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Ethnopharmazie

Auf Wirkstoffsuche in Chinas Kräuterkammern

01.08.2008  10:32 Uhr

Ethnopharmazie

Auf Wirkstoffsuche in Chinas Kräuterkammern

Von Daniela Biermann

 

Traditionelle chinesische Medizin ganz modern: Weltweit ergründen Wissenschaftler die Geheimnisse chinesischer Heilpflanzen. Sie suchen nach Wirkstoffen für neue Medikamente gegen Erkrankungen wie Krebs, Malaria und Alzheimer. In welchen Pflanzen steckt Potenzial?

 

Es ist früh morgens, irgendwo in China: Shen Nong bückt sich und gräbt nach einer Wurzel. Er zieht sie aus dem feuchten Boden, säubert sie, probiert und wartet ab. Der süßlichen Wurzel schreibt er eine stärkende Wirkung zu. Bei der nächsten Pflanze hat er weniger Glück: Wie gelähmt fällt er ins feuchte Gras. Da steigt ihm ein ermutigender Duft in die Nase. Er scheint von einem grünen Strauch in unmittelbarer Nähe zu kommen. Mit letzter Kraft pflückt er ein paar Blätter ab, kaut sie - und ist geheilt.

 

Ungefähr so könnte nach den Vorstellungen der chinesischen Mythologie der Tee entdeckt worden sein. Shen Nong soll noch Hunderte anderer Pflanzen wie Ginseng, Süßholz, Eisenhut, Rhabarber oder Bilsenkraut auf ihre Wirkung getestet haben (1). Auch den Ackerbau soll er den Chinesen gebracht haben. So bedeutet »Shen Nong« göttlicher Bauer. Die Chinesen verehren ihn als mythischen Urkaiser, der etwa um 2700 vor Christus gelebt haben soll. Auf seine Beobachtungen geht eines der ältesten chinesischen Arzneibücher zurück, das »Shen Nong Ben Cao Jing« (frei übersetzt »Shen Nongs Klassiker der Kräuter und Wurzeln«). Die erste schriftliche Form dieser chinesischen Materia Medica entstand etwa im 1. oder 2. Jahrhundert nach Christus und enthielt 365 Arzneien aus Pflanzen, Tieren und Mineralien (2).

 

Knapp 5000 Jahre später erforscht Professor Dr. Thomas Efferth die Wirkung traditioneller Heilkräuter. Microchips, HPLC und Massenspektroskopie helfen ihm und seinen Kollegen vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg bei der Suche nach neuen Arzneistoffen. Und das überaus erfolgreich: Die Heidelberger untersuchten in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Mainz, Düsseldorf, Graz (Österreich) und Kunming (China) 76 Pflanzen aus der chinesischen Kräuterheilkunde, die traditionell gegen Tumoren und Wucherungen eingesetzt werden. 18 Extrakte, also rund ein Viertel des Testmaterials, hemmten das Wachstum von Krebszellen in der Kulturschale (3). »Mit dieser Erfolgsrate liegen wir weit über den Ergebnissen, die bei der Suche in großen chemischen Substanzbibliotheken zu erwarten wären«, erläutert Efferth in der Pressemitteilung des DKFZ (4).

 

Aus Bio wird Chemo

 

Laut DKFZ stammen rund drei Viertel der pflanzlichen Wirkstoffe, die heute als Einzelstoffe im Gebrauch sind, aus der Volksmedizin verschiedener Völker. In der Krebstherapie scheinen Pflanzeninhaltsstoffe besonders schlagkräftig zu sein. 155 kleinere Moleküle gegen Tumoren wurden seit den 1940er-Jahren bis 2006 entwickelt, von denen 47 Prozent Naturstoffe oder deren Derivate sind (5). Beispielsweise sind die Topoisomerasehemmer Topotecan und Irinotecan Derivate von Camptothecin, einem Chinolonalkaloid aus dem chinesischen »Happy Tree« (Camptotheca acuminata). Camptothecin isolierten US-amerikanische Forscher bereits 1958. Allerdings verzögerten eine geringe Bioverfügbarkeit und hohe Toxizität die Entwicklung zum Krebsmedikament. Weitere Derivate wie Silatecan oder Lurtotecan sind zurzeit in der klinischen Entwicklung (6).

