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Inselzelltransplantation

Frau Merkels Rückkehr ins Leben

27.11.2012  16:12 Uhr

Von Sven Siebenand, Berlin / Die meisten Typ-1-Diabetiker lassen sich mit einer intensivierten Insulintherapie gut einstellen. Trotz Risiken kann für einige Patienten aber eine Transplantation von Inselzellen des Pankreas eines Organspenders sinnvoll sein. Auf der Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) berichteten Ärzte und Patienten über Erfahrungen mit dieser jungen Therapieform und über mögliche Perspektiven.

»Den Tag der Transplantation feiere ich wie einen zweiten Geburtstag«, sagte Patientin Kerstin Merkel auf der DDG-Tagung Mitte November in Berlin. Vor der Transplantation habe ihr Blutzucker trotz größter Anstrengungen permanent zwischen sehr hohen und sehr niedrigen Werten geschwankt. Oftmals sei sie bei einer Unterzuckerung bewusstlos geworden und auf die Hilfe Fremder angewiesen gewesen. Das habe sowohl im Berufsalltag als auch im privaten Umfeld sehr stark ihre Lebensqualität eingeschränkt. Dank der transplantierten Inselzellen könne sie nun wieder ein normales Leben führen. Sie würde sich immer wieder für diesen Schritt entscheiden.

Merkel ist eine von nur zehn Patienten in Deutschland, denen Ärzte seit 2008 neue Inselzellen einpflanzten. Weltweit haben Ärzte diesen Eingriff bisher an 1200 Patien­ten in einem von 60 Zentren vorgenommen. Deutschlandweit führen derzeit nur Medizi­ner des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus der TU Dresden Inselzelltransplanta­tionen durch.

 

Neuer Wohnort Leber

 

Wie funktioniert das? Aus einem Spender­organ werden die Langerhans- Inseln (siehe Kasten) durch einen aufwendigen enzymati­schen Verdauungsprozess isoliert und anschließend aufgereinigt. Die Zellen werden nach strengen Kriterien geprüft und erst dann transplantiert. So wird ein kleiner Teil zum Beispiel Mäusen injiziert, um nachzuweisen, dass die Inseln tatsächlich Insulin produzieren. Da sich die Bauchspeicheldrüse von Langzeit-Diabetikern zurückbildet, müssen die Inselzellen später in die Leber gespritzt werden. Sie werden dem Patienten über die Pfortader in die Leber eingeschwemmt, wo sie sich ansiedeln und schnell die Insulinproduktion aufnehmen. Das lässt sich an Messungen des C-Peptids nachweisen.

 

Dr. Barbara Ludwig vom Universitätsklinikum Dresden erklärte, dass derzeit 15 Patienten aus Deutschland bei Eurotransplant auf der Warteliste für Langerhans-Inseln stehen. Die durchschnittliche Wartezeit liege bei etwas mehr als zwei Jahren. Der große limitierende Faktor sei das Angebot an Spenderorganen, aus denen die Inselzellen gewonnen werden. Nach einer Novelle des Transplantationsgesetzes gelten die Inselzellen selbst übrigens nicht als Organ, sondern als Gewebe. Es handelt sich also nicht um eine Organ-, sondern um eine Gewebetransplantation.

 

Obwohl die Übertragung der Zellen wesentlich unkomplizierter und weniger belastend ist, hat die Transplanta­tion einer kompletten Bauchspeicheldrüse Vorrang. Nur wenn ein Spender­pankreas nicht transplantierbar ist, steht es für die zweite Behandlungs­variante zur Verfügung. Dies ist unter anderem der Fall, wenn das Organ von übergewichtigen oder älteren Spendern stammt.

Inselzellen

Die Langerhans-Inseln sind Zell­ansammlungen in der Bauchspeicheldrüse. Benannt nach dem deutschen Pathologen Paul Langerhans, der die Inseln im 19. Jahrhundert entdeckte, machen sie etwa 2 bis 3 Prozent der Masse des Organs aus. Rund 1 Million Langerhans-Inseln sind in der Bauchspeicheldrüse eines gesunden Erwachsenen enthalten. 60 bis 80 Prozent davon sind Betazellen; sie sezernieren Insulin. 15 bis 20 Prozent sind Alphazellen, die dessen Gegenspieler Glucagon freisetzen. Daneben gibt es noch einen kleineren Anteil weiterer Zellen, die zum Beispiel Somatostatin oder pankreatisches Polypeptid abgeben.

Die Transplantation einer ganzen Bauchspeicheldrüse wird meistens mit einer Nierentransplantation kombiniert. Dieses Verfahren ist bei Patienten mit terminaler und präterminaler Niereninsuffizienz Therapie der Wahl, sagte Ludwig. Dagegen ist die Inselzelltransplantation für eine kleine Gruppe von Typ-1-Diabetikern geeignet. Zuvor müssen diese aber über mögliche Nebenwirkungen, etwa ein erhöhtes Lymphom-Risiko, und die notwendige dauerhafte Einnahme immunsuppressiver Medikamente aufgeklärt werden.

