Immunglobuline bei Multipler Sklerose |
10.02.2003 00:00 Uhr |
von Thilo Bertsche und Martin Schulz, Berlin, und Rudolf Janzen, Frankfurt am Main
Intravenös applizierte Immunglobuline (i.v. Ig) können die Körperbehinderung und das Befinden von Patienten mit schubförmig remittierender Multiplen Sklerose (MS) verbessern. Dabei handelt es sich um eine Off-label-Anwendung dieser Arzneistoffe, die therapeutisch und pharmakoökonomisch sinnvoll ist.
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des Gehirns und Rückenmarks, deren Ätiologie bislang unbekannt ist. Die Pathogenese besteht in einer Demyelinisierung markhaltiger Nervenfasern. Die MS tritt mit einer Prävalenz von 30 bis 80 Erkrankungen auf 100.000 Menschen bevorzugt in kühleren Breitengraden auf. Die Krankheit manifestiert sich meist zwischen dem zwanzigsten und vierzigsten Lebensjahr. Frauen sind mit 61 Prozent häufiger betroffen als Männer.
Was bedeutet Off-label-Use? Neben etablierten Behandlungskonzepten können bei Therapieversagen oder für spezielle Patientengruppen weitere therapeutische Optionen sehr hilfreich sein. Werden Arzneimittel außerhalb ihrer zugelassenen Indikationsgebiete angewandt, spricht man von einem Off-label-Einsatz. Dabei trägt allein der behandelnde Arzt die Verantwortung für den Therapieversuch. Die gesetzlichen Kostenträger sind nicht verpflichtet, die Kosten zu übernehmen. Ein Off-label-Einsatz muss daher kritisch und sorgfältig bewertet werden.
Klinisch zeigt sich die Erkrankung im Anfangsstadium besonders durch plötzlich auftretende Sehstörungen, Lähmungen verschiedener Extremitäten, sensible Reizerscheinungen, Müdigkeit, Schwindel, Sprachstörungen, Blasenschwäche, Verstopfung sowie Leistungsschwäche bei erhöhter Körpertemperatur. Je nach Fortschreiten der Erkrankung lassen sich im Wesentlichen vier Verlaufsformen unterscheiden: schubförmig remittierende, primär progrediente, sekundär progrediente und schubförmig progrediente MS (1 - 3).
Diagnostik nach drei Monaten
Die sichere Diagnosestellung erfolgt insbesondere durch visuell evozierte (VEPs), somatosensibel evozierte (SEPs) und motorisch evozierte Potenziale (MEPs) (lateinisch evocare: hervorrufen). Die Reizung definierter Hirnregionen ermöglicht Aussagen über die Störungen der Nervenleitfähigkeit.
Außerdem dient die Computertomographie (CT) sowie die Magnetresonanztomographie (MRT) der Diagnostik. Hier zeigt sich die MS vor allem durch charakteristische runde und helle Läsionen, die sich durch paramagnetische Kontrastmittel noch verdeutlichen lassen. Mittels einer Liquoranalyse können bestimmte Antikörper und Eiweiße diagnostiziert werden.
Diese Methoden dienen auch der Verlaufskontrolle, werden in klinischen Studien jedoch nur als Surrogatkriterien anerkannt (zum Beispiel von der FDA). Als etabliertester Parameter zur Verlaufskontrolle und Beurteilung der Evidenz von klinischen Studien gilt derzeit die Extended Disability State Scale nach Kurzke (EDSS, Tabelle). Die kognitiven Fähigkeiten, das Sehvermögen und Funktionsfähigkeiten der oberen Extremitäten werden in der EDS-Skala jedoch nicht berücksichtigt.
Tabelle: Extended Disability Stages Scale (EDSS nach Kurzke; 1)
StadiumBehinderung 0 normal 1 keine Behinderung, abnorme Untersuchungsbefunde 2 minimale Behinderung 3 mäßige Behinderung 4 gehfähig ohne Hilfe für mindestens 500 Meter 5 gehfähig (200 Meter), starke Einschränkung der Arbeitsfähigkeit 6 Krücke oder Stock nötig, um 100 Meter zu gehen 7 Rollstuhl-pflichtig (weniger als 5 Meter gehfähig) 8 Bett oder Rollstuhl, Hilfe bei Körperpflege 9 hilflos 10 Tod durch MS
Die Diagnose der schubförmigen MS kann heute bereits nach dem ersten Schub erfolgen, wenn zusätzlich früh diagnostizierbare Kriterien, beispielsweise der MRT-Befund, positiv sind. So kann die Diagnose MS frühestens drei Monate nach Auftreten des ersten Schubes gestellt werden (1 - 3).
