Es kommt auf die Indikation an |
Antipsychotika sind oft besser als ihr Ruf. Menschen mit Schizophrenie oder Psychosen profitieren von einer Therapie, vor allem von Depotpräparaten. / Foto: Adobe Stock/Maria
Antipsychotika (AP) werden – anders als der Name vermuten lässt – bei weitaus mehr Indikationen eingesetzt als einer Psychose. Gerade bei älteren Menschen werden sie häufig verordnet, um beispielsweise Schlafstörungen oder Unruhezustände zu behandeln. Aber auch bei Delir, Demenz, affektiven oder organisch wahnhaften Erkrankungen kommen sie zum Einsatz. Dabei werden antidopaminerge, dopaminmodulierende, antihistaminerge oder antiadrenerge Eigenschaften dieser inhomogenen Wirkstoffklasse genutzt.
Da der Einsatz von Psychopharmaka bei älteren Menschen mit Risiken assoziiert sein kann, sind sie in der Priscus- und der FORTA-Liste zu finden (Tabelle 1). Ob Risiko oder Nutzen überwiegen, hängt von Indikation und patientenindividuellen Faktoren ab. Nicht für jede Indikation stehen Alternativen zur Verfügung. Dieser Artikel beleuchtet die Indikationsgebiete Schizophrenie, organisch wahnhafte Störung, Demenz sowie Delir und zeigt, falls vorhanden, auch Alternativen auf.
Antipsychotikum | Priscus Liste: Bedenken | Priscus Liste: Therapiealternativen |
---|---|---|
Thioridazin, Fluphenazin, Levomepromazin, Perphenazin, Haloperidol (ab 2 mg Tagesdosis) | anticholinerge und extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen,erhöhtes Risiko für Parkinsonismus, Sedation, Hypotonie, Sturzneigung,erhöhte Sterblichkeit bei Patienten mit Demenz | AP der 2. und 3. Generation mit günstigerem Nutzen-Risiko-Profil.Bei Unruhe eventuell Melperon (cave: CYP2D6-Inhibitor) oder Pipamperon |
Olanzapin (ab 10 mg Tagesdosis) | anticholinerge Nebenwirkungen, weniger extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen als klassische AP | AP der 2. und 3. Generation mit günstigerem Nutzen-Risiko-Profil.Bei Unruhe eventuell Melperon (cave: CYP2D6-Inhibitor) oder Pipamperon |
Clozapin | anticholinerge Nebenwirkungen, erhöhtes Risiko für Agranulozytose und Myokarditis | AP der 2. und 3. Generation mit günstigerem Nutzen-Risiko-Profil.Bei Unruhe eventuell Melperon (cave: CYP2D6-Inhibitor) oder Pipamperon |
Beim Einsatz von Antipsychotika bei älteren und alten Menschen sind – unabhängig von der Indikation – einige Regeln zu beachten:
Insgesamt 0,1 bis 1 Prozent der Menschen über 65 Jahren leiden an einer schizophrenen Spektrumserkrankung. Lange wurde diskutiert, ob AP hier zur Übersterblichkeit beitragen könnten. Heute zeigen Studien, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Bei Behandlung der Schizophrenie mit Antipsychotika sinkt die Mortalität deutlich (1). Dies galt insbesondere für Depotpräparate, unter denen die Mortalität am geringsten war.
Bei 80 Prozent der Menschen mit unbehandelter Schizophrenie kommt es durch somatische Komorbiditäten zur Übersterblichkeit. Durch die Mortalitätssenkung infolge der antipsychotischen Medikation seit 1950 (Einführung des ersten Wirkstoffs Chlorpromazin) gibt es heute mehr ältere Patienten mit Schizophrenie als noch vor einigen Jahrzehnten. Jedoch ist die Lebenserwartung weiterhin um etwa 15 bis 20 Jahre reduziert (2).
