braun und Bernd Clement. Gemeinsam mit seinen Schülern, die überwiegend noch ein Chemiestudium anschlossen, entwickelte Böhme ein Forschungsprogramm, das die Entwicklung der Pharmazeutischen Chemie in der Bundesrepublik nachhaltig prägte. Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeiten standen synthetische Untersuchungen auf dem Gebiet der organischen Schwefel- und Stickstoffderivate.

Durch Einwirkung von Chlor auf Aminale gelangte Böhme 1957 zu einer neuen Verbindungsklasse, den Iminiumhalogeniden, für die in der Folgezeit weitere Synthesemöglichkeiten entwickelt wurden. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bildeten Untersuchungen auf dem Naturstoffgebiet, speziell ätherische Öle, aber auch Alkaloide. Einige der von Böhme gemeinsam mit seinen Schülern entwickelten Methoden fanden Eingang in das Deutsche beziehungsweise Europäische Arzneibuch. Enge Kontakte ergaben sich zur pharmazeutischen Industrie, die in einen Mitarbeitervertrag mit der Hoechst AG zwischen 1952 und 1978 mündeten. Zahlreiche Patentanmeldungen sowie die Anstellung von Böhme-Schülern in der Industrie verdeutlichen die engen Beziehungen.

19 Böhme-Schüler habilitierten sich, während die 158 Doktoranden, davon 146 in Marburg, als "Schüler im engeren Sinne" bezeichnet werden können. Schüler von Böhme besetzten unter anderem Lehrstühle in Berlin, Braunschweig, Erlangen, Freiburg, Greifswald, Hamburg, Heidelberg, Kiel, Marburg, München, Münster und Würzburg. Einige profilierten sich zudem für andere Fächer wie Lebensmittelchemie und Geschichte der Pharmazie, so dass Böhme nicht nur einen beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Pharmazeutischen Chemie, sondern der Pharmazie insgesamt in Deutschland ausübte (25).

Schmitz und sein Schülerkreis

In ähnlicher Weise wie Böhme wirkte auch der Marburger Pharmaziehistoriker Schmitz prägend für sein Fach. Rudolf Schmitz (1918 bis 1992), der 1952 in Marburg unter Horst Böhme mit einer pharmazeutisch-chemischen Arbeit promoviert wurde, setzte danach sein bereits während des Krieges begonnenes Geschichtsstudium fort. 1955 erhielt er einen Lehrauftrag für Geschichte der Pharmazie und habilitierte sich zwei Jahre später für dieses Fach. Er gründete noch im gleichen Jahr ein Seminar für Geschichte der Pharmazie und wurde 1963 zum außerplanmäßigen, ein Jahr später zum außerordentlichen und schließlich 1967 zum Ordinarius für Geschichte der Pharmazie ernannt.

Mit großem diplomatischem Geschick gelang es ihm, 1965 ein Institut für Geschichte der Pharmazie zu schaffen, das bisher das einzige seiner Art in Deutschland blieb. Gegründet auf seine eigenen historischen Studien und der Erkenntnis, dass der vornehmlich naturwissenschaftlich ausgebildete Apotheker einer speziellen geisteswissenschaftlichen Schulung bedarf, richtete er ein Aufbaustudium für Doktoranden auf dem Gebiet der Geschichte der Pharmazie und der Naturwissenschaften ein. Damit ermöglichte er ein hohes Niveau der an seinem Institut angefertigten pharmaziehistorischen Arbeiten, das sich durchaus mit dem geisteswissenschaftlicher Dissertationen vergleichen lässt und dazu führte, dass Deutschland ganz wesentlich das internationale Niveau auf dem Gebiet der Pharmaziehistoriographie bestimmt.

Nicht wenige der unter der Leitung von Schmitz angefertigten Promotionsschriften dokumentieren grundlegende pharmaziehistorische Erkenntnisse und methodische Fortschritte. Sie rechtfertigen die Vermutung, dass es auch Schmitz gelang, in Marburg eine wissenschaftliche Schule zu begründen.

Peter Dilg würdigte 1995 in der Gedenkschrift für Rudolf Schmitz "Inter folia fructus" dessen Leistungen als Pharmaziehistoriker (27); eine umfassende Studie über Schmitz und seinen Schülerkreis steht allerdings noch aus. Erst diese wird dann im Detail den Nachweis für die Existenz einer wissenschaftlichen Schule erbringen. Deshalb können hier nur einige kurze Anmerkungen im Sinne unserer Schulendefinition erfolgen.

