Das Kuschelhormon als Therapieoption |
12.01.2016 16:34 Uhr |
Von Inga Richter / Das auch als Kuschelhormon bekannte Oxytocin fördert zwischenmenschliche Bindungen, schafft Vertrauen und mindert Ängste. Forscher hoffen auf einen therapeutischen Einsatz bei einer Reihe von psychischen Erkrankungen. Doch die Studienergebnisse sind nicht eindeutig und lassen noch Fragen offen.
Zu Beginn dieses Jahrtausends ließen Wissenschaftler um den Psychologen Professor Dr. Markus Heinrichs 123 Studenten mit Geld spielen und fiktive Kredite geben. In diesem Spiel testeten sie die Wirkung von Oxytocin auf den Menschen. Sie stellten fest, dass die Hälfte der mit Oxytocin behandelten Probanden ihrem menschlichen Gegenüber ihr gesamtes zur Verfügung gestelltes Vermögen leihen würde. In der Placebogruppe tat dies nur jeder Fünfte. Einem Computer gegenüber blieb diese Vertrauenssteigerung aus (DOI: 10.1038/nature03701).
Beim Stillen steigt der Oxytocin-Spiegel der Mutter an – das fördert die Bindung zu ihrem Kind. Auch der Säugling schüttet Oxytocin aus und wird ruhig und friedlich.
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Dieses Experiment an der Universität Zürich gab den Startschuss für eine Reihe von Folgestudien, die die Rolle von Oxytocin im sozialen Miteinander entschlüsseln sollten. Das Neuropeptid wird im Hypothalamus gebildet und von der Hypophyse abgegeben. Es ist an der Steuerung der Geburtsvorgänge und des Stillens beteiligt. Zudem stärkt das Hormon die Mutter-Kind- sowie die Partnerbindung und steigert allgemein die Fähigkeit zu sozialen Kontakten.
Oxytocin macht treu
Bereits seit den 1970er-Jahren laufen Untersuchungen zur Rolle von Oxytocin in der Verhaltenssteuerung an verschiedenen Spezies. Am bekanntesten sind Studien mit Wühlmäusen. Diese zeigten, dass durch eine Oxytocingabe die polygamen Bergwühlmäuse plötzlich einen Partner bevorzugten, während deren monogame Verwandten, die Präriewühlmäuse, durch eine Blockade entsprechender Rezeptoren ihre Treue aufgaben. In weiteren Untersuchungen entfachte die Gabe des Hormons bei jungfräulichen Mäusen Muttergefühle, und Wölfe banden sich an einen Partner, unüblicherweise, ohne sich vorher gepaart zu haben.
Doch seit der 2005 veröffentlichten ersten Humanstudie »wächst die Anzahl der Forschungsergebnisse explosionsartig und die Erkenntnisse werden jeden Monat unübersichtlicher«, sagt Dr. Gregor Domes, Privatdozent und Mitarbeiter von Heinrichs am Institut für Psychologie der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. Neben dem Bindungsverhalten werde an sozial-kognitiven Prozessen geforscht, inzwischen aber vor allem an den anxiolytischen und Stress-reduzierenden Wirkungen des Hormons. Denn Ratten, so hatte man festgestellt, verhalten sich nach Oxytocingabe in furchteinflößenden Situationen weniger ängstlich als unbehandelte Tiere.
Ließen sich diese Beobachtungen auf den Menschen übertragen, so könnte Oxytocin eine neue Option zur Behandlung von psychischen Erkrankungen darstellen, die mit sozialen Dysfunktionen einhergehen. Insbesondere in diesen Bereichen werden wirksame Therapien benötigt. »Bei sozialer Phobie hilft die kognitive Verhaltenstherapie etwa der Hälfte der Patienten«, sagt Domes, bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung ebenfalls nur sehr bedingt. Dabei gehören Angsterkrankungen wie die generalisierte Angststörung, posttraumatische Belastungsstörungen und die soziale Angststörung zu den häufigsten psychischen Erkrankungen mit einer Lebenszeitprävalenz von 30 Prozent, schreibt Professor Dr. Inga Neumann von der Universität Regensburg in einem aktuellen Übersichtsartikel in »Biological Psychiatry« (DOI: 10.1016/j.biopsych.2015.06.004). Allerdings seien den Tierversuchen entsprechende Untersuchungen zur Oxytocingabe am Menschen bislang rar.