Wissenschaftliche Untersuchungen wie die PSY-KOMO Studie versuchen, Menschen mit schizophrenen Spektrumserkrankungen eine Chancengleichheit beim Zugang zu sowie der Nutzung von unserem Gesundheitssystem und Präventionsangeboten zu ermöglichen (3). Grundlage für eine optimierte Behandlung somatischer Komobiditäten ist jedoch eine antipsychotische Behandlung.
Eine Schizophrenie manifestiert sich meist in der zweiten Lebensdekade, bei Frauen teilweise auch etwas später. Treten psychotische Symptome im höheren Lebensalter auf, kommen auch andere Erkrankungen in Betracht. Diese müssen zunächst in einer gezielten differenzialdiagnostischen Abklärung ausgeschlossen werden.
Nach einer Prodromalphase, die meist in der Adoleszenz mit depressiv anmutender Symptomatik beginnt, kommt es später zu den ersten psychotischen Symptomen. Diese sind gekennzeichnet durch Ich-Störungen (Gedankeneingebung, Gedankenlautwerden, Gedankenlesen), Halluzinationen (meist akustisch in Form von Stimmenhören) und Wahnsymptomatik (meist Verfolgungswahn). Daneben kann es auch zu Wahrnehmungsstörungen (Zönästhesien) und psychomotorischen Symptomen kommen. Diese Positivsymptome treten oft episodisch auf und werden durch einen Dopaminüberschuss im mesolimbischen Bereich des Gehirns verursacht. Daneben kommt es bei der Schizophrenie auch zu Negativsymptomen wie verminderter kognitiver Leistungsfähigkeit, Affektverflachung und sozialem Rückzug, die dauerhaft bestehen können. Diese Symptome werden durch einen mesokortikalen Dopaminmangel hervorgerufen.
Die Herausforderung in der Pharmakotherapie besteht grundsätzlich darin, den Mangel und gleichzeitig den Überschuss auszugleichen. Am besten gelingt dies mit Antipsychotika der dritten Generation wie Aripiprazol und Cariprazin, die durch einen partiellen Dopaminagonismus zu einem Neurotransmitterausgleich in beiden betroffenen Arealen, sowohl mesolimbisch als auch mesokortikal, führen. AP der ersten Generation sind reine Dopaminantagonisten. Dagegen sind Stoffe der zweiten Generation Dopaminmodulatoren, die zu einer verminderten Ausschüttung führen; bei höherer Dosierung wirken sie ebenfalls antagonistisch.
Problematisch kann eine Therapie der Schizophrenie werden, wenn Patienten älter werden, da die Sensitivität für extrapyramidal-motorische Störungen (EPS) sowie anticholinerge, metabolische und kardiovaskuläre Nebenwirkungen zunimmt. Es gibt insgesamt nur kleinere Untersuchungen an Patienten über 65 Jahren, sodass eine Empfehlung für einzelne Wirkstoffe nicht möglich ist. Die S3-Leitlinie Schizophrenie der DGPPN von 2019 empfiehlt daher keine Einzelsubstanz, sondern eine individuelle Auswahl nach Nebenwirkungs- und Risikoprofil (4). Sie enthält auch eine Tabelle der wichtigsten Nebenwirkungen.
Die Auswahl des Präparats richtet sich idealerweise nach der Nebenwirkungspräferenz des Patienten. Eine besondere Problematik stellt oft das metabolische Syndrom dar, das durch Stoffe der zweiten Generation wie Clozapin, Olanzapin und etwas geringer durch Quetiapin (retard) verstärkt wird.
Clozapin erhöht zudem bei älteren Menschen das Risiko für Agranulozytose (5). Aufgrund der anticholinergen und damit delirogenen Wirkung ist der Einsatz im höheren Lebensalter besonders ungünstig. Senioren sollten daher nur unter sehr strenger Nutzen-Risiko-Abwägung auf Clozapin neu eingestellt werden. Bei Neueinstellung empfiehlt die Priscus-Liste nicht-anticholinerge AP der zweiten und dritten Generation wie Risperidon, Amisulprid, Aripiprazol und Cariprazin (Tabelle 1). Die ebenfalls als Alternative empfohlenen niederpotenten Antipsychotika Pipamperon und Melperon sind nicht für die Behandlung der Psychose geeignet, sondern nur bei Erregungszuständen, Unruhe und Schlafstörungen indiziert.