 

Während hier eine Leitstruktur aus der Natur variiert wird, hofft Efferth, anhand der Naturstoffe auch neue Zielmoleküle in menschlichen Tumoren identifizieren zu können, die sich für eine Krebstherapie eignen: »Von den chemisch sehr vielfältigen Naturstoffen sind viele interessante, noch unbekannte Wirkmechanismen zu erwarten.« Die Hoffnung ist nicht unberechtigt: Rund 6000 Heilpflanzen kennt die TCM, von denen längst nicht alle erforscht sind. Weltweit haben Wissenschaftler erst rund 5000 der schätzungsweise 250.000 bekannten Pflanzenarten erschöpfend auf ihr medizinisches Potenzial abgeklopft (7).

 

Ethnobotaniker sind überall auf der Welt unterwegs, um die oft undokumentierten Wissensschätze zu heben. Dr. Caroline Weckerle von der Universität Zürich ist im Shaxi-Tal fündig geworden. Das Tal liegt im Nordwesten der chinesischen Provinz Yunnan und schmiegt sich an die östlichen Ausläufer des Himalaja. Es gilt aufgrund seiner großen Biodiversität als Hotspot, erklärt Weckerle der PZ, also als ein Ort mit einzigartigen und bedrohten Arten. Dort leben die Bai, eine tibeto-burmanische Minderheit. Sie nutzen rund 200 Arzneipflanzen, ergab eine Erhebung von Weckerle und Kollegen.

 

Neben den Pflanzen der TCM kennen die Bai eigene Heilpflanzen wie Erigeron breviscapus, eine Berufkraut-Spezies aus der Familie der Korbblütler. Die Bai setzen das Kraut zum Beispiel gegen Entzündungen und Bluthochdruck ein. Mittlerweile interessieren sich auch chinesische Forscher für die Pflanze und schreiben ihr unter anderem schützende Effekte auf die Gefäße zu (8).

 

Raubbau und Anbau

 

Noch ganz am Anfang der Naturstoffforschung stehen Weckerle und Kollegen im Shuiluo-Tal. Es liegt in den Hengduan-Bergen in der Provinz Sichuan, rund 200 Kilometer Luftlinie vom Shaxi-Tal entfernt und durch einen Fünftausender davon getrennt. Das Tal wurde erst vor wenigen Jahren erschlossen. Die fünf Minderheiten, die es bewohnen, konnten den europäischen Besuchern nur wenig über die dort wachsenden Heilpflanzen sagen. Sie nutzen diese als Ritualpflanzen, indem sie sie verbrennen. Die Forscher wollen den Rauch auf seine pharmakologische Wirkung untersuchen.

 

Ziel der Ethnobotaniker ist nicht nur die Erschließung von Heilpflanzenwissen. Sie wollen den Völkern helfen, ihr überliefertes Wissen und natürliche Ressourcen nachhaltig zu nutzen. »Viele Wildpflanzen werden allerdings im Übermaß gesammelt«, beklagt Weckerle, die den Studiengang Ethnobotanik am Institut für systematische Botanik leitet. Daher untersucht ihr Team, ob die Bauern vom Anbau der Heilpflanzen leben könnten. Das sichere nicht nur deren Existenz, sondern auch den Fortbestand gefährdeter Arten.

Babylon in

Um Chinas Heilpflanzen sorgt sich auch der World Wide Fund for Nature (WWF). Die Volksrepublik ist nach Angaben der Umweltstiftung mit Abstand der größte Heilpflanzenexporteur. Sie liefert etwa die Hälfte der jährlich weltweit gehandelten 400.000 Tonnen Rohmaterial (9). Ein Beispiel für eine mittlerweile bedrohte Art ist die chinesische Eibe. Daraus werden, ebenso wie aus ihren Verwandten, der Pazifischen Eibe (Taxus brevifolia), der Mitosehemmer Paclitaxel und seine Vorstufen gewonnen. Es ist in der westlichen Medizin als Basiszytostatikum beispielsweise gegen Brustkrebs etabliert. Laut WWF hat sich im Südwesten Chinas ein kompletter Industriezweig um die Gewinnung von Paclitaxel entwickelt. Durch die exzessive Abholzung verschwindet der Baum aus der Landschaft der Provinz Yunnan. Um 90 Prozent ging der Bestand in den vergangenen zehn Jahren zurück (10).

