Frühe Antikoagulation empfohlen |
Christina Hohmann-Jeddi |
22.05.2020 17:42 Uhr |
Trotz Herparinprophylaxe entwickeln viele Covid-19-Patienten Mikro- und Makrothromben. / Foto: Adobe Stock/Tatiana Shepeleva
»Bei Covid-19 herrscht ein Gerinnungschaos, das wird immer deutlicher«, berichtete Professor Dr. Edelgard Lindhoff-Last vom Cardioangiologischem Centrum Bethanien in Frankfurt am Main im Webcast . In den vergangenen Wochen seien viele neue Daten dazu erschienen. So zeigte eine retrospektive Analyse von 191 stationären Covid-19-Patienten aus Wuhan, dass D-Dimere ein wichtiger Marker für die Sterblichkeit sind. Wer bei Aufnahme ins Krankenhaus einen D-Dimer-Wert über 1µg/ml hatte, wies eine 18,4-fach erhöhte Mortalität auf, berichtete die Angiologin. D-Dimere sind Fibrin-Spaltprodukt, die entstehen, wenn sich Fibrin gebildet hat und wieder aufgelöst wird, etwa beim Auflösen von Thromben.
Die Mortalität lässt sich durch eine Heparinbehandlung senken, wie ebenfalls in einer chinesischen Studie gezeigt wurde, erklärte Lindhoff-Last. In einer Analyse mit 449 schwerkranken Covid-19-Patienten erhielt nur jeder fünfte eine Heparin-Prophylaxe und damit deutlich weniger als in europäischen Ländern üblich. In dieser Gruppe war die Mortalität im Vergleich zu den Patienten ohne Prophylaxe hoch signifikant gesenkt. »Dies sind Hinweise, dass wir antikoagulieren müssen und zwar sehr früh, um die Sterblichkeit zu senken.«
Neu sei auch die Erkenntnis, dass die SARS-CoV-2-Infektion zur Mikrothrombenbildung in den kleinen blutversorgenden Gefäßen der Bronchien führt. Wie in einer aktuellen Publikation von Professor Dr. Dennis McGonagle von der Universität Leeds und Kollegen dargestellt, werden in der Lunge die Pneumozyten vom Typ II, die mit ACE-Rezeptoren ausgestattet sind, infiziert (»Lancet Rheumatology«). Dies führt zu einer Freisetzung von proinflammatorischen Botenstoffen, vor allem IL-6, und auch des Tissue-Faktors. Die setzen sich in die Kapillare, wo es zu einer »ganz massiven Mikrothrombenbildung« kommt, wie die Medizinerin berichtete. Die Alveolen wären nicht mehr oxidierbar, so Lindhoff-Last. Diese Mikrothromben sind vermutlich der Grund zum einen für den starken D-Dimer-Anstieg und zum anderen dafür, dass viele Covid-19-Patienten so schlecht zu beatmen wären und trotz einer Beatmung sterben. »Das ist eine ganz neue Pathophysiologie«, sagte Lindhoff-Last.
Neben den Mikrothromben entstünden bei Covid-19-Patienten häufig auch große Blutgerinnsel. Diese Makrothromben in der Lunge oder in den Beinvenen blieben aber häufig klinisch unauffällig. Bei einer Untersuchung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) war in Autopsien von zwölf an Covid-19 Verstorbenen aufgefallen, dass 60 Prozent eine Beinvenenthrombose aufwiesen, die asymptomatisch war. Außerdem hatten 30 Prozent eine Lungenembolie als Todesursache, obwohl es vor dem Tod keine Hinweise auf sie gab.
