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Blutegel

Therapeuten mit Biss

16.09.2008  11:58 Uhr

Blutegel

Therapeuten mit Biss

Von Bettina Sauer, Berlin und Potsdam

 

Über 300.000 Blutegel kommen jährlich in Deutschland zum Einsatz, vor allem in der Naturheilkunde, aber auch in der Unfall- und plastischen Chirurgie. Zehn von ihnen hat die PZ bei ihrer therapeutischen Arbeit beobachtet. Und sie berichtet, wie ein Potsdamer Unternehmen für Nachschub sorgt.

 

Jolanta Zych hebt den Deckel von dem dunkelblauen Porzellankrug, und viele kleine, schmale Körper recken sich ihr entgegen. Anstatt unten im Wasser zu bleiben, sind die meisten Blutegel die Gefäßwände ganz hochgekrochen. Ausgedehnt messen die olivgrünen, braunen oder schwarzen Körper, auf denen sich zarte Sprenkel oder Linien abzeichnen, um die vier Zentimeter. »Unsere Haustiere sind heute unternehmenslustig«, schmunzelt Zych. »Jetzt dürfen sie arbeiten.«

 

Zych ist Krankenschwester in der Abteilung für Naturheilkunde, die das Immanuel-Krankenhaus in Berlin-Wannsee und die Charité Universitätsmedizin Berlin gemeinsam betreiben und wo etwa 150 Blut-egelbehandlungen im Jahr stattfinden. Mit der Pinzette setzt sie den ersten Egel an das entblößte Knie der im Bett liegenden Patientin Bärbel Kohlmann. Er verharrt einen Augenblick, dann raspelt er seine Zähnchen durch die nackte Haut. Der nächste kommt nicht so schnell zur Sache. Mit den beiden Saugnäpfen an seinen Körperenden tastet er erst einmal herum wie eine Raupe und reckt immer wieder den Kopf, als nähme er Witterung auf. »Blutegel sind sehr sensibel«, sagt Zych. »Schwüle, Kälte, Chlorgeruch und Duftstoffe halten sie vom Beißen ab. Deshalb dürfen Patienten ihre Haut in den 24 Stunden vor der Therapie nicht mehr mit Parfum, Seifen, Reinigungslotionen oder Cremes behandeln.« Und das Ansetzen erfordert meist ein bisschen Geduld, heute etwa eine halbe Stunde. Dann lagern jeweils fünf Blutegel im Kreis um die Kniescheiben der Patientin, saugen und nehmen dabei langsam an Größe und Gewicht zu.

 

Bärbel Kohlmann liegt gelassen im Bett. »Am rechten Knie tut mir die Behandlung ein bisschen weh«, sagt sie. »Am stärksten vorhin beim Zubeißen, das fühlt sich an wie Brennnesselstiche.« Doch im Vergleich zu ihren sonstigen Schmerzen sei das nichts. Die 71-jährige ehemalige Krankenschwester aus Berlin weiß gar nicht mehr, wie lange sie schon an Arthrosen in ihren Knien und Sprunggelenken leidet. Seit etwa 15 Jahren bekommt sie jedenfalls regelmäßig starke Schmerzmittel: Metamizol, Ibuprofen, sogar Morphin. Und sie bewegt sich fast nur noch im Rollstuhl. Obwohl sich schon eine Prothese in ihrem rechten Knöchel befindet, bereitet er ihr immer noch Schmerzen. Deshalb schreckt sie vor weiteren Operationen zurück und zeigt sich offen für Alternativen, so auch für die Blutegeltherapie, die ihr die Ärzte kürzlich vorschlugen. 

 

Nach etwa einer halben Stunde lockert der erste Egel den Biss, überlässt seinen Körper der Schwerkraft und plumpst auf die Saugunterlage auf dem Bett. Erst jetzt beginnt Blut in dünnen Strömen zu fließen. Nach zwei Stunden ist auch der letzte Egel abgefallen und die Therapie beendet. Bärbel Kohlmann bekommt Verbände und hält bis  zum nächsten Tag weitgehend Bettruhe ein, um die Blutung zu stillen und den Kreislauf zu schonen. Inklusive Nachbluten verlieren Patienten bis zu 50 ml Blut pro angesetztem Egel, etwa 5 ml davon verspeist jedes Tier. Einige Tage später sagt Bärbel Kohlmann der PZ, sie empfinde zumindest am linken Bein weniger Schmerzen als sonst und fühle sich etwas beweglicher. »Wenn die Wirkung anhält, möchte ich die Ärzte nach einer Blutegeltherapie für meine Sprunggelenke fragen.«

 

Seit Jahrtausenden in Gebrauch

 