 

Aus der Provinz ins Labor

 

Zurück nach Heidelberg: Wenn die Arbeit der Ethnobotaniker an Ort und Stelle getan ist, gehen die Naturstoffforscher im Labor ans Werk. Zunächst untersuchen sie Pflanzenextrakte, die sie immer weiter aufschlüsseln. Ihr Ziel ist es, reine Substanzen zu isolieren und in Modellsystemen und Zellkulturen zu testen.

 

Als einen von rund zwei Dutzend potenziellen Arzneistoffkandidaten identifizierten die Wissenschaftler vom DKFZ Miltiron aus dem Rotwurzelsalbei, Salvia miltiorrhiza. Nun wollen sie die Hemmwirkung auf 60 Krebszelllinien mit den Genaktivitätsprofilen dieser Zellen vergleichen. »So können wir feststellen, welche Genprodukte das zelluläre Angriffsziel für unsere Wirkstoffe sind«, sagt Efferth, der neben seiner Forschungstätigkeit das Fach Pharmazeutische Biologie an der Universität Heidelberg unterrichtet. »Damit lassen sich möglicherweise ganz neue Achillesfersen der Krebszelle aufdecken.«

 

Eine Spur verfolgt sein Team bereits seit Längerem: Artesunat, ein halbsynthetisches Derivat von Artemisinin aus der chinesischen Beifußart Artemisia annua, greift Erbgut und Zellmembran der Krebszellen an (11, 12). Es folgt der programmierte Zelltod, die Apoptose. Die Wirkung beruht auf den instabilen Endoperoxidbrücken im Molekül. Brechen sie auf, werden Radikale frei, die wiederum die DNA und Membran der schnell wachsenden Tumorzellen schädigen. Eisen beschleunigt diesen Vorgang. Und da Krebszellen mehr eisenbindende Transferrinrezeptoren auf ihrer Oberfläche exprimieren und besonders viel Eisen speichern, reagieren sie empfindlicher als normale Körperzellen. Zusätzlich unterbinden Artemisinin und seine Derivate die Versorgung des Krebsgewebes durch neue Blutgefäße (13).

 

In einem ersten klinischen Test an der Hautklinik der Universität Erlangen half Artesunat zwei Patienten mit einem Melanom der Aderhaut des Auges (14). Normalerweise haben die Patienten eine mittlere Überlebenszeit von zwei bis fünf Monaten nach der Diagnose. Sie erhielten zusätzlich zur Standardchemotherapie, die bis dahin erfolglos war, Artesunat-Tabletten. Ein Patient lebte danach noch zwei Jahre, der andere gilt als geheilt. Um eine Spontanheilung auszuschließen, sind jedoch größere Studien nötig.

 

Artesunat wird bereits für eine andere Krankheit eingesetzt: Malaria. In der EU hat es seit Dezember vergangenen Jahres Orphan-Drug-Status für diese Indikation. Bereits 1971 isolierten chinesische Forscher das Sesquiterpenlacton Artemisinin aus der Stammpflanze, dem Einjährigen Beifuß. Genau wie bei seinen Derivaten, die chemisch gesehen Acetale oder Ester sind, ist hier die Endoperoxidbrücke essenziell für die Wirkung gegen Plasmodien. Die Parasiten entwickeln sich in den roten Blutkörperchen. Auch hier sprengen die Eisenionen der Hämgruppen die Endoperoxidbrücke im Artemisinin. Radikale werden frei und Zwischenprodukte entstehen, die beispielsweise ein wichtiges Protein des parasitären sarkoplasmatischen Retikulums alkylieren (15).