Ohne Frage war auch Schmitz ein Wissenschaftler mit bemerkenswerter Ausstrahlungskraft, der es verstand, seine Schüler für die Forschung zu begeistern, der zugleich aber auch die längst verloren gegangene Einheit der Pharmazie immer wieder anmahnte, wozu die Brücke zu den Geisteswissenschaften im Sinne einer Horizonterweiterung einen Beitrag leisten sollte. Schmitz war ein glänzender Organisator, der sein diplomatisches Geschick als Präsident zahlreicher Gesellschaften und Gremien immer wieder unter Beweis stellte. Im Unterschied zu vielen Wissenschaftshistorikern, die ihre Studien fernab vom Trubel der Welt im "stillen Kämmerlein" vornehmen und kaum Schüler haben - Ostwald bezeichnet solche Forscher als "Klassiker" - war Schmitz gemäß dieser Klassifizierung ein typischer "Romantiker" (17). Er bearbeitete eine Fülle von Themen mit einer großen Schülerschar, wobei es ihm primär nicht um das einzelne Detail, sondern vor allem um Entwicklungslinien und wesentliche Zusammenhänge ging.

Dies belegt auch sein breit gefächertes Forschungsprogramm, das von Studien über die Entstehung des Apothekenwesens über die Geschichte der pharmazeutischen Wissenschaften und Biographien bis zur modernen Arzneimittelgeschichte und Entwicklungsgeschichte pharmazeutischer Institutionen reicht. Dabei betraten er und seine Schüler vielfach methodisches Neuland, etwa bei der Untersuchung über die Anfänge des Apothekenwesens im Mittelalter. Zu seinen Schülern im engsten Sinne zählen vier Professoren, während 124 Doktoranden als Schüler im engen Sinne gelten. Insgesamt gingen acht Hochschullehrer aus dem Schmitzschen Schülerkreis hervor; gemessen am geringen Grad der Institutionalisierung der Geschichte der Pharmazie ist dies eine beträchtliche Anzahl. Da einige seiner Schüler Berufungen für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte erhielten - zum Teil auch im Ausland - war die Ausstrahlung dieser Lehrer-Schüler-Gemeinschaft keinesfalls auf die deutsche Pharmaziegeschichte begrenzt. Schmitz leistete vielmehr einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Wissenschaftsgeschichte insgesamt.

Resümee

Die Entwicklung der Hochschulpharmazie wurde im 19. und 20. Jahrhundert ganz wesentlich durch wissenschaftliche Schulen geprägt. Die aus diesen Schulen hervorgegangenen Hochschullehrer besetzten in der Folgezeit zahlreiche Lehrstühle in Deutschland und teilweise auch im Ausland, so dass die Wirkmächtigkeit keinesfalls auf den Entstehungsort der Schule begrenzt blieb.

Neben München und Berlin war Marburg einer der wichtigsten Orte der Hochschulpharmazie, an dem sich früher als an anderen Universitäten die Pharmazie verselbstständigen konnte. Diese frühe Institutionalisierung einer von der Chemie unabhängigen Pharmazie bildete den fruchtbaren Boden für die Entstehung von Schulen, die eine glänzende Entwicklung der Pharmazie in Marburg ermöglichten, zugleich aber auf andere Universitäten ausstrahlten.

Historische Analysen zeigen, dass die Laufzeit von Schulen in der Regel nicht mehr als zwei Generationen beträgt, wie auch das Beispiel der Schmidt- und Gadamer-Schule, aber auch der Böhme-Schule und deren erfolgreicher Fortsetzung durch seine Schüler deutlich machen. Zugleich ergibt sich daraus die Notwendigkeit nach der zweiten Generation eine Neuprofilierung vorzunehmen, wie sie gegenwärtig diskutiert wird, wenn Marburg auch in der Zukunft seine führende Stellung unter den Pharmazeutischen Lehr- und Forschungsstätten behalten will.