Weltweit finden vor allem drei Blutegel-Arten medizinisch Verwendung: der nordeuropäische Hirudo medicinalis, der asiatische Hirudo orientalis und Hirudo verbana aus Regionen um das Schwarze Meer. Heutzutage werden die Tiere gezüchtet oder in ihrem natürlichen Lebensraum gefangen. »Das Speichelsekret medizinischer Blutegel enthält etwa 200 Substanzen, darunter Hirudin, Calin, Histamin und verschiedene Egline«, sagt Dr. Rainer Stange, Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde. »Offenbar wirken sie im Zusammenspiel gerinnungshemmend, gefäßerweiternd sowie schmerz- und entzündungsstillend.« Erste Hinweise auf eine gezielte medizinische Nutzung fänden sich in ägyptischen Quellen etwa 1400 vor Christus. »Über die Jahrhunderte war die Therapie in verschiedenen Kulturkreisen üblich, im 17. und 18. Jahrhundert in Mitteleuropa besonders weit verbreitet.« Exzessiv nutzten die Ärzte damals die Behandlung bei den verschiedensten Krankheiten, bis zu 60 Egel setzten sie auf einmal an. Das schadete manchen Patienten und brachte die Blutegeltherapie in Verruf.

 

Doch seit den 1950er-Jahren erlebt sie eine »Renaissance«, wie Stange es ausdrückt.  »Derzeit kommen in Deutschland jährlich über 300.000 Blutegel zum Einsatz, was etwa 50.000 Therapien entspricht.« Zu schätzungsweise 90 Prozent fänden sie bei Heilpraktikern statt. Die ärztliche Anwendung erfolge meist in naturheilkundlichen Kliniken - selten auch in naturheilkundlichen Arztpraxen - sowie in der Unfall- und plastischen Chirurgie. »Mit Blutegeln lässt sich gezielt Flüssigkeit absaugen, die sich kissenartig im gequetschten Gewebe oder unter einem Transplantat sammelt«, erläutert Stange. »Weil sie zudem den venösen Blutfluss anregen, unterstützen sie die Versorgung von verletztem oder transplantiertem Gewebe und helfen, es vor dem Untergang zu bewahren.« In der Fachliteratur finden sich verschiedene Fallbeobachtungen, die die Wirksamkeit der Blutegel auf diesem Gebiet bestätigen - selbst den Erhalt von angenähten Fingern ermöglichen sie. Das belegte etwa Dr. Jacques Baudet von der Handchirurgie des Universitätsklinikums im französischen Bordeaux 1991 im Journal »Blood coagulation & fibrinolysis«.

 

Auch sonst kommen Blutegel, vor allem in der Naturheilkunde, bei Erkrankungen zum Einsatz, die mit der Durchblutung zusammenhängen. Dazu zählen Venenleiden, Tinnitus, Migräne, Zyklusstörungen oder die Nachsorge von Schlaganfällen. »Doch fehlen auf diesen Gebieten moderne klinische Wirksamkeitsnachweise«, sagt Stange. Meist nutzen er und seine Mitarbeiter die Tiere bei Arthosen oder anderen Schmerz- und Schwellungszuständen der Gelenke, beziehungsweise bei chronischen Schmerzen der Hals- und Lendenwirbelsäule. »Auf diesem Gebiet belegen mehrere klinische Studien die Wirksamkeit«, sagt Stange. Fast alle beträfen die Kniegelenksarthose. Die neueste erschien 2008 im Fachjournal »Acta orthophaedica« und stammt von Dr. Stefan Andereya und seinen Kollegen vom Universitätsklinikum Aachen. Die Forscher hatten 113 Patienten mit fortgeschrittener Kniegelenkarthrose in drei Gruppen aufgeteilt, die alle während der Blutegeltherapie die Augen verbunden bekamen. Die Kontrollgruppe erhielt eine Scheinbehandlung mithilfe einer Blutegelattrappe: mit einem Nadelstich ahmten die Forscher den Biss der Tiere nach, mit feuchter Gaze ihren Körper. Die zweite Gruppe bekam einmal richtige Blutegel angesetzt, die dritte Gruppe sogar zweimal in einem Abstand von vier Wochen. Zwar zeigte sich bei allen Patienten in drei verschiedenen Fragebögen eine deutliche Schmerzlinderung und eine bessere Beweglichkeit. Doch blieb diese nur in den beiden Blutegel-Gruppen in der gesamten Nachbeobachtungszeit von sechs Monaten bestehen. »Dieses Ergebnis deckt sich mit unseren klinischen Studien und Erfahrungen«, sagt Stange. »Unsere meisten Patienten berichten von einer deutlichen Schmerzlinderung, die bis sechs Monate anhält.«

 

Für Blutegeltherapien gelten Inzwischen strenge Hygienevorschriften. Sie finden sich in einer Leitlinie des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfARM) vom März 2007 und dienen vor allem dem Infektionsschutz. Denn die Egel könnten sich vor ihrem therapeutischen Einsatz von Tier- oder Menschenblut ernährt haben, das Bakterien, Viren oder andere Krankheitserreger enthält. Dann wäre ihr Darminhalt und damit auch ihr Biss infektiös, und zwar bis zu anderthalb Jahre. So lange kann bei Blutegeln der Verdauungsprozess dauern. Weiterhin kommt in ihrem Darm meist das Bakterium Aeromonas hydrophilia vor, das nach dem Biss mitunter Wundinfektionen verursacht. Deshalb müssen die anwendenden Ärzte und Heilpraktiker gemäß Leitlinie patientenbezogen entscheiden, ob sie prophylaktisch eine Antibiotika-Therapie durchführen. Als Mittel der Wahl gelten Cephalosporine der dritten Generation. Weiterhin verbietet das BfArM aus Sicherheitsgründen die Wiederverwendung und das Aussetzen medizinischer Blutegel nach dem Gebrauch. Der Biss setzt also zwangsläufig ihrem Leben ein Ende, meist erfolgt der Tod durch Erfrieren.