Evidenz-basierte Therapie
Die medikamentöse Therapie soll vor allem drei Ziele erreichen: Verringerung der Schubfrequenz, Verlangsamung der Progredienz und Verkürzung der Schubdauer.
Zur Verringerung der Schubfrequenz werden Interferon beta-1a (Avonex®, Rebif®) und beta-1b (Betaferon®), Azathioprin (zum Beispiel Imurek®) und neuerdings Glatirameracetat (Copaxone®) eingesetzt (4, 5).
Interferone senken die Schubfrequenz um ein Drittel. Dauerhafte Behinderungen bei schubförmigem Verlauf werden allenfalls hinausgezögert. Ob eine solche Verzögerung für jeden Patienten klinisch relevant ist, bleibt offen. Patienten mit sekundär progredienter Verlaufsform scheinen unter Interferon beta-1b im Mittel neun Monate später auf den Rollstuhl angewiesen zu sein (1 - 3).
In einer vor kurzem publizierten zweijährigen Studie (INCOMIN-Studie) wurden erstmalig Interferon beta-1a und -1b bei schubförmig remittierender MS miteinander verglichen. Die Hochdosistherapie mit Interferon beta-1b, einmal täglich appliziert, schnitt besser ab als das einmal wöchentlich zu verabreichende Interferon beta-1a. In die Bewertung gingen die Rate schubfreier Patienten, die mittlere Schubfrequenz sowie Veränderungen des EDSS-Werts und im MRT-Befund ein. Jedoch löste Interferon beta-1b mehr unerwünschte Wirkungen aus, zum Beispiel Reaktionen an der Injektionsstelle und Bildung von neutralisierenden Antikörpern (6).
Glatirameracetat ist bislang vor allem in der Langzeitanwendung weniger gut untersucht als die Interferone. Es senkt die Schubfrequenz ähnlich gut wie die Interferone, wirkt wahrscheinlich schlechter auf das Fortschreiten der Behinderung, scheint jedoch besser verträglich zu sein. In der Akuttherapie verkürzen Glucocorticoide, besonders Methylprednisolon, die Schubdauer.
Können diese First-line-Therapien nicht angewandt werden, ist der klinische Einsatz weiterer Arzneistoffe im Rahmen der Evidenz-basierten Medizin als Second-line-Therapie erforderlich. Eine solche Therapieoption stellt die intravenöse Gabe von Immunglobulinen (i.v. Ig) dar (1-3).
Intravenöse Immunglobuline
Immunglobuline modulieren das Immunsystem und konnten bei verschiedenen neurologischen Autoimmunerkrankungen erfolgreich eingesetzt werden (7). Bereits 1997 lief eine Studie zur Anwendung bei Patienten mit schubförmig-remittierender MS (8). In dieser Studie erhielten 148 Patienten zwei Jahre lang einmal monatlich intravenös entweder Immunglobuline in einer Dosierung von 0,15 bis 0,2 g/kg Körpergewicht oder Placebo. Der primäre Zielparameter war die absolute Änderung des EDSS-Wertes. Zudem wurde das Verhältnis von klinischer Besserung, unverändertem Zustand oder Verschlechterungen von Verum zu Placebo erfasst. Die Auswertung erfolgte nach einer kritischen Intention-to-treat-Analyse, bei der auch Studienabbrecher einbezogen werden.
Unter der Behandlung mit i.v. Ig besserte sich die Körperbehinderung. Der EDSS-Wert sank um 0,23 Punkte (Konfidenzintervall [95 Prozent CI] -0,43 bis -0,03), während er in der Placebogruppe um 0,12 anstieg (-0,13 bis 0,37). Der Unterschied war signifikant (p = 0,008). In der Immunglobulin-Gruppe verbesserte sich der Zustand bei 23 Patienten (31 Prozent), bei 40 (53 Prozent) war er stabil und bei 12 Patienten (16 Prozent) verschlechterte er sich, verglichen mit 10, 46 und 17 Patienten in der Placebogruppe (14, 63 und 23 Prozent).