Besonders stabil eingestellt sind Patienten mit einem Depotpräparat. Speziell für Menschen ab 60 Jahren konnte eine Reduktion der Rehospitalisierung gegenüber oraler Einnahme gezeigt werden (6). Die Kinetik des Depots verändert sich mit zunehmendem Alter (7). Therapeutisches Drug Monitoring (TDM) hilft, Überdosierungen des Depots zu vermeiden und Akkumulationen rechtzeitig zu erkennen (8).
Bei jahre- oder jahrzehntelanger Einnahme von Antipsychotika kann es zu tardiven Dyskinesien kommen. Dies sind irreversible Bewegungsstörungen mit sich wiederholenden Körperbewegungen, die oft im Gesichtsbereich auftreten. Ein regelmäßiges Screening sowie eine Befragung der Betroffenen auf Minderung der Lebensqualität sind daher regelmäßig nötig (4).
► Ältere Menschen mit Schizophrenie und Psychosen profitieren von einer antipsychotischen Medikation, die die Mortalität und Morbidität reduziert. Zu bevorzugen sind Wirkstoffe der zweiten und dritten Generation sowie Depotformulierungen.
Das Hauptmerkmal der organisch wahnhaften Störung sind Verfolgungswahn, Wahn körperlicher Veränderung, Eifersuchts- oder Krankheitswahn – immer bei ungestörtem Bewusstsein und Gedächtnis (Unterschied zum Delir). Durch Läsionen infolge neoplastischer und degenerativer Prozesse sowie Durchblutungsstörungen im Gehirn nehmen organisch wahnhafte Störungen im Alter deutlich zu.
Insgesamt zeigen psychotherapeutische Ansätze nur wenig Erfolg. Die medikamentöse Behandlung steht daher im Vordergrund. Eine Therapie erfolgt symptomorientiert mit sehr D2-affinen Antipsychotika wie Risperidon, Amisulprid, Aripiprazol und Cariprazin. Bei Erstgenerations-AP, die auch sehr D2-affin sind, besteht ein erhöhtes EPS- und damit verbundenes Sturzrisiko. Diese Substanzgruppe ist daher laut Priscus-Liste zu vermeiden.
Organisch wahnhafte Erkrankungen nehmen im Alter deutlich zu. / Foto: Adobe Stock/fresnel6
In einer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Auftrag gegebenen Analyse zeigte sich, dass die Mortalität bei Älteren ab 65 Jahren 90 Tage nach Neuverordnung eines Antipsychotikums – damit sind Patienten mit Schizophrenie und bipolarer Störung ausgenommen – erhöht ist (9). Zuclopenthixol, Levomepromazin, Chlorprothixen und Haloperidol hatten das höchste Risiko im Vergleich zu Risperidon und sollten daher vermieden werden. Die Zweitgenerationsstoffe Quetiapin (retard), Olanzapin und Clozapin zeigten ein geringeres Risiko als Risperidon. Aufgrund des anticholinergen Beiprofils von Clozapin und Olanzapin und damit der delirogenen Wirkung sind diese jedoch nicht Mittel der ersten Wahl. Für Flupenthixol, Perazin und Amisulprid wurde hingegen ein generell geringeres Mortalitätsrisiko gezeigt.
► Antipsychotika der zweiten und dritten Generation lindern Wahnsymptome bei älteren Menschen. Jedoch steigt die Mortalität beim Neuansetzen von Antipsychotika. Das Risiko ist bei den Einzelsubstanzen sehr unterschiedlich groß.