Chinesische Pflanzen unter bayerischem Himmel

In Mittelfranken erproben Agrarwissenschaftler der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) den Anbau von 19 chinesischen Heilpflanzen. Auf vier Hektar bauen vier Betriebe Pflanzen wie Rotwurzelsalbei (Salvia miltiorrhiza), Besenbeifußkraut (Artemisia scoparia) und Chinesisches Mutterkraut (Leonurus japonicus) an. Die Erträge nehmen zwei deutsche TCM-Pflanzenhändler ab.

 

»Unser Projekt steht nicht in Konkurrenz zu chinesischen Exporteuren«, erklärt Projektleiter Professor Dr. Ulrich Bomme von der LfL im Gespräch mit der PZ. Dazu sei die produzierte Menge viel zu gering. Vielmehr gehe es darum, gleichmäßige pharmazeutische Qualität zu erzeugen. Nur ein dokumentierter und kontrollierter Anbau mit definiertem Pflanzenmaterial gewährleiste eine qualitativ hochwertige und sichere Droge. Dazu legen die Agrarwissenschaftler beispielsweise Inhaltsstoffprofile der Pflanzen an. Im Gegensatz zu den Naturstoffforschern untersuchen sie diese Stoffe jedoch nicht auf ihre pharmakologische Wirkung, sondern nutzen sie zur Identifizierung der Pflanze und als Qualitätsmerkmal.

Momentan empfiehlt die WHO Artemisinin oder seine Derivate in einer Kombination mit anderen Malariamitteln (16). Artemisinin und Co wirken gegen alle vier Plasmodien-Spezies, sind äußerst nebenwirkungsarm und zeigen bisher noch eine niedrige Resistenzrate. Zudem reduzieren sie die Anzahl der Malariaerreger bei jedem Vermehrungszyklus um den Faktor 10.000, während andere Antimalariamittel sie nur um Faktor 100 bis 1000 vermindern.

 

Huperzin gegen das Vergessen

 

Ein anderes Beispiel für einen potenten isolierten Naturstoff ist Huperzin A. Das Alkaloid aus Huperzia serrata, einem Bärlappgewächs, hemmt hoch spezifisch und reversibel die Acetylcholinesterase (17). Es gilt als aussichtsreicher Arzneistoffkandidat gegen Demenz.

 

Seine Wirkungen sind bereits gut untersucht: Es schützt die Zellen beispielsweise vor Wasserstoffperoxid, β-Amyloid-Peptiden und Glutamat, drosselt die Expression von Proteinen, die zum programmierten Zelltod führen, und kurbelt die Produktion des Nervenwachstumsfaktors und seiner Rezeptoren an. Klinisch äußert sich dies in einer Verbesserung der kognitiven Funktionen, von Verhaltensstörungen und des gesamten Gesundheitszustands (18). Dabei zeigt Huperzin A eine höhere perorale Bioverfügbarkeit und bessere Überwindung der Blut-Hirn-Schranke als die zugelassenen Arzneistoffe Donepezil und Rivastigmin. Die peripheren cholinergen Nebenwirkungen scheinen gering zu sein, sodass der Naturstoff eine gut verträgliche Option bei Demenzerkrankungen darstellen könnte.

 

In China ist Huperzin A bereits zur Behandlung von Alzheimer-Patienten zugelassen, in den USA bisher nur als Nahrungsergänzungsmittel im Handel. Dort befindet es sich momentan in einer Phase-II-Studie (19). Große, umfassende klinische Studien nach westlichen Standards fehlen noch. Daher bewertet ein aktuelles Cochrane-Review, das als Goldstandard in der Bewertung klinischer Studien gilt, Huperzin A zur Alzheimerbehandlung noch zurückhaltend (18).

 

Pflanzliches gegen Tuberkulose

 

Auch gegen Tuberkulose könnte in China ein Kraut gewachsen sein. In Mäusen konnten Polysaccharide und Astragaloside aus Astragalus membranaceus, dem Chinesischen Tragant, die Phagozytoseaktivität der Makrophagen gegen Tuberkulosebakterien erhöhen (20). Die Pflanze aus der Familie der Fabaceae wird in China traditionell zur Steigerung der Immunabwehr eingesetzt. Sowohl in vitro als auch in vivo konnten chinesische Forscher ihre immunmodulierenden und -aufbauenden Effekte nachweisen (21). Sie macht sogar müde Mäuse munter: Ältere oder tumorgeschwächte Mäuse zeigten nach einer Behandlung mit einem Astragalus-Extrakt die gleiche Immunantwort wie Jungtiere.