Nebenwirkungen traten bei drei (4 Prozent) Patienten unter Verum und bei vier (5 Prozent) Patienten in der Placebogruppe auf. Eine direkte Korrelation der Nebenwirkungen mit der Studienmedikation wurde nicht hergestellt. Nach Ansicht der Autoren kann daher eine monatliche Behandlung mit i.v. Ig als wirksam und gut verträglich bei der Therapie der schubförmig-remittierenden MS angesehen werden.
Eine weitere placebokontrollierte klinische Studie an insgesamt 40 Patienten erbrachte ebenfalls Erfolg versprechende Resultate in der mit i.v. Ig behandelten Patientengruppe (9). So sank die Schubrate beispielsweise um 36 Prozent. Sechs Patienten unter Verum, aber keiner aus der Placebogruppe erlitten während der zweijährigen Studienphase keinen Schub. Die Zeit bis zur ersten Exazerbation betrug 233 Tage in der i.v. Ig-Gruppe gegenüber 82 Tagen in der Placebogruppe. Dieses Ergebnis ist signifikant (p = 0,003).
Der EDSS-Wert sank um 0,3 in der Verumgruppe und stieg in der Placebogruppe um 0,15 an. Im MRT-Befund war der Rückgang der Läsionen nicht signifikant. Unerwünschte Ereignisse traten in der Placebogruppe bei 7 von 314 Infusionen, unter Verum bei 12 von 316 Infusionen auf. Damit war die Ereignisrate für i.v. Ig zwar signifikant höher (p < 0,05); trotzdem kann die Immunglobulin-Behandlung in dieser Studie nicht nur als wirksam, sondern auch als sicher und gut verträglich bezeichnet werden.
In pharmakologisch-experimentellen Modellen konnten Immunglobuline die Remyelinisierung verbessern (10, 11). Am Patienten zeigte sich in einer doppelblinden klinischen Studie jedoch bislang kein Nutzen für die Remyelinisierung (12). Die Autoren geben jedoch zu bedenken, dass unter anderem Dauer und Dosis der Therapie unzureichend oder eine Remyelinisierung nur in einem bestimmten Zeitfenster noch möglich gewesen sein könnte. Eine Dosis-Vergleichsstudie mit i.v. Ig bei schubförmigem Verlauf ist geplant (3).
Es liegen nicht nur kontrollierte klinische Studien für die schubförmige MS, sondern auch Untersuchungen zu den progredienten Formen vor (13). In der doppelblinden, placebokontrollierten ESIMS-Studie wurde die i.v. Ig-Behandlung an 318 Patienten mit sekundär progredienter MS untersucht. Die 27 Monate dauernde Behandlung bestand in der monatlichen Infusion von 10-prozentigem Immunglobulin 1 g/kg Körpergewicht oder von Humanalbumin als Placebo. Die Auswertung erfolgte wiederum anhand der EDS-Skala. Die bislang nur auf einem Kongress vorgestellten Daten zeigen keine positiven Wirkungen der Immunglobuline (3).
Diese häufig zitierte negative Bewertung bezieht sich allein auf die sekundär progrediente MS-Form. Studien belegen bislang nur für die schubförmig remittierende Form einen Nutzen der Immunglobuline.
Eine weitere Anwendung stellt der Einsatz nach der Entbindung dar, die mit einem hohen Risiko an Exazerbationen einhergeht. In zwei Studien (IgG-Studie und PRIMS-Studie) wurden Schubraten deutlich gesenkt. Daher ist eine europaweite Studie für diese Indikation in Planung (14).
Gut bewertet im Review
Ein Cochrane-Review bewertet die Daten für insgesamt 1215 Patienten, die in kontrollierten klinischen Studien mit rekombinantem Interferon subkutan oder intramuskulär behandelt wurden (15). 919 Patienten, also 76 Prozent, wurden in den jeweiligen Studien über zwei Jahre beobachtet. Der Arzneistoff konnte besonders die Rate von Exazerbationen, aber auch die Progression zwei Jahre nach Randomisierung signifikant reduzieren. Die Autoren folgern, dass Interferon Exazerbationen und Krankheitsprogression bei Patienten mit schubförmig remittierender MS nach ein- oder zweijähriger Behandlung moderat verbessern kann.