 

Blutegel als Fertigarzneimittel

 

Auch die Anbieter von Blutegeln müssen strenge Anforderungen erfüllen. Denn seit der 14. Novellierung des Arzneimittelgesetzes 2005 gelten die Tiere als zulassungspflichtiges Fertigarzneimittel. Zwar dürfen sie derzeit in Deutschland verkauft werden. Doch wer damit weitermachen will, musste bis Anfang September 2008 einen Zulassungsantrag beim BfArM einreichen. Das haben die beiden deutschen Blutegel-Anbieter, die hessische »Biebertaler Blutegelzucht GmbH« und die »BioRepro GmbH« in Potsdam, getan, wie sie der PZ mitteilten.

 

Gemäß einer Hauptforderung in der BfArM-Leitlinie bemüht sich Detlev Menzel, Inhaber des Potsdamer Unternehmens, seit 2005 mit dem Aufbau einer Laborzucht. Davon verspricht er sich nicht nur die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben, sondern auch eine Produktionssteigerung. »Unter Standardbedingungen im Labor vermehren sich Blutegel stärker und schneller als bei der Freilandzucht in Teichen, bei der sie schwankenden Temperaturen und Lichtverhältnissen unterliegen.« Derzeit produziert er etwa 20.000 Tiere im Jahr, und er möchte die Rate bis 2010 auf 300.000 erhöhen.

 

Sein Unternehmen befindet sich in einem gründerzeitlichen Klinkerbau auf der Potsdamer Halbinsel Hermannswerder. Auf dem Flur stehen derzeit vier Aquarien mit einer Wassertemperatur von konstant 22 °C. Darin sollen sich ausgewachsene Blutegel paaren. Bis zu 20 cm sind sie lang und um die zehn Jahre alt. Die meisten machen gerade eine Ruhepause. Mit dem Saugnapf an ihrem Kopfende haben sie sich an die Glaswände geheftet, wie Taue hängen sie senkrecht nach unten. Einige von ihnen schwimmen aber auch herum, wobei sie an kleine Wasserschlangen erinnern. Eben hat sich ein Pärchen gefunden. Nun schieben sich die zwittrigen Tiere bäuchlings eng aneinander und bringen so ihre Geschlechtsteile in Kontakt.

 

Befruchtete Tiere werden in Glasgefäße voll Torf umgesiedelt. Schwarze Filztücher und eine konstante Raumtemperatur von 26 °C erzeugen eine Atmosphäre wie im Uferschlamm, den die Sonne aufgeheizt hat. Die Elterntiere wuseln durch den Torf und hinterlassen dabei Gänge und Höhlen. Darin setzen sie mehrere weiß-schimmernde Kokons ab, die meist zehn bis 15 Eier enthalten. Vier bis sechs Wochen später schlüpfen Menzel zufolge voll entwickelte Baby-Blutegel. In freier Wildbahn mit ihren unsteten Wetterbedingungen dauert dies mehrere Monate.

 

Gemäß BfArM-Leitline bekommen gleichzeitig geschlüpfte Blutegel eine gemeinsame Chargennummer, damit sich später ihre Herkunft zurückverfolgen lässt. Dann wachsen die Jungtiere in Glasgefäßen mit 22 Grad warmem, durch Filteranlagen speziell aufbereitetem Wasser heran, die viele Regale in Menzels Zuchtstation füllen. Alle paar Wochen finden Fütterungen mit Pferdeblut statt. Es stammt aus zertifizierten Gestüten, die auch Impfstoffhersteller beliefern, und ist virologisch und mikrobiologisch getestet. Zudem dokumentieren Menzel und seine Mitarbeiter, wann sie welches Blut an welche Blutegelcharge verfüttert haben. Nach etwa sechs Monaten haben die Mini-Vampire eine Länge von vier bis fünf Zentimetern erreicht. In der freien Natur dauert das etwa zwei bis drei Jahre. Die Tiere erhalten ein letztes Mal Pferdeblut, anschließend kommen sie für mindestens drei Monate in Quarantäne. Dann schweißen Menzel und seine Mitarbeiter sie in Plastikbeutel mit Wasser ein, verpacken sie in Styroporboxen und verschicken sie per Kurier an die Abnehmer. Dort verspüren die Egel auf jeden Fall genug Hunger, um sofort ihren Job als Therapeuten aufzunehmen.

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