Applikation per Nasenspray
Eine stammt von Wissenschaftlern um Professor Dr. Sabine Herpertz von der Universitätsklinik Heidelberg. In ihrer Studie minderte die Applikation von Oxytocin als Nasenspray die übersteigerte Sensibilität von Borderline-Patienten. Betroffene interpretieren Bemerkungen oder Gesichtsausdrücke oftmals als ablehnend und fixieren das Gegenüber, anstatt wegzuschauen. Dies geht bei den Patienten mit einer starken Aktivität in bestimmten Bereichen der Amygdala einher, der Hirnregion, in der Emotionen bewertet und Angst oder Wut ausgelöst werden können.
Oxytocin als Nasenspray ist zugelassen zur Förderung der Milchentleerung und zur Vorbeugung von Milchstau bei stillenden Müttern.
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Im Magnetresonanztomografen sahen die Forscher, dass diese Gehirnaktivität nach der Oxytocingabe bei 40 erkrankten Personen auf ein normales Niveau gesunken war (DOI: 10.1176/appi.ajp.2013.13020263). Allerdings hält die angstlösende Wirkung nur kurz an. Das aus neun Aminosäuren bestehende Neuropeptid hat eine Halbwertszeit von nur 45 Minuten. »Wenn sich der Verdacht auf einen Nutzen erhärtet, wäre es ein neuer Ansatz, Oxytocin im Kontext einer Psychotherapie einzusetzen«, sagt Domes. Die Patienten würden sich womöglich durch den Therapeuten weniger bedroht fühlen, könnten sich mehr öffnen und so von der Behandlung stärker profitieren.
Doch der schnelle Abbau des Hormons ist nicht das einzige Problem. Mit der wachsenden Anzahl an humanen Studien kristallisierte sich immer mehr heraus, dass das sogenannte Kuschel-, Sozial- beziehungsweise Treuehormon weitaus komplexer und kontroverser wirkt als anfangs angenommen. Nur ein Beispiel dafür lieferte eine Studie israelischer Wissenschaftler, in deren Rahmen an Borderline Erkrankte oxytocinbedingt weniger Vertrauen und Kooperationsbereitschaft zeigten, als es ohne Hormongabe der Fall war (DOI: 10.1093/scan/nsq085). Ergebnisse wie diese zeigten, dass das Hormon wohl nicht nur prosoziale Effekte hat. Oxytocin wird zum Teil auch mit Neid und Schadenfreude sowie aggressivem Verhalten gegenüber Außenseitern in Verbindung gebracht. Ein vorschneller und unkritischer Einsatz könnte negative Folgen haben.
Fokus auf Autismustherapie
Erforscht wird derzeit vor allem der Effekt von Oxytocin bei Patienten mit Erkrankungen aus dem Autismus-Spektrum. »Für diese Störungen existiert überhaupt keine kausale Therapie«, so Domes. Die Betroffenen sind kaum oder gar nicht in der Lage, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Blickkontakten weichen sie aus, eigene oder fremde Emotionen sind für sie kaum einschätzbar.
Charakteristisch für autistische Kinder ist, dass sie sich isolieren. Die Interaktion und Kommunikation mit anderen fällt ihnen schwer.