Ein Delir ist definiert als akut auftretendes und fluktuierendes Krankheitsbild mit Desorientierung (meist zur Zeit, seltener zum Ort), Aufmerksamkeitsstörung, formalen Denkstörungen, psychomotorischer Unruhe oder Apathie (hyperaktives oder hypoaktives Delir) sowie häufigen Tag-Nacht-Rhythmusstörungen, seltener Halluzinationen und Wahnerleben. Es können auch periphere Symptome auftreten (Tabelle 2). Es kommt im Verlauf oft zu vegetativen Entgleisungen, die tödlich enden können.
Bereich | Symptome |
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Zentralnervensystem | |
Bewusstsein | verminderte Aufmerksamkeit |
Kognition | Illusionen, Halluzinationen, Beeinträchtigung des abstrakten Denkens und des Kurzzeitgedächtnisses, Desorientierung |
Psychomotorik | Wechsel zwischen Hypo- und Hyperaktivität, verlängerte Reaktionszeiten, veränderter Redefluss, verstärkte Schreckreaktion, Nesteln |
Schlaf | gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus, Albträume, nachts Verschlechterung der Symptome |
Affekt | Depression, Angst, Aggression |
Peripherie | |
Haut | trockene Haut und Schleimhäute, Fieber |
Auge | Mydriasis |
Herz-Kreislauf-System | Blutdruckabfall, Tachykardie |
Niere, Darm | Harnverhalt, Obstipation bis hin zum Ileus |
Das Delir betrifft vor allem Menschen höheren Alters. Insbesondere nach chirurgischen Eingriffen (5,1 bis 52,2 Prozent je nach Schwere des Eingriffs), auf internistischen Stationen (33 Prozent der Patienten) und bei Intensivpatienten (30 bis 80 Prozent) ist es häufig. Dabei ist das Auftreten eines Delirs prognostisch sehr bedeutsam: Die Letalität steigt von 3,9 auf 22,9 Prozent.
Auch die Länge des Delirs ist entscheidend: Die Ein-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit sinkt mit jedem Delirtag um circa 10 Prozent (10).
Das Delir stellt einen medizinischen Notfall dar, der sofort behandelt werden muss. Man unterscheidet drei Phänotypen: hypoaktives (30 Prozent) und hyperaktives Delir (5 Prozent) sowie Mischformen (65 Prozent). Die Risikofaktoren sind vielfältig. Prinzipiell kann jeder Mensch ein Delir entwickeln.
Frühmobilisation: hilfreich gegen Thrombosen, Lungenentzündung und Delir / Foto: Adobe Stock/StefanieBaum
Prädisponierende Risikofaktoren sind vor allem hohes Lebensalter, Demenz und ZNS-Erkrankungen, sensorische Defizite (Hör- und Sehbehinderung), Malnutrition und Dehydratation sowie Multimorbidität. Dann können exogene Noxen wie eine fremde Umgebung, Stress, Immobilisation, Operationen oder Legen eines Katheters ein Delir auslösen. Weitere Risikofaktoren sind zum Beispiel Schlaganfälle, Infektionen, vor allem Harnwegsinfekte und Pneumonien, Schmerzen, Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts sowie delirogene Arzneimittel.
Zur Prävention sind folgende Maßnahmen nützlich: Frühmobilisation und Hilfen zur Reorientierung, optimierte Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr, Schlafverbesserung, adäquate Schmerztherapie und die Vermeidung einer Polypharmazie. Bei etwa 11 bis 30 Prozent der deliranten Senioren besteht ein arzneimittelinduziertes Delir (11).
Als Ursache des arzneimittelinduzierten Delirs sind an erster Stelle anticholinerg wirksame Substanzen zu nennen (12). Deren Menge und Serumspiegel korrelieren direkt mit der Schwere des Delirs (13). Daher sollte die anticholinerge Gesamtbelastung möglichst niedrig sein. Der anticholinerge Score oder die anticholinerge Risiko-Skala können zur Risikoabschätzung herangezogen werden (14, 15). Ein Punktwert, ab dem ein Delir auftritt, ist nicht bekannt, da dies auch dosisabhängig ist.
