Kraft durch Spiritualität |
16.12.2013 12:47 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Spontanremissionen bei Krebs zeugen davon, dass es offenbar mental getriggerte Selbstheilungskräfte gibt. Die Wissenschaft ist dem Rätsel auf der Spur.
Heinrich A. und seine Frau sind bald fünfzig Jahre verheiratet. Dass sie die goldene Hochzeit gemeinsam erleben, danach sah es lange Zeit nicht aus. Vor einigen Jahren hatte Heinrich A. einen riesigen Tumor im Bauch. Malignes Lymphom mit multiplen Metastasen, so lautete die Diagnose. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben. Heute ist die Krebsgeschwulst verschwunden. Heinrich A. gilt als geheilt – ohne jede weitere Therapie. Wie ist das möglich? Frau A. schaut ihren Mann liebevoll an und sagt: »Nicht wahr, Heinrich, wir glauben, es war der Orangensaft.«
Die Wahrheit liegt im Patienten
Diese wahre Geschichte ist eine von mehreren Kasuistiken, die in dem WDR-Film »Wunder sind möglich – Spontanheilungen bei Krebserkrankungen« vorgestellt wurden (1).
Glaube versetzt Berge. Dieser Gedanke stellt sich angesichts der Geschichte von Heinrich A. spontan ein. Sicher war es nicht der Orangensaft, den seine Frau jeden Morgen frisch für ihn ausgepresst hat. Aber der feste Glaube daran könnte eine wichtige Rolle gespielt haben. Glaube, Vertrauen und eine innige Verbindung zu seiner Frau: Darauf konnte Heinrich A. bauen.
Ihren Umgang mit der Krebserkrankung beschreiben Betroffene in wissenschaftlich anerkannten Berichten über Spontanheilungen sehr unterschiedlich. Eines jedoch stimmt überein: Alle Patienten haben weiter am Leben teilgenommen und nicht resigniert (1, 2). Das trifft auf den »Kämpfer« ebenso wie auf den »Warum-Ich?«-Typ zu, der seine Erkrankung zum Anlass für einen existenziellen Wandel nimmt.
Und es trifft auf einen dritten Typ zu, der unter spontan geheilten Patienten häufiger zu finden ist: den Gläubigen, der sich – wie Menschen dieses Typs übereinstimmend beschreiben – in Gottes Hand begibt. Gläubige Menschen sind davon überzeugt, dass Beten und Fürbitten ihnen helfen. Sie erleben ihre Heilung als Gottes Gnade (2).
Gerade in schwierigen Situationen setzen viele Menschen auf die Kraft des Gebets.
Foto: Fotolia/Peter Maszlen
Es ist unterm Strich nicht viel, was die Medizin sicher über Spontanheilungen bei Krebserkrankungen weiß. Sie hat sich bislang kaum systematisch mit diesem Thema befasst. Das gilt speziell auch für die Frage, inwieweit Glaube, Hoffnung und Spiritualität bei Selbstheilungsphänomenen eine Rolle spielen.
An der Universitätsklinik Nürnberg hat es vor Jahren ein Projekt zur Erforschung von Spontanheilungen bei Krebs gegeben. Dr. Herbert Kappauf, einer der beteiligten Onkologen, hat dazu ein Buch mit dem Titel »Wunder sind möglich« geschrieben (2). Das Buch wird ebenso wie der Film mit gleichem Titel von der Deutschen Krebshilfe empfohlen. Auch die von Kappauf ausgewählten Patientenbeispiele zeugen davon, dass Hoffnung und Glaube bei der Mobilisierung von Selbstheilungskräften bedeutsam sein können. Der oft gar nicht bewusste und nicht immer religiös gefärbte Glaube an die Möglichkeit eines Wunders scheint in vielen dieser Kasuistiken mitzuschwingen.
Das ist schwere Kost für all jene, die nur harte naturwissenschaftliche Fakten gelten lassen. Kappauf berichtet denn auch von Spott und offenen Anfeindungen, denen sein Forscherteam ausgesetzt war. Das Thema Spontanheilungen sei für viele Kollegen ein Tabu. Professor Dr. Walter Gallmeier, der inzwischen verstorbene Leiter des Nürnberger Forschungsprojekts, hat dagegen aus seiner Konfrontation mit Spontanheilungen eine klare Konsequenz gezogen. Niemals sollte man Krebspatienten mit infauster zeitlich definierter Prognose nach Hause entlassen. Ein solches Vorgehen mache Hoffnung zunichte (1).
