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Lebensgefährliche Nebenwirkungen

Einsatz von Cytotec in der Geburtshilfe in der Kritik

Das Prostaglandin-Derivat Misoprostol ist unter dem Namen Cytotec in Deutschland nur als Magenmedikament zugelassen. Off Label wird es ausgesprochen häufig zur Geburtseinleitung eingesetzt. Es kann jedoch lebensgefährliche Nebenwirkungen für Mutter und Kind haben.
PZ/dpa
12.02.2020  12:40 Uhr

Medienberichten zufolge verwendet laut einer bisher unveröffentlichten Umfrage der Universität Lübeck rund die Hälfte der deutschen Kliniken das Misoprostol (Cytotec®), um eine Geburt einzuleiten. Als synthetisch hergestelltes Derivat des natürlich vorkommenden Gewebehormons Prostaglandin E1 wirkt wehenfördernd, ist in Deutschland jedoch nicht zur Geburtseinleitung zugelassen. Zugelassen ist Cytotec als säurehemmendes Medikament, da Prostaglandine die Säurebildung im Magen herabsetzen. 

Es könne in Einzelfällen zu schweren Komplikationen bei Mutter und Kind führen – bis hin zum Tod von Babys, berichten die «Süddeutsche Zeitung» und der Bayerische Rundfunk. In Einzelfällen seien nach der Gabe schwere Gehirnschäden wegen einer Sauerstoffunterversorgung des Kindes aufgetreten. In seltenen Fällen sei die Gebärmutter der Frauen gerissen. Mehrere Babys in Deutschland und Frankreich seien laut Gutachten, Fallberichten und Gerichtsurteilen gestorben.

Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) bestätigte der Deutschen Presse-Agentur, dass Risiken bekannt seien, wenn das Medikament außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs verordnet werde. Die Anwendung werde aber unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weiter empfohlen. Im Rahmen ihrer Therapiefreiheit können Ärzte die sechseckige Tablette auch als Wehenauslöser einsetzen, wenn ihnen dies angemessen erscheint und eine Schwangere vorher umfassend aufgeklärt wurde und zugestimmt hat. Neben der Geburtseinleitung wird Misoprostol ebenfalls off Label zum Schwangerschaftsabbruch eingesetzt.

Behörden gegen Cytotec in der Geburtshilfe

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bevorzuge eindeutig den Einsatz von zugelassenen Arzneimitteln gemäß der jeweiligen Zulassungsbedingungen, sagte Sprecher Maik Pommer der Deutschen Presse-Agentur. Denn dafür lägen Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit vor. Bei anderen Anwendungen sei das häufig nicht der Fall. Die Behörde kann den Einsatz des Mittels in der Geburtsmedizin wegen der Therapiefreiheit der Ärzte aber nicht verbieten.

Neu sind die Zweifel an Cytotec nicht. Auf europäischer Ebene wurde unter Beteiligung des BfArM eine Aktualisierung der Fachinformationen empfohlen. Während eines Bewertungsverfahrens wurde mehrfach über einen Gebärmutterriss berichtet, der in allen Fällen bei Anwendungen außerhalb der Zulassung auftrat.

Laut «Süddeutscher Zeitung» und dem Bayerischem Rundfunk warnt die US-Arzneimittelbehörde FDA seit Jahren vor der Verwendung der Tabletten zur Einleitung der Wehen, weil es zu Todesfällen kam. Dem BfArM lagen bis Ende Oktober 2019 insgesamt 74 Verdachtsmeldungen unerwünschter Arzneimittelwirkungen in Zusammenhang mit Cytotec bei der Geburtseinleitung vor, sagte Pommer. Darunter sei ein Todesfall: Ein Neugeborenes sei vier Tage nach der Geburt durch eine Lungenblutung gestorben. Die Mutter hatte Cytotec und ein weiteres Präparat (Misodel®) zur Geburtseinleitung erhalten.

Einsatz aus rein ökonomischen Gründen?

Für Angehörige der Heilberufe ist bei solchen Todesfällen allerdings keine Meldepflicht nach den Regelungen des Arzneimittelgesetzes vorgesehen. Die Zahlen könnten also auch höher liegen als es dem BfArM bekannt ist. Nach Angaben der Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gibt es zugelassene Alternativen zu Cytotec, um eine Geburt einzuleiten.

Warum setzen dann trotzdem so viele ein dafür nicht zugelassenes Medikament ein? »Das passiert aus Kostengründen und das ist wirklich inakzeptabel und unethisch«, kritisiert Professor Dr. Peter Husslein, Leiter der Universitäts-Frauenklinik in Wien, in einem Interview mit der »SZ«. Außerdem wirke Cytotec aggressiver. Es kann stärkere Wehen auslösen als andere Mittel. Auch sogenannte Wehenstürme sind laut Husslein möglich, extrem schnell aufeinander folgende Wehen, unter denen es beim Kind zu einem Sauerstoffmangel kommen kann. »Es wirkt, ich komme unter Umständen schneller zu einer vaginalen Geburt. Aber der Preis ist zu hoch«, resümiert Husslein.

»In der Onkologie wird viel Geld in die Lebensverlängerung von ein paar Monaten gesteckt und in der Geburtshilfe ist man bereit, gefährliche Präparate zu nehmen, nur weil sie billiger sind. Das ist für mich völlig unverständlich«, betont der Professor für Geburtshilfe. In seiner Klinik in Wien werde das Mittel nicht eingesetzt.

Grüne fordern Register für Geburtsschäden

Auch Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung bei den Grünen, sprach sich gegen den Einsatz von nicht zugelassenen Mitteln in der Geburtshilfe aus. »Es darf nicht sein, dass Frauen aus ökonomischen Gründen Medikamente während der Geburt bekommen, ohne dass deren Verabreichung durch gesicherte Forschungsergebnisse, Leitlinien und eine enge Überwachung des Geburtsvorgangs gesichert ist«, heißt es in einem Statement. »Wo Geburten eingeleitet werden, nur um Zeit und Arbeitskraft zu sparen, und hierzu ohne Not Medikamente benutzt werden, deren Sicherheit nicht verbürgt ist, ist die Gesundheit von Müttern und Kindern gefährdet.« Eine Geburt brauche Zeit, diese müsse angemessen finanziert werden. 

Neben einer ausreichenden Finanzierung und guten Arbeitsbedingungen in den Kreißsälen fordern die Grünen ein verbindliches Register für Geburtsschäden, in dem Schädigungen des Kindes, die unter der Geburt entstehen, systematisch erfasst und auf ihre Ursache hin untersucht werden. »Wir müssen wissen, wie viele Kinder unter der Geburt geschädigt werden und wir müssen wissen, was dafür die Ursachen sind, damit man aus den Fehlern für die Zukunft für nachfolgende Frauen und Kinder lernen kann«, so Kappert-Gonther.

Cochrane mahnt zur Sachlichkeit

Dem Eindruck, es gebe für den Einsatz von Misoprostol in der Geburtshilfe keine Evidenz, widersprach allerdings die Deutsche Cochrane Collaboration in einer Pressemitteilung. Sie verwies darin auf einen Cochrane Review aus dem Jahr 2014, der auf Daten von fast 14.000 Frauen basiere. Er habe gezeigt, dass Misoprostol gleich wirksam sei wie gängige Alternativen bei einer geringfügig niedrigeren Kaiserschnittrate.

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