 

Während die Forscher noch am Wirkprofil des Extrakts arbeiten, vermarktet die Gesundheitsindustrie bereits den pflanzlichen Jungbrunnen. In den USA preist die Firma T. A. Sciences eine einzelne, nicht näher definierte Komponente (TA-65) aus Astragalus als Anti-Aging-Produkt an. Das Nahrungsergänzungsmittel soll nach Firmenaussage die Telomerase aktivieren und damit letztlich das Zellsterben hinauszögern (22). Umfassende Studien zu Sicherheit und Wirksamkeit fehlen.

 

Ein weiterer Kandidat gegen Tuberkulose ist die Stinkesche. Chinolonalkaloide aus Evodia rutaecarpa hemmen verschiedene Mykobakterien. In vitro erwiesen sie sich als mindestens so wirksam wie die Tuberkulosemittel Ethambutol und Isoniazid (23). Einer dieser Stoffe, das Evocarpin, ist bereits patentiert.

 

Zudem wirken die Evodia-Alkaloide antientzündlich, indem sie die Leukotrienbiosynthese hemmen, fand eine Gruppe um Professor Dr. Rudolf Bauer von der Karl-Franzens-Universität Graz heraus (24). Er leitet dort sowohl das Institut für Pharmazeutische Wissenschaften als auch ein international kooperierendes TCM-Forschungszentrum. Einer seiner Schwerpunkte liegt auf der Suche nach antiinflammatorischen Stoffen aus chinesischen Pflanzen. Beispielsweise isolierte seine Arbeitsgruppe Atractylochromen aus dem Speichelkraut (Atractylodes lancea), einer Asteraceae. Diese Substanz hemmt die am Entzündungsprozess maßgeblich beteiligten Enzyme 5-Lipoxygenase und Cyclooxygenase-1 (25). Die Weiterentwicklung zu einem Asthmamittel sei denkbar, sagt Bauer im Gespräch mit der PZ.

 

Genau gegen diese Enzyme richten sich auch Komponenten aus Notopterygium incisum (26). Hier stellten die Wissenschaftler jedoch fest, dass der Gesamteffekt größer ist als die Summe der Einzeleffekte. »Während die Wirkstoffforschung an einzelnen Stoffen interessiert ist, berücksichtigt die TCM im klassischen Sinn Synergien«, erklärt Bauer. »Bei der Aufarbeitung zu Reinsubstanzen kann die Wirkung auch verloren gehen.« Für den Effekt einer Heilpflanzenmischung könnten auch labile Stoffe verantwortlich sein. Da die Drogen in der chinesischen Heilkunde zudem teilweise aufwendig präpariert werden, schließt Bauer nicht aus, dass bei der Zubereitung neue Substanzen aus den Einzelkomponenten entstehen können.

 

Eingriff ins Immunsystem

 

Ein Beispiel für das komplexe Zusammenspiel der Inhaltsstoffe in ein und derselben Pflanze ist Tripterygium wilfordii, ein Spindelbaumgewächs. Den Extrakt setzen chinesische Heilkundige traditionell bei Arthritis oder Fieber ein. Mehr als 300 Einzelstoffe haben Wissenschaftler bisher identifiziert, darunter Triptolid als wichtigste bioaktive Komponente (27).

 

Der Extrakt und seine Inhaltsstoffe hemmen die Expression proinflammatorischer Proteine wie Tumornekrosefaktor-α, Interferon-γ, Interleukin-2, Cyclooxygenase-2 und der induzierbaren Stickstoffmonoxid-Synthase. Deshalb untersuchen Forscher deren Wirkung auf entzündliche Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis, Typ-1-Diabetes, Lupus erythematodes oder Psoriasis. Da Entzündungsprozesse auch eine Rolle bei neurodegenerativen Erkrankungen spielen, werden Tripterygium-Extrakte und Einzelsubstanzen gegen Leiden wie Morbus Parkinson oder Alzheimer getestet.