Ungenutztes Potenzial
Psychoonkologen plädieren dafür, dass Krebspatienten möglichst von Diagnosestellung an eine psychologische Begleitung erhalten sollten, die sie bei der Krankheitsbewältigung unterstützt. Dabei kann auch das Wissen um Selbstheilungskräfte genutzt werden. Ziel muss es sein, tiefgreifende seelische Prozesse anzustoßen, um den Patienten in Balance zu bringen.
Dabei dürfe dem Patienten aber kein starres Konzept übergestülpt werden. Das betont der renommierte Schweizer Psychoonkologe Professor Dr. Christoph Hürny (1). Es sollten Angebote gemacht werden, auf denen aufbauend der Patient seine eigene individuelle Bewältigungsstrategie entwickeln kann. »Der Kern der Wahrheit liegt im Patienten«, sagt Hürny.
Hochrechungen beziffern die Häufigkeit von Spontanheilungen bei Krebs auf 1 zu 60 000 bis 100 000. (2). Diese spektakulären Verläufe sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Laufend entstehen Krebszellen, die vom Organismus erfolgreich bekämpft werden, bevor sie zu einer Krebsgeschwulst auswuchern können. Dabei spielt der programmierte Zelltod (Apoptose), der von Immunzellen ausgelöst werden kann, eine wichtige Rolle.
Auch sonst sind Selbstheilungsprozesse ständig am Werk. Es zeichnet lebende Systeme aus, dass sie in der Lage sind, Störungen eigenständig auszumerzen und die Balance wieder herzustellen. Allerdings wird dieses Potenzial in der Medizin bislang kaum genutzt. Die Schulmedizin setzt den Fokus auf das Kranke und zielt darauf ab, das Krankmachende zu bekämpfen.
Innere Balance – ein entscheidender Beitrag zu Gesundheit und Heilung
Foto: Fotolia/denisovd
Der britische Onkologe Professor Dr. Basil Stoll sieht das kritisch und plädiert dafür, natürliche Selbstheilungsphänomene zu erforschen und entsprechende Therapiestrategien zu entwickeln (1). Den in der Onkologie zu beobachtenden Trend hin zu immer aggressiveren Therapieregimen hält Stoll für problematisch. Er sieht die Gefahr, dass es dadurch möglicherweise zu einer Schwächung der Selbstheilungskräfte kommt.
Erforschung der Selbstheilung
Den Grundstein für die Erforschung der Selbstheilung legte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (3), der den Begriff der »Salutogenese« als Gegenbegriff zur »Pathogenese« prägte. Die Salutogenese-Forschung fokussiert auf Kräfte, die Menschen gesund und widerstandsfähig machen. Von zentraler Bedeutung für Gesundheit und Heilung ist nach Antonovsky die Kohärenz als Gefühl von Stimmigkeit und Zugehörigkeit, das im Sinne der Selbstregulation eine richtungsweisende Kraft darstellt.
Der Kohärenzsinn versetze Menschen in die Lage, Lebensereignisse zu verstehen, zu bewältigen und ihnen eine Bedeutung zu geben. Menschen mit ausgeprägtem Kohärenzsinn erleben Schwierigkeiten wie schwere Erkrankungen mehr als Herausforderung denn als Bürde (4). Die Fähigkeit, innere oder äußere Störungen aufzufangen und wieder in einen ausbalancierten Grundzustand zurückzufinden, wird in der neueren Salutogenese-Forschung als Resilienz bezeichnet. Resilienz ist das Gegenteil von Vulnerabilität.
Menschen mit ausgeprägter Resilienz sind »Stehaufmännchen«, wobei ihnen eine positive Grundeinstellung und das Erleben von Sinnhaftigkeit zugute kommen. Auch Selbstvertrauen und Lösungsorientiertheit im Umgang mit Problemen sind typisch für resiliente Menschen. Sie sind davon überzeugt, dass sich durch eigenes zielgerichtetes Handeln etwas bewirken lässt und sie auch schwierige Situationen meistern können. Schließlich gelten auch soziale Kompetenz und die Fähigkeit, um Hilfe zu bitten, als wichtige Resilienzfaktoren (5).