Schmidt und Gadamer prägten ganz wesentlich die Entwicklung der Pharmazeutischen Chemie in ihrer Zeit. Ausgehend von Arbeiten zu Isolierung von Pflanzeninhaltsstoffen - vornehmlich Alkaloiden - suchten sie deren Summenformel und Struktur aufzuklären, wozu neben chemisch-analytischen Methoden auch die Synthese zur Verifizierung herangezogen wurde. Sie begründeten damit die moderne Pharmazeutische Chemie, die sich als Wissenschaft von der Synthese und Analytik von Wirkstoffen versteht. Unter Gadamer trat als weiteres Arbeitsgebiet die Ausarbeitung und Standardisierung von analytischen Verfahren für Arzneibücher hinzu. Unter Böhme erlebte die Pharmazeutische Chemie eine verstärkte Orientierung auf die Synthese potenzieller Wirkstoffe, die in den folgenden Jahrzehnten das Forschungsprofil in diesem Fach bestimmte.

Gadamer und Böhme leisteten daneben auch einen Beitrag zur weiteren Profilierung der Pharmazie insgesamt durch die Förderung neuer pharmazeutischer Zweigdisziplinen. Während die Toxikologie und Lebensmittelchemie, denen sich Gadamer zugewandt hatte, inzwischen nicht mehr durchgängig zur Pharmazie gehören, trug Böhme ganz entscheidend zur Wissenschaftsdifferenzierung der Pharmazie nach 1945 bei. Seinem Einfluss ist es wohl mit zu verdanken, dass in Marburg früher als an vielen anderen Universitäten innerhalb der Pharmazie die Pharmazeutische Technologie, die Pharmakologie für Naturwissenschaftler und die Geschichte der Pharmazie als eigenständige Fächer etabliert werden konnten. Die Tatsache, dass in Marburg alle fünf pharmazeutischen Disziplinen durch Institute repräsentiert werden, verleiht der Marburger Pharmazie bis heute eine besondere Anziehungskraft und bietet die einmalige Chance, pharmazeutische Fragestellungen aus unterschiedlicher Sicht umfassend zu bearbeiten.

Rudolf Schmitz betonte die integrierende Funktion der Pharmaziegeschichte als Brückenfach zwischen Natur- und Geisteswissenschaften einerseits und den einzelnen im Zuge der Wissenschaftsspezialisierung sich mehr und mehr voneinander entfernenden pharmazeutischen Fächer andererseits. Schmidt, Gadamer und Böhme schenkten auch der Geschichte ihres Faches Aufmerksamkeit. Schmidt hielt selbst ein historisches Kolleg, Gadamer und Böhme verfassten historische Arbeiten. Böhme hatte schließlich großen Anteil an der Einrichtung eines Institutes für Geschichte der Pharmazie in Marburg. Dies beweist wohl erneut, dass bedeutende Wissenschaftler - gleiches gilt wohl auch für Standespolitiker - die historische Dimension ihres Faches nicht vernachlässigen.

Rudolf Schmitz betonte bereits 1957 in seiner Antrittsvorlesung die Bedeutung der Naturwissenschafts- und Pharmaziegeschichte: "In den Naturwissenschaften ist es sehr wohl möglich, ohne größere Kenntnis geschichtlicher Zusammenhänge eine Aufgabe experimentell zu lösen. (...) Ob man damit aber zu dem geistigen Kern einer Sache vorgedrungen, ob man die großen Zusammenhänge erkannt und damit zu der richtigen Einschätzung der eigenen Leistung wie der objektiven Wichtigkeit des behandelten Problems gekommen ist, muss bezweifelt werden."

Gerade dessen bedarf aber eine Universität, wenn sie den überaus erfolgreichen Weg, der in ganz entscheidender Weise durch wissenschaftliche Schulen in Marburg bestimmt war, fortsetzen will und hierzu kann auch die Pharmaziegeschichte in den nächsten Jahren einen Beitrag leisten.

