Fragwürdige Dauerverordnungen bei Kindern |
Daniela Hüttemann |
30.08.2021 12:07 Uhr |
Experten sind sich einig: Antibiotika werden bei harmlosen Infekten immer noch zu häufig verordnet. Eine neue Analyse untermauert diesen Verdacht. / Foto: Getty Images/ozgurcankaya
Wie häufig bekommen Kinder und Jugendliche in Deutschland Medikamente dauerhaft verordnet – und welche? Das wollten Forschende des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen, der Universität Bremen sowie dem Universitätsklinikum Erlangen wissen. Dazu schauten sie sich Daten aus der Datenbank GePaRD (German Pharmacoepidemiological Research Database) an, die etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung abdeckt. Sie betrachteten Verordnungsdaten von 2,5 Millionen Kinder und Jugendlichen aus dem Jahr 2016. Die Ergebnisse erschienen im Juli im Fachjournal »Frontiers in Pharmacology«.
Das Team um die Epidemiologin Professor Dr. Ulrike Haug stellte fest, dass etwa jedes zehnte Kind wiederholt Verordnungen bekam. Dabei variierten sowohl der Anteil als auch die Arzneimittelgruppen stark zwischen Altersgruppen und Geschlechtern. In der Gruppe bis 13 Jahre bekamen Jungen deutlich häufiger Medikamente immer wieder verordnet als Mädchen (113 bis 152 versus 83 bis 130 pro 1000 Personenjahre). Bei den 13- bis 17-Jährigen drehte sich das Verhältnis und die Dauerverordnungen nahmen insgesamt zu, vor allem bei den Mädchen (236 versus 118 pro 1000 Personenjahre).
Die Forschergruppe schaute sich auch an, welche Arzneimittel am häufigsten verordnet wurden. So bekamen Jungen und Mädchen unter sechs Jahren vor allem systemische Antibiotika, antibiotische Arzneimittel zur Anwendung am Auge sowie Mittel gegen Verstopfung wiederholt verordnet. In der höchsten Altersgruppe waren es dagegen neben Antibiotika und Asthmamitteln wie Salbutamol vor allem Stimulanzien wie das ADHS-Mittel Methylphenidat, Akne-Medikamente und das Schilddrüsenhormon Levothyroxin. Bei den 13- bis 17-jährigen Mädchen waren übrigens kombinierte orale Kontrazeptiva die mit Abstand am häufigsten verordneten Arzneimittel, bei Jungen war es Methylphenidat.
Bei bestimmten Wirkstoffen zweifeln die Forschenden, ob die Dauerverordnung immer angemessen war. Auffällig war beispielsweise, dass das Breitspektrum-Antibiotikum Cefaclor genauso häufig verordnet wurde wie das zu bevorzugende Amoxicillin. Auch die sehr häufige Verordnung topischer Antibiotika zur Anwendung am Auge, insbesondere von Ofloxacin, bei den Unter-Sechsjährigen sehen die Autoren kritisch aufgrund der Resistenzentwicklung und möglicher Nebenwirkungen.
Zwar wunderte es die Wissenschaftler nicht, dass die 13- bis 17-jährigen Mädchen so häufig ein orales Kontrazeptivum bekamen. Sie kritisieren jedoch, dass so häufig nicht wie empfohlen Präparate der niedrigsten Risikoklasse für Thrombosen verordnet wurden. Das steht im Einklang mit kürzlich veröffentlichten Verordnungsdaten der AOK. Ebenfalls fragwürdig finden sie die hohen Verordnungszahlen von Levothyroxin und Macrogol. Auf diese Medikamente und ihren Gebrauch könnten sich zukünftige Studien fokussieren, um eine angemessene Verordnung zu gewährleisten und eine Überverschreibung zu vermeiden.
»Unsere Studie sollte als Ausgangspunkt betrachtet werden, auf den weitere Analysen zu spezifischen Medikamenten aufbauen können, zum Beispiel zu Diagnosen, Komorbiditäten, Kontinuität der Behandlung, Einsatz von Diagnostik und Trends bei der Verschreibung«, so das Fazit der Studienautoren, darunter auch die Apothekerinnen Professor Dr. Antje Neubert und Dr. Irmgard Toni von der Kinderklinik am UK Erlangen, deren Forschungsschwerpunkt auf Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) in der Pädiatrie liegt.