 

Ludwig betonte, dass die meisten Typ-1-Diabetiker mit einer intensivierten Insulintherapie oder einer Insulinpumpen-Behandlung akzeptabel eingestellt werden können. Patienten mit hoher Stoffwechsel-Labilität seien jedoch mögliche Kandidaten für eine Inselzelltransplantation, wenn zuvor alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft wurden. Die Medizinerin definierte genauer, was sie unter schwerer Glucosekontrolle versteht: große Blutzuckerschwankungen, häufige, teils lebensbedrohliche Unterzuckerungen, vom Betroffenen herbeigeführte »Sicherheits-Hyperglykämien« sowie Entwicklung und Progression von Diabeteskomplikationen.

 

Für die metabolische Instabilität bei diesen Patienten gebe es mehrere Ursachen. Dazu zählt eine lange Diabetesdauer mit unzureichenden bis fehlenden Gegenregulationsmechanismen, Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen und eine autonome Neuropathie. Letztere mache eine Synchronisation von aufgenommenen Kohlenhydraten und Insulinwirkung so gut wie unmöglich. Die Medizinerin hob zudem Patienten mit einem niedrigen Insulinbedarf hervor. Kleine Ungenauigkeiten in der Einschätzung der Kohlenhydratmenge können bei ihnen fatale Folgen haben.

 

Unterzuckerungen verschwinden

 

Es gehe nicht darum, dass Patienten nach der Transplantation von Inselzellen ganz auf externes Insulin verzichten können, erklärte Ludwig. Alle Patienten müssen sich auch nach dem Eingriff geringe Mengen an Insulin spritzen. »Das Transplantat ist dadurch weniger metabolischem Stress ausgesetzt«, so Ludwig. Primäres Ziel einer Inselzelltransplantation ist es der Medizinerin zufolge, die endogene Insulinsekretion wiederherzustellen. Das führt zu einer Stabilisierung der Blutzuckerkontrolle, zur Prävention von Unterzuckerungen und erhöht letztlich die Lebensqualität der Betroffenen. In Untersuchungen konnten Forscher herausfinden, warum die Unterzuckerungen und deren Wahrnehmungsstörung nach einer Transplantation fast vollkommen verschwanden. So wurde die Gegenregulation durch Glucagon wiederhergestellt, und die adrenergen Symptome einer Unterzuckerung wie Schwitzen, Zittern und Herzklopfen traten wieder auf. Das ermöglichte den Patienten wieder ein frühzeitiges Handeln.

 

Bislang fehlten noch Daten aus der Langzeit-Anwendung, räumte Ludwig ein. Nach einer Beobachtungszeit von mittlerweile bis zu vier Jahren sind die bisherigen Ergebnisse aber sehr vielversprechend. So lag der HbA1c-Wert im Durchschnitt bei 8,0 Prozent vor der Transplantation und danach im Normalbereich. Unterzuckerungen verschwanden. Die Nebenwirkungen aufgrund der notwendigen Immunsuppression sind Ludwig zufolge nur mild, behandelbar und in der Regel nach drei bis vier Monaten komplett verschwunden.

Das konnte Patientin Merkel bestätigen. Sie berichtete von ständigen Erkältungen und Entzündungen im Mundraum. »Das ging vorbei und nun habe ich gar keine Probleme«, so Merkel, die gerührt über ein für sie »unbeschreibliches Ergebnis« berichtete. Sie wünscht sich, dass die Inselzellen nun lange ihre Arbeit machen. Denn leider nimmt die Inselfunktion im Laufe der Zeit wieder ab. Wie Ludwig erklärte, hat das verschiedene Gründe, etwa die Ansiedlung der Zellen in der Leber und vor allem die Tatsache, dass Typ-1-Diabetes eine Autoimmunerkrankung ist. Dieser Prozess wird durch die Transplantation funktionierender Zellen natürlich nicht gestoppt, er startet nur wieder bei null.

 

Stammzellen und Schweinezellen

 

Zukünftig könnte es laut Ludwig auch andere Methoden geben, um Typ-1- Diabetikern zu helfen. Viele Wissenschaftler forschen zum Beispiel auf dem Gebiet der Xenotransplantation. So sollen Insulin-produzierende Inselzellen von Schweinen nach der Implantation die Insulinproduktion beim Menschen übernehmen. Ludwig informierte, dass man mit speziellen Verkapselungstechniken versucht, Abstoßungsreaktionen zu verhindern. So könne man auf den Einsatz von Immunsuppressiva möglicherweise verzichten. Es gebe zum Beispiel aus Projekten in Neuseeland, Argentinien und Russland schon vielversprechende Ergebnisse. Auch in Deutschland laufen präklinische Untersuchungen auf diesem Forschungsgebiet.

 

Auf alle offenen Fragen haben die Wissenschaftler bisher aber noch keine Antworten gefunden. Bis es im klinischen Alltag also so weit ist, dass Inselzellen von Tieren bei Diabetikern zum Einsatz kommen, wird man noch etwas warten müssen. Voraussichtlich noch mehr Geduld brauche man, wenn man auf eine Stammzelltherapie im breiten klinischen Einsatz wartet. Es sei zwar kein Problem, Zellen dazu zu bringen, Insulin zu produzieren. Sie tun dies aber viel zu wenig und nicht reguliert, so Ludwig. / 

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