 

Literatur und Quellen

  1. Schmitz, R., Die Naturwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg 1527-1977. Marburg 1978, S. 338 - 361.
  2. Schmitz, R., Die Deutschen Pharmazeutisch-Chemischen Hochschulinstitute. Ihre Entstehung und Entwicklung in Vergangenheit und Gegenwart. Ingelheim 1969 und Friedrich, Ch., Zur Entwicklung der Pharmazie an den deutschen Universitäten Ende des 19. Jahrhunderts. Pharmazie 45 (1990) 367 - 369.
  3. Meinel, Ch., Die Chemie an der Universität Marburg seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Marburg 1978, S. 26 - 43.
  4. Ebenda, S. 31 - 38.
  5. Wie Anm. 3.
  6. Kollmann-Hess, M., Die "Erste Marburger Schule" (1884-1928). Zur wissenschaftlichen Leistung von Ernst Schmidt, Johannes Gadamer und ihren Schülern am Pharmazeutisch-Chemischen Institut der Universität Marburg. Stuttgart 1988, S. 4 u. 11 - 16.
  7. Bunsen vertrat hier die Ansicht, dass die Anzahl der Pharmaziestudenten in Heidelberg so gering sei, da "der Apotheker die Mittel zur wissenschaftlichen und kaufmännischen Ausbildung für seinen späteren Beruf nicht so sehr auf der Universität, als vielmehr besser noch in einem der zahlreichen pharmaceutischen Institute zu finden glaubt". Vgl. dazu Gunter E., G. F. Walz. Apotheker, Forscher, Revolutionär. Stuttgart 1990.
  8. Meinel, Ch. (wie Anm. 3), S. 99f.
  9. Ebenda, S. 170f.
  10. Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, 2. ganz umgearbeitete Aufl. 8. Bd. Leipzig und Altenburg 1817, S. 826 und 840.
  11. Meyer, J., Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände, II. Abtlg. 8 Bd. Hildburghausen, Amsterdam und Paris 1851, S. 32 und 59.
  12. Vgl. hierzu Friedrich, Ch., Zur Theorie und Methodik der Untersuchung wissenschaftlicher Schulen in der Pharmazie. Pharmazie 43 (1988) 274-277.
  13. Friedrich, Ch., Melzer, G., Ernst A. Schmidt (1845-1921) und sein Schülerkreis. Pharmazie 43 (1988) 642 - 647.
  14. Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle (UAH), Rep. 4, 2147 Matricula Studiosorum chirurgae et pharmaceutices (1835-1873).
  15. Schmidt, E., Ueber Einwirkung von flüssigem Phosgen auf einige Amide. Dissertation Leipzig 1871.
  16. UAH Rep. 21, 120, Acta Decano Rosenberger (1874).
  17. Ostwald, W., Große Männer. Leipzig 1909, S. 371 - 396.
  18. Staatsarchiv Marburg (SM) Rep. II, Tit. II, Lit. A. d. Nr. 57, Personalakte von Prof. Dr. Ernst Schmidt.
  19. Gadamer, J., Ernst Schmidt und das Archiv der Pharmazie. Archiv der Pharmazie 260 (1923) 1 - 8.
  20. Friedrich, Ch., Rudolph, G., Johannes Gadamer (1867-1928) und sein Schülerkreis. Pharmazie 43 (1988) 788-792.
  21. SM, Rep. II, Tit. II, Lit. A. d. Nr. 57, Kurratorium Acc. 1951/6315, Akten betr. den Professor der pharmazeutischen Chemie Dr. Gadamer.
  22. SM 310, Acc. 1978/15 No. 2603, Personalakte Dr. Johannes Gadamer.
  23. Mannich, C., Johannes Gadamer. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 61 Abt. A (1928) 80.
  24. Gadamer, J., Über die Bestandteile des schwarzen und weißen Senfsamens. Habilitationsschrift Marburg 1897.
  25. Böhme, H., Sechs Generationen Böhme und die Pharmazie. Ein nicht nur pharmaziegeschichtlicher Überblick mit autobiographischen Erinnerungen. Stuttgart 1988, S. 71-95.
  26. Unterhalt, B., Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Horst Böhme, Marburg/Arolsen, 80 Jahre. Dtsch. Apoth.-Ztg. 128 (1988) 1081f.
  27. Dilg, P., Rudolf Schmitz' pharmaziehistorisches Werk. In: Dilg, P. (Hrsg.), Inter folia fructus. Eschborn 1995, S. 29-45.

 

Professor Dr. Christoph Friedrich übernahm im Oktober 2000 den Lehrstuhl für Geschichte der Pharmazie an der Universität Marburg. Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung seiner Antrittsvorlesung am 16. Mai 2001 anlässlich des Tages der Pharmazie in Marburg.

 

Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. Christoph Friedrich
Institut für Geschichte der Pharmazie
Roter Graben 10
35032 Marburg
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