Die erhöhte Empfindlichkeit älterer Patienten resultiert aus altersphysiologischen Veränderungen der cholinergen Transmission, etwa einer Verminderung von Plastizität und Funktionalität muskariner Rezeptoren (16, 17, 18). Es besteht – über verschiedene Neurotransmittersysteme, die sich gegenseitig beeinflussen – ein Acetylcholinmangel und ein Dopaminüberschuss.
Neben den Anticholinergika können auch andere zentral wirksame Pharmaka eine Dysbalance in der neurogenen Verschaltung der Transmittersysteme auslösen, was einen relativen Acetylcholinmangel am Rezeptor auslöst. Benzodiazepine können die GABA-Rezeptoren stimulieren, was indirekt eine Hemmung der Aktivität cholinerger Neurone bewirkt (19). Auch weitere indirekt anticholinerge Medikamente (Opioide, Anästhetika) verursachen einen relativen Mangel von Acetylcholin an den cholinergen Rezeptoren und verschieben das Gleichgewicht zu Gunsten der monoaminergen Systeme (20).
Eine Polymedikation begünstigt die Entwicklung eines Delirs bei Senioren. Besonders riskant sind anticholinerg wirksame Arzneimittel. / Foto: Adobe Stock/Przemek Klos
Delirien können auch serotonerg getriggert werden (21) und bei einer Serotonin-Intoxikation oder infolge einer Mono- oder Kombinationstherapie mit serotonergen Antidepressiva auftreten (22). Daneben können auch Elektrolytstörungen, zum Beispiel durch Diuretika, ein Delir induzieren.
Polymedikation ist also ein wichtiger Risikofaktor: In einer Kohortenstudie entwickelten 69 Prozent der Patienten mit Polypharmazie ein Delir gegenüber 30 Prozent in der Kontrollgruppe, die weniger als sechs Medikamente einnahm (23). Präventiv ist es unabdingbar, kontinuierlich die Medikation zu überprüfen und nicht dringend benötigte Medikamente abzusetzen. Hierbei kann die Priscus-Liste besonders hilfreich sein (24).
Grundsätzlich erfolgt die medikamentöse Therapie eines Delirs zeitlich limitiert und symptomorientiert. Präparate zur Behandlung des hyperaktiven Delirs und des Alkoholentzugsdelirs sollten sedieren, ohne die vitalen Schutzreflexe zu beeinträchtigen (bei psychomotorischer Unruhe), die vegetativen Symptome, Delir und Verwirrtheitszustände behandeln, antipsychotisch und nicht prokonvulsiv wirksam sein und möglichst wenig wesentliche Nebenwirkungen auslösen. Da keine Einzelsubstanz alle Anforderungen erfüllt, sind Kombinationstherapien möglich und sinnvoll.
Der Leitsatz, der bei Delir immer gilt: keine anticholinergen Substanzen! Die S1-Leitlinie »Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir« (Stand Dezember 2020) empfiehlt explizit den Verzicht auf Promethazin und Levomepromazin, die stark anticholinerg sind. Haloperidol und Ziprasidon verkürzen ein Delir nicht (25). Man sollte daher auf Pipamperon, Melperon oder Risperidon zurückgreifen (Tabelle 3). Die antipsychotische Potenz von Melperon und Pipamperon ist schwächer als die sedative Komponente, bei Risperidon ist es umgekehrt. Daher ist Risperidon bei lebhaften Halluzinationen zu bevorzugen. Alle drei Stoffe haben keine anticholinerge Wirkung und sind daher gut geeignet (26).
