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TCM

Im Westen was Neues

27.08.2013  16:34 Uhr

Von Ulrike Abel-Wanek / Der Markt für fernöstliche Heilkunde boomt. Akupunktur hat sogar Aufnahme in die Leistungskataloge westlicher Krankenkassen gefunden. Doch die in Europa praktizierten Methoden aus Fernost haben mit der rund 2000 Jahre alten chinesischen Medizin nur wenig zu tun, sagt der Sinologe und Medizinhistoriker Paul Unschuld.

Der US-amerikanische Journalist James Reston begleitete 1971 den damaligen Außenminister Henry Kissinger zur Vorbereitung des Besuchs von Präsident Richard Nixon nach China. Reston musste sich dort einer Blinddarmoperation unterziehen. Zur Bekämpfung seiner postoperativen Schmerzen wurde eine ihm völlig unbekannte Methode angewandt: die Akupunktur. Sein Bericht über die Behandlung erschien in der »New York Times« vom 26. Juli 1971 auf der ersten Seite – und machte die neue Nadeltherapie über Nacht berühmt.

Scharen von Politikern, Ärzten, Heilpraktikern und Laien aus Europa und den USA reisten nach China, um sich über die traditionellen Heilverfahren zu informieren. Die Besucher lernten jedoch eine chinesische Medizin kennen, die die Ärztin und Sinologin Barbara Volkmar ein »systemisches Kunstprodukt« nennt, das nicht mehr viel mit der historischen Vielfalt chinesischer Heilkunde zu tun hatte. Die TCM war nur noch das Konstrukt einer jahrtausendealten Heilkultur, das im Westen der 1970er-Jahre eine weitere »kreative Rezeption« erfuhr, so Professor Paul Unschuld in seinem kürzlich erschienen Buch »Traditionelle Chinesische Medizin«.

 

Körper gleich Staat

 

Es war eine kleine intellektuelle Elite, die vor rund 2000 Jahren die alte chinesische Heilkunst nachhaltig und auf lange Sicht prägte: Der Körper glich dem Staat und war nach den gleichen Prinzipien »in Ordnung« zu halten wie eine Gesellschaft. Für das Regieren und für das Therapieren gab es im alten China ein und dasselbe Wort: zhi (ordnen). Statt des Glaubens an Götter und Dämonen als willkürliche Verursacher für Krankheit, verortete man die Ursachen von Erkrankungen nun im Menschen selber.

 

Dieses neue Verständnis eröffnete auch neue Möglichkeiten vorbeugender und therapeutischer Verfahren. Im Mittelpunkt der historischen chinesischen Medizin stand die Arzneitherapie mit Tausenden von Rezepturen. Viele von ihnen galten als Allheilmittel, die meistens versprachen, eine ganze Palette von Krankheiten gleichzeitig behandeln zu können.

 

Akupunktur spielte im alten China eine eher marginale Rolle und fand zunächst nur Anwendung beim Aderlass. Überschüssiges Blut wurde durch das Öffnen der Gefäße mit spitzen Steinen und Stiften aus dem Organismus entfernt, und damit auch die krank machenden Faktoren, die man im Blut vermutete. Etwa im 17. Jahrhundert wandelte sich die Akupunktur in ein weitgehend unblutiges Verfahren um (lesen Sie mehr zur Akupunktur auf Seite 38).

 

In Europa lösten die Nachrichten von den chinesischen Nadeltherapien zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine weit verbreitete »Akupunkturmanie« aus. Sie wurde mit dem neuen Wissen um die Elektrizität in Verbindung gesetzt und die Nadeln als mögliche Stimulanzien einer körpereigenen elektrischen Kraft gedeutet. Die Berichte aus China über eine, verglichen mit der europäischen Medizin, ganz andere Art des Umgangs mit Kranksein stießen auf offene Ohren in einer Zeit, bevor neue Erkenntnisse zur Morphologie und den Funktionen des menschlichen Organismus die moderne europäische Medizin begründeten.

 

Rückständige Medizin

 

Anfang des 20. Jahrhunderts drängten chinesische Reformer im Bemühen um die Modernisierung ihres Landes auf Abschaffung der traditionellen Medizin, die als überholt und rückständig galt. Die ärztlichen Gelehrten wüssten nichts von menschlicher Anatomie, hätten keinerlei Ahnung von bakteriellen Vergiftungen und Infektionen oder davon, wie man Heilmittel analysiert, empörte sich der Reformer Chen Duxiu 1919 in der von ihm gegründeten Zeitschrift »Neue Jugend«. Seine Forderung: naturwissenschaftliche Tatsachen statt Qi, Yin-Yang und der Fünf-Phasen-Lehre.

