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Benzodiazepine

Vom Schlafmittel zum Suchtmittel

19.04.2017  10:39 Uhr

Von Brigitte M. Gensthaler, München / Schlaf hat heute ein Imageproblem: Er wird häufig als nicht sinnvoll und als Zeitverschwendung dargestellt. Doch wer wach sein will, muss schlafen. Bei Schlafstörungen birgt die Einnahme von Hypnotika langfristig oft mehr Probleme als Lösungen.

»Knapp 80 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland berichten über Schlafprobleme«, sagte Professor Dr. Walter Müller von der Universität Frankfurt am Main beim Suchtforum Ende März in München. Gemäß dem kürzlich veröffentlichten DAK-Gesundheitsreport »Deutschland schläft schlecht« leidet nahezu jeder zehnte Arbeitnehmer an besonders schweren Problemen (Insomnien) mit Einschlaf- und/oder Durchschlafstörungen, einer schlechten Schlafqualität, Tagesmüdigkeit und Erschöpfung. Gleichwohl gehen 70 Prozent der Insomnie-Patienten nicht zum Arzt. Dafür liegen rezeptfreie Schlafmittel im Trend: Laut DAK-Report kauft jeder zweite Müde die Medikamente in der Apotheke oder Drogerie.

»Angesichts der vielen möglichen Ursachen eines schlechten Schlafs gibt es kein magic bullet für die Schlafförderung«, sagte der Pharmakologe. Alle chemisch definierten Hypnotika könnten bei längerer Einnahme Toleranz auslösen. Dann sei das Schlafniveau noch schlechter als vorher und beim Absetzen komme es zum Rebound. Die Absetzphänomene führen meist dazu, dass der Betroffene das Medikament weiter einnimmt – oft in höherer Dosierung.

 

Schlaferzwinger, -anstoßer und -anbahner

 

Müller teilte die Hypnotika in Schlaf­erzwinger, -anstoßer und -anbahner ein. Zur ersten Gruppe gehören Alkohol, Barbiturate und Chloralhydrat. Während Barbiturate aufgrund ihrer Toxizität heute nicht mehr als Schlafmittel verwendet werden, sei Chloralhydrat in der Psychiatrie selten noch im Einsatz. Es wirkt schnell und beeinflusst das Schlafprofil nicht, hat aber eine geringe hypnotische Potenz und geringe therapeutische Breite.

 

Zu den schlafanstoßenden Substanzen zählt der Pharmakologe Benzo­diazepine, Z-Substanzen, Antihistami­n­ika, sedierende Antidepressiva und Neuroleptika sowie Orexin-Antagonisten, die in den USA zugelassen sind. »Benzodiazepine sind immer noch die Hauptsubstanzen zur Behandlung der Insomnie«, sagte Müller. Die Wirkstoffe unterscheiden sich in der Halbwertszeit, aber nicht in der Pharmakologie.

 

Bei kurzzeitigem Einsatz sind Benzodiazepine recht gut verträglich und aufgrund der therapeutischen Breite auch sicher. Aber sie verändern das Schlafmuster durch Reduktion des Tiefschlafs. Problematisch können Nebenwirkungen wie übermäßige Sedierung, Hangover, Verwirrtheitszustände, antero­grade Amnesie (Gedächtnisstörung mit massiv reduzierter Fähigkeit, sich neue Inhalte zu merken) und Rebound- Insomnie sein. Ältere Patienten reagieren mitunter paradox mit Erregung und Stimulation auf Benzodiazepine. Die Kombination mit Alkohol verstärkt die sedierende Wirkung. Vor allem bei längerer Gabe und hoher Dosierung kann es zur Abhängigkeit kommen.

Dies gilt auch für Z-Substanzen wie Zolpidem, Zopiclon (Eszopiclon, in Deutschland nicht im Handel) und Zale­plon, die ebenfalls über GABA-erge Rezeptoren im Zentralnervensystem wirken. »Sie bewirken ein etwas günstigeres Schlafprofil und lösen weniger Rebound aus«, sagte Müller.

 

In der Selbstmedikation sind sedierende Antihistaminika wie Diphenhy­dramin und Doxylamin verfügbar. Das Piperazin-Derivat Hydroxyzin ist jedoch verschreibungspflichtig. Zu beachten seien der anticholinerge Effekt und die »bei Überdosierung erhebliche Toxizität«.

 

Sedierende Antidepressiva wie Amitriptylin, Mianserin, Doxepin, Trimi­pramin, Trazodon oder Mirtazapin entfalten ihre schlafanstoßende Wirkung bereits in einer Dosierung, die deutlich geringer ist als zur Depressionsbehandlung, informierte Müller. Es gebe nur geringe Absetzphänomene und nahezu kein Abhängigkeitspotenzial. Eine untergeordnete Rolle bei Insomnien spielten sedierende Neuroleptika wie Promazin und Chlorprothixen.

 

Möglicher Placeboeffekt

 

Schlafanbahner wie L-Tryptophan, hoch dosierte Baldrianextrakte und Melatonin müsse der Patient längere Zeit einnehmen, bevor eine Wirkung eintritt, da sie die Schlafbereitschaft fördern, erklärte der Referent. Gleichwohl könne der Placeboeffekt dazu führen, dass Patienten berichten, dass sie schon nach der ersten Einnahme gut schlafen. Auf dieser Basis könnten auch homöopathische Präparate im Einzelfall wirken.