Resilienzfördernde Persönlichkeitsmerkmale haben günstige Effekte auf das Immunsystem, während sich Stress, Depression und Angst, aber auch Introvertiertheit und soziale Hemmung ungünstig auswirken (6). Das haben Studien im Forschungszweig der Psychoneuroimmunologie herausgefunden. Heute ist mit vielen Einzelbefunden dokumentiert, dass Psyche und Immunsystem eng verbunden sind.
Immunzellen leiden unter Stress
Sehr gut untersucht ist der Zusammenhang zwischen Immunsystem und Stress. Bei Stress wird die neuroendokrine HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) aktiviert, wodurch es zu einer vermehrten Ausschüttung von Katecholaminen und Cortisol und in der Folge zum Anstieg von Blutdruck und Herzschlag kommt. Bei akutem Stress kehrt das HPA-System rasch wieder in die Ausgangslage zurück (6).
Bei chronischem Stress dagegen ist die neuroendokrine Stressachse dauerhaft aktiviert, und das ist nachweislich mit einer Schwächung sowohl des unspezifischen als auch des spezifischen Immunsystems verbunden. Verschiedene immunologische Zellpopulationen, darunter Killerzellen und T-Lymphozyten, nehmen bei chronischem Stress zahlenmäßig ab (6). Außerdem ist die Konzentration von Zytokinen, die das Immunsystem stimulieren, reduziert.
Interessant im Hinblick auf das Selbstheilungspotenzial ist auch der Befund, dass eine gestörte Regulation des Stresshormons Cortisol bei Depressionen eine wesentliche Rolle spielt. Dadurch hervorgerufene Verschiebungen im Immunsystem könnten ein Grund dafür sein, dass Depressionen Heilungsverläufe nachweislich ungünstig beeinflussen (7).
Glaube und Hoffnung
Es ist nicht überraschend, dass sich viele Menschen im Angesicht einer schweren Erkrankung auf einen spirituellen Weg begeben. Dabei geht es häufig um die Suche nach einem Sinn.
Sinnhaftigkeit ist ein elementares Bedürfnis des Menschen und eng mit dem Phänomen Hoffnung verknüpft. »Hoffnung ist nicht Optimismus, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.« So hat es der tschechische Politiker und Menschenrechtler Vaclav Havel formuliert.
Der österreichische Theologe Anton Bucher hebt einen weiteren Aspekt von Spiritualität hervor: Verbundenheit. In seinem Werk »Psychologie der Spiritualität« plädiert er »für ein Verständnis von Spiritualität als Verbundenheit zu einem den Menschen übersteigenden Letztendlichen, Geistigen, Heiligen, das für viele nach wie vor das Göttliche ist, aber auch Verbundenheit zu den Mitmenschen und der Natur. Diese Öffnung setzt voraus, dass der Mensch von seinem Ego absehen beziehungsweise dieses transzendieren kann« (7).
Studien haben gezeigt, dass Menschen, die regelmäßig zum Gottesdienst gehen, eine deutlich höhere mittlere Lebenserwartung haben als Nicht-Kirchgänger.
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Sowohl Sinnhaftigkeit als auch Verbundenheit sind wichtige Aspekte in Antonovskys Salutogenese-Konzept. Der methodisch saubere Nachweis eines Kausalzusammenhangs zwischen Glauben beziehungsweise Spiritualität und Heilung gestaltet sich allerdings wegen der Vielzahl Einfluss nehmender Variablen sehr schwierig.
Dass es diesen Zusammenhang gibt, legen die »Kirchgänger«-Studien nahe. Verschiedene Studien haben übereinstimmend dokumentiert, dass Menschen, die regelmäßig zum Gottesdienst gehen, eine deutlich höhere mittlere Lebenserwartung als Nicht-Kirchgänger haben.
In einer dieser Studien wurden mehr als 5000 Amerikaner über fast 30 Jahre beobachtet. Dabei stellte sich heraus, dass regelmäßiger Gottesdienstbesuch mit einer geringeren Mortalität verbunden war. Nach dieser Studie haben Gottesdienstbesuche und Nicht-Rauchen einen ähnlich günstigen Effekt auf die Lebenserwartung (8).