Medikament | Halbwertszeit (Stunden) | tägliche Dosis |
---|---|---|
Melperon | 4 bis 6 | bis zu 3 x 25 bis 50 mg |
Pipamperon | bis 17 | 1 bis 2 x 10 bis 40 mg |
Risperidon | 4 bis 24 | 1 bis 3 x 0,25 bis 1 mg |
bei Patienten mit Morbus Parkinson und bei lebhaften Halluzinationen | ||
Quetiapin | 7 bis 12 | 1 bis 3 x 12,5 bis 75 mg unretardiert oder 1 x 50 bis 100 mg retardiert |
Clozapin | 10 bis 24 | Testdosis 6,25 bis 12,5 mg, Tagesdosis 25 bis 50 mg. Cave: Agranulozytose-Gefahr, engmaschige Blutbildkontrollen erforderlich. Starke anticholinerge Effekte, prokonvulsiv |
Bei Patienten mit Morbus Parkinson und atypischen Parkinson-Syndromen kommen Clozapin und Quetiapin (off Label) in Betracht, da diese eine geringere Affinität zum Dopaminrezeptor und somit ein deutlich geringes Risiko für extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen haben. Da eine stark anticholinerge Wirkung zu erwarten ist, sollten sehr niedrige Dosierungen eingesetzt werden, um ein Delir nicht zu verstärken.
► Alte Menschen sind besonders gefährdet, ein Delir zu entwickeln. Dies kann lebensbedrohlich sein. Oft sind anticholinerg wirksame Medikamente die Auslöser. Antipsychotika wie Melperon, Pipamperon und Risperidon werden zeitlich begrenzt zur Behandlung eingesetzt.
Bei an Demenz erkrankten Menschen werden Antipsychotika zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten, Agitation und Halluzinationen eingesetzt. Zu beachten ist, dass psychische und psychiatrische Symptome mitunter auch Teil der Bewältigungsreaktion des Patienten sind (Grafik).
Grafik: Verlauf der Symptomatik bei Demenzerkrankungen; nach Förstl 2005 / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Acetylcholinesterase-Hemmer wie Galantamin, Rivastigmin und Donepezil sind Mittel der Wahl zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten bei leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Demenz. Bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz wirkt nur Memantin mit geringer Effektstärke positiv auf die Verhaltensstörungen.
Wichtig bei der Abwägung einer antipsychotischen Therapie ist, ob der Betroffene einen Leidensdruck hat. Oft sind es die Angehörigen oder die Pflegekräfte, die um eine Verordnung bitten, da die Pflege durch die Verhaltensstörungen manchmal eine große und kaum/nicht zu bewältigende Herausforderung darstellt. Ein Beispiel: Wehrt ein Betroffener die Körperhygiene, Nahrungszufuhr oder Unterstützung beim Ankleiden vehement ab, kann die Medikation helfen, eine Pflege überhaupt wieder zu ermöglichen. Nicht medikamentöse Maßnahmen sind zwar vorzuziehen, doch nicht immer möglich. Dann entlastet das Medikament den Betroffenen und die Pflegenden und erhöht so die Lebensqualität des Betroffenen.
Verhaltensstörungen, die mitunter im Lauf einer Demenzerkrankung auftreten, können in eine Spirale der Gewalt münden. Der kranke Mensch findet daraus keinen Ausweg. / Foto: Adobe Stock/highwaystarz
Antipsychotika erhöhen das Mortalitätsrisiko bei Menschen mit Demenz. Neben kardiovaskulären Erkrankungen (Herzversagen, plötzlicher Herztod, zerebrovaskuläre Ereignisse) führen vor allem Pneumonien zum Tod. Antipsychotika sind daher möglichst kurz (vier bis sechs Wochen) und nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung und unter Einbeziehung und Aufklärung des Betroffenen sowie dessen Angehörigen einzusetzen.