 

In der Reihe der pflanzlichen Schlafhilfen gibt es laut Müller wissenschaftliche Evidenz nur für hoch dosierte Mono- und Kombipräparate mit Bal­drian. »Die Effekte sind begrenzt, aber bei den Extrakten nachweisbar.« Er empfahl hoch dosierte, qualitäts­geprüfte Extraktpräparate aus der Apotheke und nannte als ausreichende Dosierung 400 bis 600 mg eines Standardextrakts. Das Lavendelöl-Präparat mit Silexan (Lasea®) könne gute Daten bei Angst- und Spannungszuständen vorweisen. Dadurch könne es auch den Schlaf verbessern, aber es sei kein Schlafmittel.

 

Die typischen Langzeitanwender von Benzodiazepinen sind Menschen in der zweiten Lebenshälfte, vor allem Frauen. »Das sind keine typischen Suchtpatienten«, konstatierte Dr. Rüdiger Holzbach vom Klinikum Arnsberg. Vielmehr verschrieben Hausärzte ihnen über Jahre hinweg ein Hypno­tikum. Nach aktuellen Daten sind etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland von Benzodiazepinen abhängig.

In Etappen schlafen?

Viele Menschen schlafen heute nur noch in Etappen oder folgen Modellen des »polyphasic sleep hacking«, berichtete Gerhard Klösch von der Universitätsklinik Wien beim Suchtforum in München. Man könne die Schlafzeit aber nicht beliebig portionieren, entgegnete der Psychologe dem Trend, den Schlaf in mehrere kurze Phasen zu »zerhacken«. Befürworter verweisen darauf, dass Säuglinge und Kleinkinder sowie alte Menschen mehrmals am Tag, also polyphasisch schlafen. »Doch bei Erwachsenen findet erholsamer Schlaf nachts statt«, sagte Klösch. Ungenügender, auch fragmentierter Schlaf führe zu einem Mangel an Quantität, gestörter Nachtschlaf mindere die Qualität. »Alles führt zur Tagesschläfrigkeit.«

 

Schlafstörungen werden infolge des veränderten Lebensstils, vermehrter Nachtarbeit und der Zunahme von Online-Spielen zunehmen, prognostizierte Klösch. Experimentell gut nachgewiesen sei, dass gegen Tagesschläfrigkeit weder Kaffee noch Energy­drinks helfen, sondern nur Schlaf, insbesondere Tiefschlaf.

Der Suchtmediziner stellte ein Fünf-Phasen-Modell der Abhängigkeit vor. Um dabei die Dosierungen von Benzodiazepinen und Z-Substanzen miteinander vergleichen zu können, hat sich Diazepam als Bezugsgröße etabliert. In Phase 1, der Prodromal- oder auch Vorläuferphase, nehmen Patienten eine niedrige Dosis ein, die unter 10 mg Di­azepam-Äquivalenten liegt, und erleiden nur vereinzelt unerwünschte Effekte. In Phase 2, mit 10 bis 20 mg, komme es zur Wirkumkehr, erklärte Holzbach: »Die Gewöhnung führt zu einer relativen Unterdosierung mit permanenten Entzugserscheinungen.« Typisch sind verstärkte Symptome der psychischen Grunderkrankung, Stimmungslabilität und gestörtes Körpergefühl. »Das erkennt aber niemand.« Da bei Weglassen der Hypnotika erhebliche Schlafstörungen auftreten, nehmen die Patienten diese weiter.

 

Apathie bis Intoxikation

 

Phase 3 ist die Apathiephase. Nun nehmen die Patienten etwa 20 bis 30 mg Diazepam-Äquivalente ein. Es komme zur typischen Trias: geschwächtes Gefühls­erleben, erheblich reduzierte körperliche Spannkraft, Vergesslichkeit und verminderte geistige Leistung. »Diese Veränderungen werden aufs Alter geschoben und als Depression fehlgedeutet. Es erfolgt wieder keine Intervention«, kritisierte der Psychiater.

 

In der Suchtphase, der vierten Phase in Holzbachs Modell, sind die Kriterien der Abhängigkeit erfüllt. Ein typischer Meilenstein sei die Beschaffung über zusätzliche Quellen, wobei die eigene Verhaltenskontrolle völlig verloren gehen kann. Oft nehmen die Patienten Dosen von 30 bis 60 mg ein.

 

In der Intoxikationsphase mit Äquivalenzdosen über 60 mg beschaffen sich die Patienten ihre Medikamente in der Regel auf dem Schwarzmarkt. Jetzt treten deutliche Symptome auf. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist aufgehoben. Die Patienten schlafen tagsüber ständig ein, erreichen aber keinen längeren Nachtschlaf.

 

Mit dem sogenannten Lippstädter Benzo-Check könne man erkennen, ob der Patient an unerwünschten Wirkungen der Benzodiazepin-Langzeiteinnahme leidet, berichtete Holzbach. Dazu muss dieser zwölf Fragen beantworten. Der Summen-Score erlaubt Rückschlüsse, wie wahrscheinlich Beschwerden medikationsbedingt sind. Der Test steht auf der Homepage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen zur Verfügung (siehe Kasten). Ergibt der Test, dass ein Patient langfristig von der Einnahme profitiert, könne der Arzt das Benzodiazepin »gegebenenfalls begründet belassen«, so Holzbach.

 

Oft ist aber der Entzug anzuraten. Zur ambulanten Abdosierung der Hypnotika empfahl Holzbach Clonazepam-Lösung, die tropfenweise dosiert werden kann. »In der Regel ist das Benzodiazepin nach einem Monat ausgeschlichen.« Im stationären Bereich wird auch Oxazepam eingesetzt. Durch den Entzug verbessere sich die Schlafqualität deutlich und die Depressivität sinke. Eine manifeste Depression bessere sich naturgemäß nicht. /

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