Die »Kirchgänger«-Studien sind als Hinweis zu werten; einen Beweis für den gesundheitsfördernden Effekt von Glauben beziehungsweise Spiritualität können sie sicher nicht liefern. Denkbar ist, dass auch andere Faktoren der Lebensführung beim besseren Abschneiden der Kirchgänger eine Rolle spielen.
Eine weitere große Studie ging der Frage nach, inwieweit eine hoffnungsgetragene Lebenshaltung einen Einfluss auf Gesundheit und Lebenserwartung hat. Eingangs der prospektiven Langzeitstudie an 2400 Finnen wurde ermittelt, wie die Teilnehmer ihre Lebenshaltung auf einer Skala von hoffnungsvoll bis hoffnungslos einschätzten. Im weiteren Studienverlauf zeigte sich, dass hoffnungsfrohe Menschen deutlich seltener an Krebs oder Herzinfarkt versterben (9).
Gut dokumentiert ist außerdem, dass Spiritualität, speziell auch in belastenden Lebenssituationen, gegen Depressionen schützen kann. Auch das könnte für Heilphänomene bedeutsam sein, da eine depressive Verstimmung Resilienz und Immunfunktionen nachweislich schwächt (7).
Effekte von Meditation
Schließlich gibt es zahlreiche Untersuchungen, die die Wirkung von Meditation untersucht haben (10, 11, 12). In allen großen Religionen existieren Techniken, die eine Loslösung aus der irdischen Verhaftung erleichtern sollen. Die buddhistische Achtsamkeitsmeditation, der Tanz der Sufis und das christliche Rosenkranzgebet: Alle diese Praktiken dienen der Sammlung des Geistes und der Bewusstseinserweiterung.
In dieser Zielsetzung haben meditative Techniken aber offenbar auch ganz irdische gesundheitsfördernde Effekte. Sie harmonisieren Geist und Seele, und es gibt Hinweise, dass sich auf diesem Weg günstige psychische und physische Entwicklungen anstoßen lassen.
Vor allem die Achtsamkeitsmeditation hat Einzug in die westliche Medizin gehalten und wird zur Gesundheitsförderung eingesetzt (10). Kritisch ist anzumerken, dass ein inflationärer Gebrauch des Begriffs die eigentliche Bedeutung der Achtsamkeit zu verwässern droht. Auch wird in Fachkreisen diskutiert, ob es zulässig ist, die Praxis der Achtsamkeit aus dem kulturell-religiösen Kontext des Buddhismus herauszulösen und in einem säkularen Kontext zu benutzen (10).
Die buddhistische Praxis der Achtsamkeit ist weit mehr als eine Technik. Sie ist vielmehr eine tief verinnerlichte Lebenshaltung, für die Disziplin und intensives Üben unerlässlich sind. Achtsamkeitsübungen zielen darauf ab, den Meditierenden ganz im Augenblick aufgehen zu lassen. Nicht wertendes Wahrnehmen aller im Moment auftauchenden äußeren und inneren Erscheinungen – also auch der eigenen Gefühle und Gedanken – charakterisiert den Zustand der Achtsamkeit (10).
In der westlichen Welt sind die meisten Menschen vom Zustand der Achtsamkeit weit entfernt. Sie hetzen von Termin zu Termin, erledigen mehrere Dinge gleichzeitig und haben das Handy immer griffbereit. Ein solcher Dauerstress wird als ein Hauptgrund dafür angesehen, warum psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch sind (5).
Viel mehr als eine Technik: Die buddhistische Praxis der Achtsamkeit ist eine tief verinnerlichte Lebenshaltung.
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Vor diesem Hintergrund hat ein Expertenteam unter Leitung von Professor Dr. Martin Bohus, Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, das Präventionsprogramm »Lebe Balance« entwickelt, das auf dem Konzept der Achtsamkeit beruht. Die AOK Baden-Württemberg bietet das Programm als achtwöchigen Kursus an, doch können die Inhalte auch selbst erarbeitet werden (5). Ziel ist es, ungünstigen Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern auf die Schliche zu kommen und gleichzeitig resilienzfördernde Persönlichkeitsaspekte zu stärken. Dabei ist der achtsame Umgang mit Stress ebenso Thema wie die Frage nach dem individuellen Lebenssinn, der vielen Menschen, so Bohus, gar nicht bewusst ist.