Ein längeres Follow-up und weitere miteinander vergleichbare klinische und magnetresonanz-diagnostische Zielparameter in diesen Studien hätten zu einem noch überzeugenderen Ergebnis beitragen können (15).
Pharmakoökonomisch sinnvoll
Durch neue kostenintensive Arzneistoffe konnte die MS-Therapie in den letzten Jahren verbessert werden. Nach Angaben der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V. entfallen gleichwohl lediglich 7 Prozent der Gesamtkrankheitskosten auf Arzneimittel. Insbesondere in höheren EDSS-Graden steigen die Gesamttherapiekosten fast exponentiell. Daher ist die Stabilisierung der Erkrankung auf niedrigem Behinderungsniveau nicht nur aus menschlichen und therapeutischen, sondern auch aus gesundheitsökonomischen Erwägungen sinnvoll.
Sind die First-line-Therapien kontraindiziert, ist der Einsatz von Arzneistoffen mit geringerer, aber immer noch guter Evidenz, zum Beispiel intravenöse Immunglobuline bei der schubförmig remittierenden Form, nicht nur nach den Kriterien der Evidenz-basierten-Medizin, sondern auch aus pharmakoökonomischen Gründen gerechtfertigt (3).
Einschätzung in der Praxis
Der Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V. gibt folgende Bewertung (3): „Bis zum Vorliegen neuer Studienevidenz erscheint der Einsatz oder die Fortführung von i.v. Ig zur Schubprophylaxe in der Basistherapie der schubförmigen MS dann gerechtfertigt, wenn Kontraindikationen für Interferone und Glatirameracetat vorliegen oder die bisherige i.v. Ig-Therapie zu einer gut dokumentierten Stabilisierung des Krankheitsverlaufes geführt hat.“
Professor Dr. Rudolf Janzen, Chefarzt der Neurologischen Klinik am Krankenhaus Nordwest in Frankfurt/Main, sieht in der intermittierenden Gabe von Immunglobulinen eine geeignete Therapie für viele junge Frauen mit Kinderwunsch. Die Datenlage zur Verträglichkeit und das Nebenwirkungsprofil machten eine Behandlung für einen längeren, befristeten Zeitraum möglich. Auch unter Kostengesichtspunkten sieht Janzen eine durch hinreichende Basisdaten begründete Verbreitung der Immunglobulin-Therapie in der Praxis.
Risiken sind nach seinen Angaben bei sorgfältiger Anwendung durch einen erfahrenen Arzt nicht zu befürchten. Verschiedene Immunglobulin-Präparate hält er zwar prinzipiell für vergleichbar, jedoch könnten auf Grund unterschiedlicher Herstellungsverfahren in Einzellfällen therapeutische Unterschiede bestehen. Neben der Anwendung bei jungen Frauen setzt er Immunglobuline auch unmittelbar postpartal ein.
Fazit: Einsatz in der Second-line-Therapie Die Therapie mit i.v. Ig kann für die schubförmigen Formen der MS empfohlen werden, wenn Interferone (Avonex®, Betaferon®, Rebif®) oder Glatirameracetat (Copaxone®) kontraindiziert sind. Besonders für junge Frauen mit Kinderwunsch und nach der Entbindung stellt eine intravenöse Gabe von Immunglobulinen eine wertvolle Therapieoption dar.
Literatur
Danksagung: Dr. Irene Mader, Universitätsklinikum Tübingen, Radiologische Klinik, Abteilung für Neuroradiologie, Hoppe-Seyler-Straße 3, 72076 Tübingen und Dr. Burkhard Ludescher, Universitätsklinikum Tübingen, Radiologische Klinik, Abteilung für radiologische Diagnostik, Sektion Experimentelle Radiologie, Hoppe-Seyler-Straße 3, 72076 Tübingen danken wir für die MRT-Aufnahme.
Anschriften der Verfasser:
Dr. Martin Schulz (Leiter) und Dr. Thilo Bertsche (Fachreferent für Arzneimittelinformation)
Zentrum für Arzneimittelinformation und Pharmazeutische Praxis (ZAPP) der ABDA
Jägerstraße 49/50
10117 Berlin
Professor Dr. Rudolf Janzen
Chefarzt der Neurologischen Klinik am Krankenhaus Nordwest
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