Es gibt noch viel zu lernen |
Jennifer Evans |
17.01.2023 07:00 Uhr |
Wer lernt von wem? Geht es nach der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sollte das Merkmal »Lebensalter« schnell im Grundgesetz landen, um Diskriminierungen verfassungsrechtlich zu verbieten. / Foto: Adobe Stock/VadimGuzhva
Die Deutschen nehmen Menschen ab einem Alter von 61 Jahren als alt wahr. Damit liegt die durchschnittliche sogenannte gesellschaftliche Altersgrenze hierzulande vergleichsweise niedrig. Wie Professor Dr. Eva-Marie Kessler berichtete, setzen die Niederländer diese beispielsweise rund 10 Jahre höher an. Kurz darauf folgten Zypern, Belgien, Portugal und Italien. Kessler ist an der Medical School Berlin tätig, wo sie eine Professur für Gerontopsychologie innehat. Zudem ist sie Studienleiterin der aktuellen Untersuchung zum Thema »Ageismus – Altersbilder und Altersdiskriminierung in Deutschland«, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegeben hatte. Ursprünglich prägte den Begriff Agesim der US-amerikanische Gerontologe Robert Neil Butler Ende der 1960-er Jahre.
Ein Grund der divergierenden Altersbilder in der Bundesrepublik ist: Es existiert kaum Faktenwissen über die ältere Bevölkerung. Kein Wunder also, dass 74 Prozent der 2000 befragten Personen ab 16 Jahre den Anteil der Deutschen, die älter als 70 sind, deutlich überschätzten. Nur 21 Prozent nannten annährend den korrekten Wert von rund 18 Prozent. Den Anteil pflegebedürftiger Menschen an der Bevölkerung haben sogar 81 Prozent der Umfrageteilnehmer zu hoch eingestuft. Tatsächlich liegt dieser nämlich bei nur etwa 6 Prozent. »Medial verwendete Begriffe wie ›Überalterung‹ oder ›Pflegelast‹ und entsprechende Visualisierungen« können zu solchen Ergebnissen beitragen und den Eindruck »einer zahlenmäßigen ›Übermacht‹« entstehen lassen, schreiben die beiden Studienautorinnen.
Ältere Menschen sind laut Dr. Regina Görner, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, sogar völlig aus der Statistik gefallen. Was machen sie eigentlich nach ihrer Erwerbstätigkeit oder in ihrer Freizeit? Immerhin bliebe ihnen ja noch rund ein Viertel ihrer Lebenszeit, die sie womöglich bereits damit verbringen würden, sich sozial oder gesellschaftlich zu engagieren, so Gröner. »Ihre Leistung für die Gesellschaft bleibt aber unerkannt«. Sie ist überzeugt davon, dass Deutschland von einer stärkeren Integration älterer Menschen nur profitieren kann. Doch dafür muss zunächst eine Lösung für ein weiteres Problem geben: »Derzeit ist niemand für die Bildung der Älteren zuständig«, kritisierte sie.
Die Studienergebnisse zeigen auch: Es existiert nicht nur das eine Altersbild. Es hängt nämlich sehr vom Alter der Befragten ab. So haben junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahre einen etwas weniger differenzierten Blick und sehen seltener die Potenziale aber auch seltener die Probleme der späten Lebensphase. Allerdings haben sie auch keine stark ausgeprägte Erwartung, was den aktiven Beitrag älterer Menschen zum Gemeinwohl angeht, insbesondere mit Blick auf den gesellschaftlichen Fortschritt. Aber: Die Jungen erwarten von den Über-60-Jährigen Selbstverantwortung in Bezug auf geistige und körperliche Aktivität. Die meisten halten die ältere Generation aber nicht für eine ökonomische Belastung. Sie schätzen deren gesellschaftliches Ansehen und Kompetenz als hoch ein und sprechen ihnen zudem viel politische Macht zu.
Im Gegensatz dazu nehmen Personen ab 65 Jahren die gesellschaftliche Altersgrenze als deutlich höher wahr, haben eine weniger kritische Sicht auf ihre gesellschaftliche Stellung und erachten sich seltener als Blockierer des Fortschritts. Ihre Ansprüche an die eigene Altersgruppe sind jedoch hoch, weil sie anderen nicht zur Last fallen wollen. Mit zunehmenden Lebensjahren sehen sie zudem häufiger die negativen Aspekte des Alterns.