 

Triptolid bindet zudem an den Glucocorticoid-Rezeptor, was vermutlich die immunsuppressive Wirkung verstärkt. Derivate dieses Diterpenepoxids sollen zu Medikamenten weiterentwickelt werden, die Transplantatabstoßungen verhindern. Zudem induziert Triptolid die Apoptose. Diese Eigenschaft soll bei seinem wasserlöslichen Derivat PG490-88 genutzt werden, das sich in einer Phase-I-Studie zur Behandlung solider Tumoren befindet.

 

In einem umfassenden Review-Artikel über Tripterygium kommen US-amerikanische Forscher jedoch zu dem Schluss, dass keine der Einzelkomponenten so sicher und wirksam ist wie der Extrakt (27). Trotzdem gilt: Auch wenn der Extrakt besser verträglich erscheint als die Reinsubstanz, so ist er nicht nebenwirkungsfrei. Bei Männern kann eine vorübergehende Sterilität auftreten. Die Menge an Spermien und deren Beweglichkeit nehmen ab. Als Ursache machten chinesische Forscher Triptolid und andere Terpene wie das Celastrol als zweite Hauptwirkkomponente aus. Diese hemmen die Calciumkanäle der spermatogenen Zellen.

 

Aus der Not wollen Wissenschaftler jetzt eine Tugend machen. So schließen deutsche Urologen von der Technischen Universität München nicht aus, dass Triptolid-Derivate in Zukunft als hormonfreie Pille für den Mann auf den Markt kommen könnten (28).

 

Der König und seine Minister

 

Nach der chinesischen Theorie sollen in einer TCM-Verschreibung vier Hauptbestandteile vorkommen: Herrscher (jun), Minister (chen), Assistenten (zuo) und Boten (shi) (29). Während der »Herrscher« für die pharmakologische Hauptwirkung zuständig ist, verstärken die anderen seine Wirkung, bringen weitere wirksame Eigenschaften hinzu oder mildern toxische Effekte ab. Ein Bestandteil kann dabei mehrere Aufgaben übernehmen.

Fingolimod: Von der Raupe zum Patienten

Die Geschichte beginnt 1994 in Japan. Takuya Fujita und seine Kollegen von der Universität Kyoto untersuchen ein Kulturmedium mit dem Pilz Iscaria sinclairii. Er gehört zur Gattung Cordyceps, der als Parasit in Schmetterlingsraupen lebt. Cordyceps-Arten sind in der Natur selten, aber in der fernöstlichen Heilkunde sehr beliebt. Die Chinesen schätzen sie seit 2000 Jahren als Heilmittel, Aphrodisiaka und neuerdings auch als Dopingmittel (33, 34).

 

Fujita und seine Kollegen entdecken im Extrakt des Pilzes eine immunsuppressive Substanz, das Myriocin. Schnell finden sie heraus, dass es dem Sphingosin sehr ähnelt. Dieser ungesättigte Aminoalkohol ist ein wichtiger Baustein für eine Klasse von Membranlipiden, die unter anderem für das Nervengewebe und die Signalübertragung zwischen den Zellen wichtig sind. Myriocin hemmt ein Enzym, das den ersten Schritt in der Biosynthese dieser Membranlipide katalysiert, die Serinpalmitoyl-Transferase.

 

Im Tierversuch stellte sich Myriocin jedoch als toxisch heraus. Fujita entwickelte daraus eine Substanz, die ebenso potent das Immunsystem unterdrückt und dabei weniger toxisch ist: Fingolimod, alias FTY720. Allerdings wirkt dieses nicht über die Serinpalmitoyl-Transferase.