Hilfe bei der Krankheitsbewältigung
Achtsamkeitsmeditation lässt sich aber nicht nur präventiv nutzen, sondern wird auch im Rahmen ganzheitlicher Therapiekonzepte angewendet, um Patienten bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen. Jon Kabat-Zinn, der Pionier des verhaltenstherapeutischen Achtsamkeitskonzepts, hat das »Mindfullness-Based Stress Reduction Program« (MBSR) entwickelt (12, 13).
Dieses Programm, das Übungen wie Geh- und Sitzmeditation, Hatha Yoga und Body Scan mit Übungen der Achtsamkeit im Alltag kombiniert, wurde in diversen Studien vor allem bei onkologischen Patienten validiert. Laut einer aktuellen Metaanalyse sind positive Effekte auf Lebensqualität, Stress und Stimmung gut belegt (14). In einer Studie an Brustkrebspatientinnen konnten zudem physiologische Effekte wie eine Reduktion des Stresshormons Cortisol sowie eine Normalisierung pathologischer Immunparameter dokumentiert werden (15).
Schmerz wird erträglicher
Chronische Schmerzsyndrome stellen eine weitere potenzielle Indikation für Achtsamkeitsmeditation dar. Drei neuere, gut kontrollierte Studien hat die Arbeitsgruppe um Professor Dr. Stefan Schmidt, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uniklinik Freiburg, vorgelegt (16, 17, 18). Darin hatte eine achtsamkeitsbasierte Intervention bei unterschiedlichen chronischen Schmerzen – Fibromyalgie, Rückenschmerzen, Migräne – übereinstimmend positive Effekte auf die Schmerzbewältigung.
Die Schmerzpatienten profitierten entscheidend von der Anwendung des MBSR-Programms. Sie erlernten einen neuen Umgang mit dem Schmerz, was sich in einer deutlich veränderten affektiven Schmerzempfindung niederschlug. Die Schmerzen wurden als weniger quälend oder lähmend erlebt. Durch Achtsamkeitsübungen wurden auch die Parameter Ängstlichkeit, Depression und Lebensqualität deutlich gebessert. Bei Migränepatienten war infolge der veränderten Schmerzbewältigung sogar eine hoch signifikante Abnahme des Arzneimittelkonsums zu beobachten.
Gut untersucht sind die Effekte der Achtsamkeitsmeditation zudem bei kardiovaskulären Erkrankungen. Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde NIH (National Institutes of Health) hat in den letzten 20 Jahren fast 25 Millionen US-Dollar in die Erforschung des Potenzials spiritueller Techniken bei kardiovaskulären Krankheiten investiert (19).
Dabei hat sich gezeigt, dass Meditation nicht nur den Blutdruck senkt, sondern auch arteriosklerotische Gefäßwandveränderungen günstig beeinflussen kann. In einer kontrollierten mehrmonatigen Studie an Hypertonikern war nach täglicher transzendentaler Meditation eine Abnahme der mittleren Intima-Media-Dicke der Karotis feststellbar. Bei Patienten, die nicht meditiert hatten, nahm die Wanddicke dagegen zu (20).
Mind-Body-Therapie
Für die Wirksamkeit vieler »alternativer« Therapieansätze einschließlich meditativer Techniken gibt es heute mehr Evidenz als für manche gängige schulmedizinische Methode, sagt Professor Dr. Gustav Dobos, Direktor der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Essen.
Alle Weltreligionen haben Übungen entwickelt, die der Sammlung des Geistes und der Bewusstseinserweiterung dienen.
Foto: Fotolia/Konstantin Yuganov
Dort werden schulmedizinische Verfahren mit evidenzbasierten Methoden der Alternativmedizin und der Mind-Body-Medizin kombiniert (4, 11). Die Betonung liegt dabei auf evidenzbasiert. Die Mind-Body-Medizin umfasst verschiedene Therapieansätze, die im Sinne der Salutogenese auf die Aktivierung eigener Ressourcen des Patienten abzielen. Der Patient wird aufgefordert, am Heilungsgeschehen aktiv teilzunehmen und einen gesunden Lebensstil zu entwickeln. Für Dobos ist das der einzig Erfolg versprechende Weg bei der Behandlung chronischer Erkrankungen.
Neben Ernährungs- und Bewegungstherapie kommen Meditationstechniken wie Achtsamkeitsmeditation, Hatha Yoga oder Qigong zum Einsatz, wobei auch Dobos betont, dass der Arzt nur Angebote machen kann. Die Entscheidung, welche dieser Methoden individuell hilfreich sein kann, liege beim Patienten.