Eine neue Publikation von Forschern um Behnood Bikdeli von der Columbia Universität in New York fasst die Pathogenese zusammen: Demnach führen die Mikrothrombenbildung und die intravaskuläre Koagulopathie zu einem Anstieg der D-Dimere, des Fibrinogens und zu einem massiven Anstieg der Lupus-Antikoagulantien. Letztere gehören zu der Gruppe der Anti-Phospholipid-Antikörper, die gegen Komponenten der Aktivator-Komplexe der Gerinnung und Fibrinolyse gerichtet sind. »Das haben wir in diesem Ausmaß bei keinem anderen infektiösen Krankheitsbild bislang so gesehen.« Wahrscheinlich sei der Anstieg eine unspezifische Immunreaktion, die dann möglicherweise für die Thrombenbildung mit verantwortlich sei. »Gesichert ist das noch nicht, aber jeder zweite Patient auf der Intensivstation weist solche Anti-Phospholipid-Antikörper auf – was sehr ungewöhnlich ist«, sagte Lindhoff-Last. Dadurch könnten Venenthrombosen, vor allem Lungenembolien, aber auch Herzinfarkte ausgelöst werden.
Eine sogenannte Verbrauchskoagulation, bei der durch vermehrte Gerinnselbildung die Blutplättchen und Gerinnungsfaktoren »verbraucht« sind, trete bei Covid-19 im Vergleich zu anderen Infektionen sehr spät und selten auf.
Die Daten aus China wurden inzwischen auch in anderen Untersuchungen bestätigt. So zeigt eine Studie aus den Niederlanden, dass bei 184 intensivpflichtigen Patienten, die zu 100 Prozent eine Heparinprophylaxe erhielten, 49 Prozent eine venöse Thrombose entwickelten. Davon waren 87 Prozent Lungenembolien. In einer Studie aus Italien mit 388 Covid-19-Patienten erhielten 75 Prozent der Patienten auf Normalstation und 100 Prozent der Intensivpatienten eine Heparinprophylaxe. Trotzdem traten bei 7 Prozent der Patienten auf Normalstation und bei 28 Prozent der Patienten auf Intensivstation Thrombosen auf. »Erschreckend für uns sind die hohen Thromboseraten trotz Prophylaxe«, sagte Lindhoff-Last. Ganz deutlich wäre das in einer ganz aktuellen Studie aus den Niederlanden zu sehen, in der fast 60 Prozent der Intensivpatienten trotz Heparingabe und einer erhöhten Dosierung bei adipösen Patienten Thrombosen entwickelt hatten.
Aufgrund dieser Daten insgesamt hätten Fachgesellschaften inzwischen Empfehlungen ausgearbeitet: So empfehlen die Gesellschaft für Thrombose-und Hämostaseforschung (GTH) und die Deutsche Gesellschaft für Angiologie (DGA), dass bei Patienten mit gesicherter SARS-CoV-2-Infektion die Indikation zur medikamentösen Thromboseprophylaxe mit niedermolekularen Heparinen fortlaufend geprüft und großzügig gestellt werden sollte. »Dies gilt unabhängig davon, ob der Patient im Krankenhaus liegt oder ambulant geführt wird«, betonte Lindhoff-Last. Geeignet sind für den Hochrisikobereich zugelassene Dosierungen wie Dalteparin 5000 Einheiten oder Enoxaparin 40 mg täglich.
Wenn Infizierte schon Krankheitssymptome zeigen, sollte der D-Dimer-Wert bestimmt werden. Diese Empfehlung werde wohl bislang aber nicht in der Breite umgesetzt, vermutet die Medizinerin. Bei deutlich erhöhten D-Dimer-Werten (über 1,5 mg/l) sollten auch ambulant geführte Patienten eine medikamentöse Thromboseprophylaxe mit niedermolekularen Heparinen erhalten. Es werde mittlerweile auch diskutiert, obwohl die Evidenzlage noch nicht sehr gut sei, ob möglicherweise bei schweren Verläufen eine Verdopplung der Dosierung erwogen werden könnte, berichtete Lindhoff-Last. Außerdem wird angedacht, dass Patienten auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch prolongiert eine Heparinprophylaxe erhalten sollten. »Das ist aber alles noch im Fluss«, so Lindhoff-Last. Die Gerinnungsstörungen sind ihrer Ansicht nach aber ein wesentlicher Teil der Pathogenese und der hohen Sterblichkeit bei Covid-19.
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