 

2002 finden Wissenschaftler des Schweizer Pharmaunternehmens Novartis heraus, dass Fingolimod ein hoch affiner Agonist am Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor ist (35). Über diesen Rezeptor werden verschiedene Zellen des Immunsystems stimuliert, zum Beispiel gelangen die weißen Blutkörperchen aus dem lymphatischen Gewebe in den Körperkreislauf und wandern in Entzündungsherde ein. Stehen die Rezeptoren unter Dauerfeuer, werden sie von der Zelloberfläche nach innen verlagert. Die Zelle »stumpft ab«. Auf diese Weise verhindert Fingolimod die Zirkulation der Lymphozyten. Zudem gibt es Hinweise, dass es die Blut-Hirn-Schranke abdichtet und die Nerven schützen könnte. Daraus ergibt sich ein gänzlich anderer Wirkmechanismus als bei den bekannten Immunsuppressiva. Die Wirkung ist zudem reversibel, da die Lymphozyten nicht geschädigt, sondern nur »gefangen gehalten« werden. Der neue Stoff soll als Medikament gegen Transplantatabstoßung und schubweise verlaufende Multiple Sklerose eingesetzt werden.

 

In der ersten Studie am Menschen war Fingolimod gut verträglich. Seitdem durchläuft es weitere klinische Studien (siehe dazu Multiple Sklerose: Erweiterung der Wirkstoffpalette in Sicht, PZ 23/2008). In einer Phase-II-Studie blieben sieben von zehn MS-Patienten drei Jahre lang schubfrei (36). Im kommenden Jahr sollen die Phase-III-Studien FREEDOMS und TRANSFORMS die positiven Ergebnisse bestätigen. Novartis hofft, die Zulassung Ende 2009 beantragen zu können. Fingolimod wäre das erste perorale MS-Medikament auf dem Markt.

Im März dieses Jahres erklärten Forscher der Shanghai Jiao Tong Universität dieses Konzept erstmals aus biochemischer Sicht (30). Sie untersuchten dazu eine TCM-Rezeptur gegen Leukämie, deren klinische Wirksamkeit ausreichend belegt ist. Sie enthält als »Herrscher« das Arsen-Schwefel-Mineral Realgar, aus dem Arsen freigesetzt wird und direkt ein Onkoprotein der Krebszellen attackiert. Indirubin als Wirksubstanz aus der Pflanze Indigo naturalis mildert als »Assistent« den toxischen Effekt des Arsens ab und verlangsamt das Krebswachstum. Tanshinon aus dem Rotwurzelsalbei hat eine Doppelfunktion. Als »Minister« stellt es zum Teil die Stoffwechselwege wieder her, die die Ausbreitung der Leukämie stoppen. Als »Bote« kann es, genau wie Indirubin, die Aufnahme von Arsen in die Zelle verbessern, indem es die Synthese für Carrierproteine in der Zellmembran steigert.

 

Die Veröffentlichung illustriert den Paradigmenwechsel, der momentan in der TCM stattfindet. Auch die chinesische Regierung fördert mit großem Eifer Projekte, die die traditionelle Medizin auf ein wissenschaftliches Fundament stellen sollen (31). Kritiker fürchten, die Wissenschaft entmystifiziere die TCM. Dabei betreiben chinesische Gelehrte diese Therapie seit mehr als 2000 Jahren als Wissenschaft (32). »Wirksame Pflanzen haben sich durchgesetzt«, sagt Krebsforscher Efferth. Deshalb bergen gerade diese ein großes Potenzial für die Wirkstoffforscher. Westliche Biowissenschaftler wie Efferth sehen keinen Widerspruch zwischen Tradition und Moderne. »Was wir tun, hat nichts mit Alternativmedizin zu tun«, betont Efferth gegenüber der PZ. »Nur auf wissenschaftlicher Grundlage hat die TCM langfristig eine Chance.«

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Die Autorin

Daniela Biermann studierte Pharmazie an der Philipps-Universität, Marburg. Einen Teil ihres praktischen Jahres verbrachte sie an der medizinischen Fakultät der National University of Singapore und untersuchte dort ein Enzym aus der Flavonoidsynthese. Die Ergebnisse mündeten in einer Diplomarbeit, die sie an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg, verteidigte. 2007 erhielt sie die Approbation. Nach einem Volontariat bei der Pharmazeutischen Zeitung ist sie seit einem Monat PZ-Redakteurin.

 

E-Mail: biermann(at)govi.de

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