Altbewährte Tradition
Das ganzheitliche Konzept der Mind-Body-Medizin steht in der Tradition alter Heilslehren. Bereits im 4. Jahrhundert vor Christus hat der berühmte griechische Arzt Hippokrates in seiner Diaita-Lehre die Bedeutung von »Gemütsbewegungen« und eine entsprechend gesundheitsfördernde Lebensgestaltung hervorgehoben.
Auch für Hildegard von Bingen war das seelische Gleichgewicht fundamentale Grundlage von Gesundheit. Dasselbe gilt für die auf Bircher-Brenner und Sebastian Kneipp zurückgehende Ordnungstherapie. Diese postuliert eine natürliche Lebensordnung von Seele, Geist und Körper, die es zu erhalten beziehungsweise wiederzuerlangen gilt (4, 11).
Das Essener Konzept hat noch Modellcharakter. Im schulmedizinischen Alltag bleiben Geist und Seele meistens außen vor, wobei die Patienten laut Dobos diese fehlende Ganzheitlichkeit als großen Mangel erleben. Entsprechend groß ist der Andrang in der Essener Klinik. »Viele der chronisch Kranken, die zu uns kommen, sind Drehtürpatienten, die schon lange Patientenkarrieren hinter sich haben«, erklärte Dobos bei der Summer School »Mind-Body-Medicine« im August 2012 in Essen.
Ein ganzheitlicher Umgang mit kranken Menschen ist eines der dringlichsten Anliegen, das sich die moderne Medizin auf ihre Fahnen schreiben sollte, auch wenn die Zusammenhänge zwischen Körper und Seele bisher erst ansatzweise wissenschaftlich dokumentiert sind. Große Ärzte haben sich seit jeher immer auch auf ihr intuitives Wissen verlassen. Daran sollte sich die moderne Medizin orientieren.
Es gibt Dimensionen, die sich dem rational-wissenschaftlichen Zugang entziehen. Die Ratio ist nicht alles. Manche Phänomene wie Spontanheilungen bei finalem Krebs werden vielleicht niemals lückenlos zu erklären sein. Ein arabisches Sprichwort sagt: »Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.« /
Literatur bei der Verfasserin
Herbert Kappauf, Wunder sind möglich, Kreuz Freiburg 2011, ISBN 978-3451610073
Gustav Dobos, Anna Paul, Mind-Body-Medizin, Urban & Fischer 2011, ISBN 978-3437579301
Anton Bucher, Psychologie der Spiritualität, Beltz Weinheim 2007, ISBN 978-3621276153
Michael Zimmermann et al., Achtsamkeit – Ein buddhistisches Konzept erobert die Wissenschaft, Huber Bern 2012, ISBN 978-3456851549
Christian Schubert (Hrsg.), Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie, Schattauer Stuttgart 2011, ISBN 978-3794527007
Joachim Faulstich, Das Geheimnis der Heilung, Knaur MensSana 2010, ISBN 978-3426656556
Eckart Straube, Heilsamer Zauber, Springer Heidelberg 2002, ISBN 978-3827413772
Jakob Bösch, Spirituelles Heilen und Schulmedizin, AT Aarau 2006, ISBN 978-3038002819
Eckhard Schiffer, Wie Gesundheit entsteht, Beltz Weinheim 2013, ISBN 978-3407859792
Regina Oehler (Hrsg.), Gesundheit neu denken, Beltz Weinheim 2013, ISBN 978-3407859822
Lebe Balance. Das Programm für innere Stärke und Achtsamkeit, Trias 2013, ISBN 978-3830469841
Ulrike Viegener ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Medizin und Pharmazie. Nach ihrem Studium der Biologie und Chemie war sie viele Jahre verantwortlich für die Sonderproduktionen zum Deutschen Ärzteblatt. Heute schreibt sie für Apotheker und Ärzte ebenso wie für Laien, wobei ihr gesundheits- und gesellschaftspolitische Themen besonders wichtig sind. Neben dem Journalismus hat Viegener noch eine zweite Passion: die Malerei.
Ulrike Viegener Höhenweg 7a, 51465 Bergisch Gladbach, E-Mail: ulrike.viegener(at)gmx.de