Generell gilt: Die eigene Alters-Wahrnehmung kann bei allen Menschen variieren – je nachdem, ob es sich um eine Selbst- oder Fremdwahrnehmung handelt. Kessler zufolge empfindet man sich selbst in der Regel in etwa acht Jahre jünger als die Gesellschaft einen sieht. Das lässt sich ihrer Ansicht nach in zwei Richtungen interpretieren. »Die Menschen denken, dass sie selbst zu früh als alt wahrgenommen werden« oder sie möchten sich »psychologisch vom eigenen Alter abgrenzen«.
Die verschiedenen Vorstellungen vom Alter sind jedoch »der Treibstoff zur Diskriminierung«, betonte Kessler. In der Vergangenheit haben ältere Menschen viel Herabsetzung einfach hingenommen – auch, weil es bis dato keine verbindlichen gesetzlichen Ansprüche gibt, sich dagegen zu wehren. Doch bei der Generation der sogenannten Baby-Boomer, zu der hierzulande die zwischen den 1955 und 1969 Geborenen zählen, lasse sich bereits eine neue Bewegung beobachten, meinen die Expertinnen. Aufgrund der großen Anzahl Gleichaltriger seien die Vertreter dieser Generation nämlich Konkurrenz gewöhnt und würden nicht mehr alles akzeptieren, sondern für ihre Rechte kämpfen.
Pauschale Aussagen wie »ältere Menschen sind zu wenig leistungsfähig, nicht anpassungsfähig oder nicht fit genug« gelten als Ageism. Der Begriff bezeichnet ein Phänomen, bei dem es um Stereotype, Vorurteile sowie um diskriminierendes Verhalten aufgrund des Alters geht. Ageism kann sich auf andere Menschen ebenso wie auf das Selbst beziehen. In Deutschland sind Diskriminierungen aufgrund des Lebensalters bislang nur in der Arbeitswelt gesetzlich verboten. Die Ungleichbehandlung erstreckt sich aber auch auf den Zugang zu Bank- und Finanzdienstleistungen, Versicherungen oder Wohnungen sowie die Übernahme von Ehrenämtern wie etwa der Tätigkeit als Schöffenrichter oder die Arbeit bei der Notfallseelsorge. Die Gefahr dabei: Menschen können Ageism verinnerlichen und sich dadurch weniger zutrauen.
Ein aktuelles Beispiel aus der Coronavirus-Pandemie, das ebenfalls zu diesem Phänomen zählt, ist die pauschale Darstellung älterer Menschen als besonders schutz- und hilfebedürftig, manchmal war auch einfach von den »Alten und Schwachen« die Rede. Einen bevormundenden Beigeschmack hatten die Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen. Dort also, wo die älteren Menschen sich eigentlich in ihrem häuslichen und privaten Umfeld befinden.
Geht es nach der Antidiskriminierungsstelle des Bundes sollte das Merkmal »Lebensalter« schnellstmöglich im Grundgesetz landen, um etwaigen Diskriminierungen auch verfassungsrechtlich einen Riegel vorzuschieben.
Die Studienautorinnen kommen insgesamt zu dem Schluss, dass eine grundsätzliche Solidarität zwischen den Generationen herrscht und die Altersgruppen sich durchaus einander zugewandt fühlen. Trotzdem existieren auch Spannungen. Die Forscherinnen sehen dabei unter anderem die Politik in der Pflicht, diese abzubauen. Konkret regen zum Beispiel einen Austausch an, bei dem insbesondere sehr junge Erwachsene und sehr alte Menschen zusammenkommen und voneinander lernen.
Das Alter halten sie für eine kulturell vernachlässigte Lebensphase, in der viel Potenzial steckt. Älteren Menschen sollte es daher künftig möglich sein, ihrem gesellschaftlichen Beitrag stärker Ausdruck verleihen zu können. Außerdem würde es ihrer Ansicht nach helfen, Austauschräume ins Leben zu rufen, in denen Menschen in der zweiten Lebenshälfte ihre Pläne in puncto Wohnen, Gesundheit, soziales Engagement und Nachlass in Ruhe in Angriff nehmen können.