In der S3-Leitilinie zur Demenz (Stand 2016) heißt es ausdrücklich (28): »Die Gabe von Antipsychotika bei Patienten mit Demenz ist wahrscheinlich mit einem erhöhten Risiko für Mortalität und für zerebrovaskuläre Ereignisse assoziiert. Es besteht wahrscheinlich ein differenzielles Risiko, wobei Haloperidol das höchste und Quetiapin das geringste Risiko hat. Das Risiko ist in den ersten Behandlungswochen am höchsten, besteht aber wahrscheinlich auch in der Langzeitbehandlung. Es besteht ferner wahrscheinlich das Risiko für beschleunigte kognitive Verschlechterung durch die Gabe von AP bei Demenz. Patienten und rechtliche Vertreter müssen über dieses Risiko aufgeklärt werden. Die Behandlung soll mit der geringstmöglichen Dosis und über einen möglichst kurzen Zeitraum erfolgen. Der Behandlungsverlauf muss engmaschig kontrolliert werden.«
Ein Cochrane-Review berichtet von einer Überlegenheit von Risperidon gegenüber Placebo in der Behandlung von Aggressivität und Agitation (Tabelle 4). Allerdings traten vermehrt zerebrovaskuläre Ereignisse, extrapyramidale Symptome und weitere Nebenwirkungen auf; die Drop-out-Raten und die Mortalität waren höher als unter Placebo (29). Für andere Wirkstoffe gebe es keine ausreichenden Daten für eine Beurteilung.
Symptom | erste Wahl | Alternative | nicht empfohlen |
---|---|---|---|
Aggression und Agitation | Risperidon | AripiprazolHaloperidol (nur bei Aggression)Citalopram (nur bei Agitation) | Valproat, Carbamazepin, Olanzapin |
Psychose | Risperidon 0,5 bis 2 mg | Aripiprazol 10 mg | alle anderen AP der zweiten Generation |
schwere psychomotorische Unruhe | Risperidon | – | – |
Schlafstörungen | – | – | Melatonin |
Verhaltensauffälligkeiten, Psychose, Agitation bei Patienten mit Parkinson oder Lewy-body-Demenz | Clozapin | Quetiapin retard | Erstgenerations-AP, viele Zweitgenerations-AP mit starker dopaminerger Affinität |
In einer weiteren Metaanalyse zeigte sich eine Wirksamkeit von Risperidon (0,5 bis 2 mg) und Aripiprazol (2,5 bis 15 mg) auf die Agitation (30), aber nicht von Olanzapin (1 bis 10 mg) und Quetiapin (25 bis 600 mg). Es kam vermehrt zu Somnolenz, Harnwegsinfektionen, Inkontinenz und zerebrovaskulären Ereignissen. Unter Risperidon und Olanzapin traten zusätzlich extrapyramidale Symptome und Verschlechterung des Gehens auf. Die kognitive Leistung verschlechterte sich unter allen Wirkstoffen. Das Mortalitätsrisiko stieg signifikant um den Faktor 1,54 (30). Das höchste Risiko zeigte sich für AP der ersten Generation wie Haloperidol. Besonders hoch scheint es in den ersten 30 Behandlungstagen zu sein (28).
Ein geringeres Mortalitätsrisiko im Vergleich zu Risperidon ergab sich in mehreren Studien für Quetiapin, sodass dieses heute immer häufiger (obwohl off Label) verordnet wird (31, 32).
► Antipsychotika werden auch gegen Aggression, Agitation und Halluzinationen bei an Demenz erkrankten Menschen eingesetzt. Dies kann die Pflege erleichtern oder erst ermöglichen. Aber die Medikamente erhöhen nachweislich das Sterberisiko der Patienten. Quetiapin scheint am günstigsten zu sein, ist aber nicht zugelassen für diese Indikation.
Es gibt keine evidenzbasierte Empfehlung zur medikamentösen Behandlung von Schlafstörungen oder der Tag-Nacht-Umkehr bei an Demenz erkrankten Menschen. Melatonin hat sich in mehreren Studien als unwirksam erwiesen (Tabelle 4).
In der klinischen Praxis werden häufig die Erstgenerations-Antipsychotika Pipamperon und Melperon eingesetzt, die in der Indikation »Schlafstörungen, insbesondere bei geriatrischen Patienten« zugelassen sind. Dafür sprechen die fehlende anticholinerge und delirogene Wirkung, gerade im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva (Trimipramin, Doxepin), anderen niederpotenten AP (Levomepromazin, Chlorprothixen, Prothipendyl) und Antihistaminika (Doxylamin, Diphenhydramin, Promethazin). Bei Melperon ist eine Inhibition von CYP2D6 zu beachten; beide Substanzen verlängern das QTc-Intervall des Herzens.
