Verwirrt durch Medikamente |
26.07.2013 10:37 Uhr |
Von Iris Hinneburg / Aufgrund der demografischen Entwicklung erwarten Experten einen starken Anstieg von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer-Demenz. Doch wenn sich bei älteren Patienten das Denken verlangsamt, die Gedächtnisfunktion nachlässt oder die Wahrnehmungsfähigkeit abnimmt, muss nicht immer ein demenzieller Prozess dahinterstecken. Einschränkungen der Kognition können auch durch Medikamente hervorgerufen werden.
Ältere Menschen sind besonders empfindlich gegenüber zentralnervösen Nebenwirkungen. Dafür sind verschiedene Prozesse verantwortlich. So verändert sich im Alter häufig der Stoffwechsel von Neurotransmittern. Daneben können Erkrankungen wie ein Schlaganfall, der am häufigsten im fortgeschrittenen Lebensalter auftritt, die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke erhöhen, sodass Arzneistoffe leichter in das Zentralnervensystem gelangen.
Bei älteren Menschen verändert sich häufig der Stoffwechsel von Neurotransmittern. Das macht sie besonders empfindlich gegenüber zentralnervösen Nebenwirkungen von Medikamenten.
Foto: Fotolia/Peter Maszlen
Kognitionseinschränkungen durch Medikamente können von Aufmerksamkeitsschwäche, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisproblemen bis hin zu einem manifesten Delir reichen, bei dem zusätzlich Bewusstseins- und Wahrnehmungsstörungen auftreten. Typischerweise wird ein Delir zwar von psychomotorischer Unruhe begleitet, doch fehlt dieses Symptom bei älteren Patienten häufig (»hypoaktives Delir«). Da dann nur Symptome wie eine allgemeine Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit sowie eine Verlangsamung der Motorik auffallen, wird vor allem bei dieser Patientengruppe ein Delir oft nicht erkannt. In manchen Fällen führen Angehörige die Symptome sogar irrtümlich auf demenzielle Prozesse zurück.
Problemfall Anticholinergika
In Studien wurden einige Medikamente identifiziert, die bei älteren Patienten besonders häufig kognitive Defizite auslösen oder zu einem Delir führen. Besonders problematisch sind Arzneistoffe mit anticholinergen Eigenschaften, da cholinerge Neurone im Zentralnervensystem eine wichtige Rolle für Bewusstsein und Kognition spielen. Besonders Anticholinergika, wie sie etwa beim Morbus Parkinson eingesetzt werden, trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin und Antihistaminika (etwa Diphenhydramin oder Cimetidin) werden mit kognitiven Störungen bei älteren Patienten in Zusammenhang gebracht.
Experten gehen davon aus, dass neben anticholinergen Substanzen auch Arzneistoffe mit Einfluss auf andere Neurotransmitter wie Dopamin und GABA, möglicherweise auch Serotonin, Noradrenalin, Glutamat und Histamin, die Kognition stören und an der Entstehung eines Delirs beteiligt sein können. So sind in Studien zum Beispiel Benzodiazepine in deutlich größerem Maß als delirogen aufgefallen, als es ihrer anticholinergen Wirksamkeit entsprechen würde.
Bei älteren Menschen kann auch eine Hyponatriämie die Ursache für Aufmerksamkeitsstörungen und Vergesslichkeit sein. Die Elektrolytstörung entsteht im Alter besonders leicht, weil die Fähigkeit der Niere zur Natriumrückresorption abnimmt. Verstärkt wird dieses Phänomen etwa durch den Einsatz von Thiazid-Diuretika. Verwirrtheit kann auch im Rahmen eines medikamentös bedingten Serotonin-Syndroms auftreten, dann allerdings in der Regel gleichzeitig mit autonomen und neuromuskulären Symptomen wie starkem Schwitzen, Herzrasen oder Zittern.
Schwache Evidenz trotz klinischer Erfahrung
Trotz dieser biologisch plausiblen Zusammenhänge haben Studien zu medikationsbedingten Kognitionsstörungen und Delir in der Vergangenheit widersprüchliche Ergebnisse geliefert. So wurden in einigen Untersuchungen Substanzen wie Digoxin oder Glucocorticoide als delirfördernd identifiziert, während größere Metaanalysen keinen solchen Effekt gefunden haben. Auch für Substanzen wie dopaminerge Parkinsonmedikamente, Neuroleptika, Opioide und Gyrasehemmer ist die Studienlage nicht eindeutig.
Für diese widersprüchlichen Ergebnisse sind vermutlich mehrere Faktoren verantwortlich. So ist ein Delir in der Regel multifaktoriell bedingt und hängt unter anderem auch von der entsprechenden Prädisposition des Patienten ab. Auch Verzerrungen durch das Studiendesign können zu den uneindeutigen Ergebnissen beitragen. In nicht interventionellen Studien lässt sich etwa nicht immer vollständig ausschließen, dass eine Grunderkrankung und nicht die Einnahme eines entsprechenden Medikaments die eigentliche Ursache für die Kognitionsstörung bildet (»umgekehrte Kausalität«). So klagen etwa viele Patienten, bei denen erst viel später eine Demenz diagnostiziert wird, in einem sehr frühen Krankheitsstadium über Schlafstörungen, die dann nicht selten mit Benzodiazepinen behandelt werden. Auch Schmerzen oder akute Infektionen, die der Verordnung von Opioiden oder Antibiotika zugrunde liegen, können bei entsprechender Prädisposition die Entstehung eines Delirs fördern.
Empfehlungen für die Praxis
Erkenntnisse zu medikamentös verursachten Kognitionsstörungen werden in Empfehlungen zum Arzneimitteleinsatz bei älteren Patienten berücksichtigt. So weisen die amerikanische Beers-Liste und die deutsche Priscus-Liste darauf hin, dass Substanzen mit kognitionseinschränkenden oder delirogenen Eigenschaften möglichst nicht bei älteren Patienten eingesetzt werden sollten. Übereinstimmend nennen beide Listen H1-Antihistaminika der ersten Generation wie Diphenhydramin oder Doxylamin, trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin sowie Benzodiazepine. Das gilt besonders dann, wenn weitere Risikofaktoren für ein Delir oder bereits kognitive Beeinträchtigungen vorliegen.
Bei entsprechend prädisponierten Patienten können möglicherweise aber auch andere Arzneistoffe dazu beitragen, dass ein Delir entsteht. Risikopatienten weisen etwa eine Demenz oder eine leichte kognitive Beeinträchtigung (mild cognitive impairment) auf. Aber auch Störungen des Flüssigkeitshaushalts, akute Infektionen oder Operationen können bei geriatrischen Patienten die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen. Solche Patienten sollten besonders sorgfältig überwacht werden. In vielen Fällen ist auch eine einschleichende Dosierung der Arzneimittel möglich und sinnvoll. In der Apotheke ist es wichtig zu beachten, dass bei Patienten mit einer Vielzahl von Arzneimitteln das Risiko für eventuelle Nebenwirkungen im kognitiven Bereich durch Interaktionen ansteigen kann.
Die deutsche S3-Leitlinie zu Demenzen weist explizit darauf hin, dass vor der Diagnosestellung »Demenz« mögliche sekundäre Ursachen abgeklärt werden müssen – dazu gehören auch Nebenwirkungen von Medikamenten. Werden Nebenwirkungen als solche erkannt, sind die kognitiven Defizite durch eine entsprechende Anpassung der Medikation häufig reversibel. /