Mit dem Untergang des Kaiserreichs 1911 und nach Gründung der Volksrepublik China standen die Zeichen auf Neuanfang im Land der Mitte. Nach verlustreichen Kriegen mit europä­ischen Kolonialmächten, den USA und Japan machte China tiefgreifende Veränderungen durch, die umwälzender waren als jede Neuordnung zuvor. Die Hoffnungen, das Land wieder aufzubauen und konkurrenzfähig zu machen, lagen auf den Naturwissenschaften, den Technologien und der Medizin des Westens.

 

So fand Anfang des 20. Jahrhunderts die westliche Medizin – mit ihren modernen Anästhesieverfahren und Operationstechniken, der Möglichkeit, Krankheitserreger zu identifizieren und einer immer wirksamer werdenden Arzneimitteltherapie, rasche Aufnahme in China. »Ich habe entschieden, die chinesische Medizin zukünftig auszulöschen und auch die chinesischen Arzneimittel nicht mehr zu verwenden«, so der in Großbritannien ausgebildete Mikrobiologe Wu Lien-Teh. Seine in Europa erworbenen Kenntnisse zur Seuchenkontrolle beendeten die sogenannte Mandschuristische Pest von 1910/11, die Tausende von Menschen das Leben gekostet hatte, weil traditionelle Verfahren wie der beispielsweise immer noch weit verbreitete Glauben an die Dämonen-Vertreibung, versagt hatten.

 

Dilemma der Politik

 

Die eigenen traditionellen Verfahren verloren an Popularität, aber konservative Kreise und Ärzte bemühten sich gleichzeitig, der alten chinesischen Heilkunde weiterhin Anerkennung zu sichern. Ein Dilemma für die Politik: einerseits der Modernisierung Chinas verpflichtet zu sein, andererseits die Bedürfnisse und Vorlieben der Bevölkerung nicht völlig außer Acht zu lassen. Zudem bot die traditionelle chinesische Medizin vielen Menschen einen Lebensunterhalt und – vor allem – das Ausland begann, sich für die Heilmethode aus Fernost zu interessieren. Anfang der 1950er-Jahre hatten sich nicht nur Sowjetunion und andere Länder des sozialistischen Blocks für die chinesische Medizin interessiert. Auch Franzosen luden die fernöstlichen Ärzte ein, um bei ihnen Vorträge zu halten.

 

China erkannte das wirtschaftliche Potenzial der weltweiten Vermarktung einer an die Moderne angepassten traditionellen Medizin. Eine eigens eingesetzte Kommission arbeitete in den folgenden Jahren deshalb an einer Version der alten Heilkunst, die nur noch auf einen Kern ihrer ursprünglichen Inhalte reduziert wurde. Sie sollte sich modern präsentieren – frei von den Irrtümern und unwissenschaft­lichen Elementen der Vergangenheit – aber auch die Kontinuität einer jahrtausendealten spezifisch chinesischen Kultur repräsentieren. 1955 wurde die englische Bezeichnung »Traditional Chinese Medicine« (TCM) eingeführt – ein Terminus, der allein für das Ausland geschaffen wurde und sich 20 Jahre später weltweit als Markenname durchsetzte.

 

Speziell in den 1970er- und 1980er-Jahren, als die Unzufriedenheit mit der westlichen Schulmedizin wuchs, erfüllte diese TCM die tiefe Sehnsucht vieler Menschen nach einer sanften, ganzheitlichen und auch spirituell alternativen Heilkunde. »Diese Mythen haben sich im Westen festgesetzt und treffen doch in keiner Weise zu«, sagt Unschuld. Sanft und natürlich sei die chinesische Medizin nie gewesen.

 

Die groben Stifte, die als Nadel in das Gewebe gestoßen wurden, hatten wenig gemeinsam mit der feinen schmerzfreien Nadeltherapie der Gegenwart. Auch ihre pflanzlichen, tierischen und mineralischen Arzneimittel entstammten zumeist zwar der Natur, würden aber künstlich aufbereitet und in Arzneiformen gebracht, die kulturell zwar höchst anspruchsvoll seien, aber zugleich eine Modifikation der Natur bedeuteten. Selbstheilungskräfte kenne die chinesische Medizin genauso wenig wie den Terminus Ganzheitlichkeit.

 

Die Reise der alten chinesischen Medizin geht weiter in Richtung Westen. Das zeigte auch ein Kongress 2007, zu dem sich Wissenschafts- und Gesundheitsminister zahlreicher Staaten in China zusammenfanden. Kernbotschaft der chinesischen Regierung an die ausländischen Delegierten: Die TCM ist eine in den biologischen Wissenschaften verankerte Medizin. Ihre Zukunft liegt in der Molekularbiologie. /

Buchtipp

Paul U. Unschuld: Traditionelle Chinesische Medizin

128 Seiten, Paperback. Verlag C. H. Beck, München 2013, ISBN: 978-3-406-65602-6, EUR 8,95

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