Da auch Pipamperon und Melperon die Mortalität erhöhen (9), sollte der Einsatz einer strengen Nutzen-Risiko-Abwägung unterliegen. Beide Substanzen können zu EPS führen und erhöhen so das Sturzrisiko. Zu Behandlungsbeginn sind Orthostaseprobleme möglich, ein Blutdruckmonitoring ist daher ratsam.
Zu empfehlen sind eine niedrige Startdosis und langsames Aufdosieren – auch wenn man die Tabletten dafür (unerlaubt) teilen muss. Die Gefahr einer Überdosierung ist höher zu bewerten als das Risiko einer ungleichen Wirkstoffverteilung in den Tablettenhälften.
Wie gut, wenn die Begleitung eines psychiatrisch oder an Demenz erkrankten Menschen so mitfühlend gelingt. / Foto: Adobe Stock/fizkes
Bei Demenz-assoziierten Schlafstörungen empfiehlt die FORTA-Liste (33) Mirtazapin, jedoch nur in Kategorie C (ungünstige Nutzen-Risiko-Relation für ältere Patienten) und nur bei Depression, Schlafstörung oder Appetitlosigkeit. Trazodon und retardiertes Melatonin sind in der gleichen Kategorie. In Gruppe »D« (fast immer zu vermeiden) werden Zopiclon und Doxepin eingestuft.
Bei paranoiden Symptomen und Halluzinationen im Rahmen der Demenz werden Risperidon, Melperon, Quetiapin retard und Olanzapin mit Kategorie C klassifiziert, Aripiprazol, Haloperidol, Clozapin (Ausnahme Parkinson) mit Kategorie D. Bei Unruhe und Agitiertheit werden Trazodon, Risperidon, Quetiapin, Melperon, Pipamperon, Citalopram mit »C« bewertet, Clomethiazol mit »D«.
► Es gibt keine evidenzbasierte Empfehlung zur medikamentösen Behandlung von Schlafstörungen bei an Demenz erkrankten Menschen. Im Alltag werden oft Pipamperon und Melperon eingesetzt, aber sie erhöhen Morbidität und Mortalität der Kranken.
Antipsychotika sind eine wichtige Therapieoption, auch bei älteren Menschen. Ein Medikationscheck auf Interaktionen und Kontraindikationen sowie ein Therapeutisches Drug Monitoring kann die Arzneimitteltherapiesicherheit erhöhen. Das Sterberisiko hängt von der konkreten Indikation ab: Es sinkt bei Menschen mit Schizophrenie und bei Delirpatienten durch die antipsychotische Behandlung und steigt bei Menschen mit Alzheimer-Demenz. Hier muss man die erhöhte Mortalität gegen die gewonnene Lebensqualität des einzelnen Patienten und seiner Angehörigen abwägen.
Martina Hahn ist Fachapothekerin für klinische Pharmazie und arbeitet seit vielen Jahren als klinische Pharmazeutin auf Station, wo sie gemeinsam mit Professor Sibylle Roll das Eichberger Modell© entwickelte. Seit Sommer 2020 arbeitet sie in der psychiatrischen Klinik des Uniklinikums Frankfurt und der Dr. Amelung Privatklinik in Königstein. Seit 2011 ist sie Clinical Assistant Professor an der University of Florida. Sie habilitierte sich 2020 und ist Privatdozentin an der Universität Marburg.
Sibylle C. Roll ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Zusatzbezeichnung Suchtmedizin und als Dozentin an mehreren Ausbildungsinstituten und Universitäten tätig. Sie ist Professorin für klinische Pharmazie am College of Pharmacy der Universität Florida. Professor Roll ist seit November 2020 Chefärztin am Klinikum Frankfurt-Höchst.