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Ende 2015 erschien eine Studie von Forschern um Professor Dr. Adam Guastella von der University of Sydney mit 31 autistischen Kindern (DOI: 10.1038/mp.2015.162). Sowohl durch die von den Eltern ausgefüllten Fragebögen als auch in der klinischen Untersuchung stellte man signifikante Verbesserungen in der sozialen Ansprechbarkeit bei den Probanden fest, die zuerst fünf Wochen lang zweimal täglich Oxytocin als Nasenspray und darauf folgend fünf Wochen lang Placebo erhalten hatten.
In vorherigen Studien hatten die australischen Forscher gezeigt, dass mit einer Einmaldosis Oxytocin betroffene Kinder länger Augenkontakt halten und die Emotionen anhand der Augenpartie anderer etwas besser einschätzen konnten. »Dadurch sinkt das Stresslevel, was die Empfänglichkeit für eine Therapie erhöhen könnte«, sagt Domes. Allerdings mahnen Wissenschaftler der University of New South Wales um Dr. John Brennan zur Vorsicht bei der Empfehlung von Oxytocin als effektive Maßnahme. Im Gegensatz zu den Kollegen aus Sydney hatten sie während einer viertägigen Behandlung von 38 autistischen Jugendlichen keine signifikanten Effekte in Bezug auf Empathie und Verhalten gefunden (DOI: 10.1007/s10803-013-1899-3).
»Wir befinden uns nach wie vor in der Grundlagenforschung«, sagt Domes, ausreichende Belege für einen therapeutischen Nutzen liegen ihm zufolge noch nicht vor. Die Prozesse an den Rezeptoren sind unbekannt, Wirkungen oder Nebenwirkungen noch nicht einzuschätzen. »Wir versuchen zu verstehen, ob überhaupt und falls ja wie genau das Hormon kognitive Prozesse im sozialen Kontext verbessert.« Dem Übersichtsartikel von Neumann zufolge variieren die Effekte von Oxytocin im Tierversuch zwischen Weibchen und Männchen, weniger ängstlichen und sehr ängstlichen Ratten, je nach Art und Stresslevel der provozierten Angstsituationen sowie nach Dosis und Dauer der Anwendung.
Beim Menschen scheint sich ein ähnliches Bild zu ergeben. Frauen reagieren auf das Hormon anders als Männer und auch die individuelle Ausprägung der Erkrankung scheint eine Rolle zu spielen. Ebenfalls diskutiert werden neurochemische Unterschiede im Oxytocin-System sowie genetisch bedingte Variabilitäten. Im vergangenen Jahr hatten die Freiburger Forscher gezeigt, dass verschiedene Polymorphismen des Hormonrezeptors zu einer unterschiedlichen Sensitivität auf Oxytocin führen (DOI: 10.1038/tp.2015.163). »Möglicherweise profitieren nur Menschen mit einer genetisch bedingten Rezeptoraffinität von dem Hormon«, so Domes.
Noch in der Grundlagenforschung
Die bisherigen Humanstudien wiesen nur kleine Teilnehmerzahlen auf, meist wurde eine Einmaldosierung des Hormons getestet und die Ergebnisse waren oftmals schwach ausgeprägt und zum Teil widersprüchlich. Langzeiterfahrungen existieren im Höchstfall über wenige Wochen. Experten wie Neumann warnen vor einer Langzeitbehandlungen in Eigenregie. Je nach Dosierung könnten diese »einem generellen Prinzip der Neuropharmakologie folgend« zu einer Reduktion und Desensibilisierung der Oxytocin-Rezeptoren in den angstrelevanten Gehirnregionen führen und somit das Gegenteil bewirken: Die Ängste würden zunehmen. Es gebe zwar interessante Ansätze, doch bedürfe es noch viel Forschung.
Laut Domes ist aufgrund der Flut an Studienergebnissen »die kritische Masse für eine metaanalytische Analyse bald erreicht«. Dabei würden sämtliche Daten, auch die der kleineren Untersuchungen, berücksichtigt, ausgewertet und letztlich ein klareres Bild liefern. /