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Schadensanalyse

Ein Jahr mit dem Valsartan-Störfall

Das Jahr 2018 war in den Apotheken gekennzeichnet durch die Valsartan-Rückrufe und die daraus resultierenden Probleme. Aufgrund von Verunreinigungen in Fertigpräparaten kam es zu massiven Lieferschwierigkeiten. Welcher Arbeitsaufwand ist den Apothekern dadurch entstanden? Eine Analyse zeigt die enormen Kosten der zusätzlichen Arbeit.
Thomas Beck
Uwe Hüsgen
Julian Meuser
22.10.2019  17:00 Uhr

Angiotensin (AT)-II-Rezeptorantagonisten blockieren selektiv den AT1-Rezeptor-Subtyp und gehören zusammen mit den Hemmstoffen des Angiotensin-Converting-Enzyme (ACE) zur ersten Wahl bei der Therapie der Hypertonie und der Herzinsuffizienz (1-4). Die demografische Zunahme alter und sehr alter Patienten wird die therapeutische Bedeutung dieser Wirkstoffe künftig weiter erhöhen.

Es war ein Markstein, dass ein millionenfach angewendeter Wirkstoff (im Jahr 2018 knapp 25,9 Millionen zulasten der GKV abgegebene Packungen, Abbildung 1) Anlass gab für Rückrufe unerwarteten Ausmaßes. Das Jahr 2018 war gekennzeichnet durch die Valsartan-Affäre. Auch Arzneimittel strukturverwandter Sartane mit einem Tetrazolring wurden erfasst. Sie wiesen wie Valsartan ebenfalls Verunreinigungen durch kanzerogene Nitroso-Verbindungen auf. Es zeigte sich bis zum Jahr 2019: Zeitweise war bei sechs von zehn GKV-Verordnungen das Valsartan-Mono-Rabattarzneimittel nicht verfügbar. Das Gleiche gilt – in abgeschwächter Form – auch für viele GKV-Verordnungen von Valsartan-Kombipräparaten.

Chronologie der Ereignisse seit Sommer 2018

4. Juli 2018: Presseerklärung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zum chargenbezogenen Rückruf von Valsartan-haltigen Arzneimitteln. Ein akutes Patientenrisiko liege nicht vor, die Einnahme solle nur nach Rücksprache mit dem Arzt abgesetzt werden (5).

5. Juli: Presseerklärung der European Medicines Agency (EMA): »Only some valsartan medicines are affected in the EU and these are being recalled. […] You should not stop taking your valsartan medicine unless you have been told to do so by your doctor or pharmacist« (6).

5. Juli: Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) weist mit einer Schnellinformation des pharmazeutischen Großhandels (PHAGRO) auf bevorstehende Rückrufe Valsartan-haltiger Arzneimittel hin. Chargen und Hersteller können nicht genannt werden (7). Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) informiert mit einer Drug Safety Mail über einen vorsorglichen Rückruf aller betroffenen Chargen (8).

11. Juli: Die AMK veröffentlicht eine Liste der Rückrufe, unter anderem von Valsartan AbZ®, Valsartan Hexal®, Valsartan Heumann®, Valsartan ratio® (9).

23. bis 28 Juli sowie 30. Juli bis 3. August: Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) veröffentlicht den Inspektionsbericht zu Zhejiang Huahai Pharmaceutical Co. Ltd. auf Formblatt 483, in dem unter anderem schwere Mängel im Herstellverfahren, der Validierung analytischer Methoden und der Dokumentation festgestellt werden (10).

29. August: Robert Kruk reicht Sammelklage im Northern District of Illinois gegen Zhejiang Huahai Pharmaceutical Co. Ltd., Prinston Pharmaceutical Inc., Solco Healthcare U.S. LLC, Huahai US Inc. und Wal-Mart Stores Inc. ein. Am 22. Oktober 2018 werden die mittlerweile elf Sammelklagen in gleicher Sache beim District of New Jersey gebündelt. Die Anklage lautet auf Verstoß gegen das Gesetz von Illinois zu Geschäftspraktiken des Verbraucherbetrugs und der Verbrauchertäuschung, ferner auf Ansprüche aus der Produkthaftung, der Unterlassung von Warnungen, des Vertragsbruchs, des Bruchs der Gewähr der Verkehrsfähigkeit, der ungerechtfertigten Bereicherung, der betrügerischen Geheimhaltung, der Veruntreuung, der Fahrlässigkeit sowie der groben Fahrlässigkeit (11). Am 27. März 2019 sind dort bereits 40 Fälle anhängig (12). Am 28. Februar 2019 wird von einer Klage in Deutschland berichtet (13).

3. November: Die FDA veröffentlicht den Warning Letter an Zhejiang Huahai Pharmaceutical Co., Ltd.: [...] »summarizes significant deviations from current good manufacturing practice (CGMP) for active pharmaceutical ingredients (API)« (14).

14. Februar 2019: Die EMA veröffentlicht nach Einleitung einer Risikobewertung nach Richtlinie 2001/83/EG und einer Sitzung des Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) vom 28. bis 31. Januar 2019 den Assessment Report zu Verunreinigungen mit Nitroso-Verbindungen bei den Sartanen mit Tetrazolring, nämlich Candesartan, Irbesartan, Losartan, Olmesartan und Valsartan (15). Die EMA dämpft allzu großen Optimismus bei der Suche nach der Ursache der Nitroso-Verunreinigungen: »In general, based on the responses received during this referral procedure information on root causes in cases of contamination is still limited« (15).

Diese verhaltene Einschätzung mag auch auf die begrenzten Auskünfte der Wirkstoffhersteller an die EMA zurückzuführen sein, denn diese führt aus: »In general, only limited information has been provided by the API [Active Pharmaceutical Ingredient] manufacturers to fully assess possible contamination. A detailed description of the relevant process steps including quenching of sodium azide, work-up, phase separation and extraction procedures as well as information on waste streams would be needed to rule out possible N-nitrosamines formation. Any further possible contamination coming from raw materials should be investigated, e.g. recycled solvents or reagents, possible contamination of NDMA [N-Dimethylamine] and NDEA [N-Diethylamine] in the water or possible presence of nitrite in sodium azide« (15).

Abhilfemaßnahmen der EMA

Die EMA hat gleichwohl Abhilfemaßnahmen definiert, die künftig mögliche Nitrosamin-Verunreinigungen minimieren würden, nämlich

  • Verwendung anderer Lösungsmittel, also keine Amide wie Dimethylformamid, Dimethylamin oder N-Methylpyrrolidin; andere Basen, zum Beispiel anorganische Basen oder sterisch gehinderte und damit weniger reaktionsfähige Amine;
  • Änderungen der Syntheseschritte, beispielsweise eine frühere Einfügung des Tetrazolrings und damit eine Verringerung der gebildeten Nitrosamine während der folgenden Syntheseschritte;
  • besseres Abfangen (quenching) des Azid-Anions nach der Trennung organischer und anorganischer Phasen;
  • Ersatz von Natriumnitrit zum »quenching« des Azid-Anions;
  • Vermeidung der Wiederverwendung gebrauchter Lösungsmittel oder Kontrolle von deren Nitrosamin-Gehalt;
  • Untersuchung von Ausgangsstoffen auf Nitrosamin-Verunreinigungen.

Risikobewertung der EMA

Bei der Risikobewertung der Nitrosamin-Aufnahme durch Valsartan-haltige Arzneimittel hat die EMA auf den entscheidenden Zusammenhang zwischen Dosis und Expositionsdauer hingewiesen. Die Berechnung des zusätzlichen Krebsrisikos für den Menschen durch Nitrosamine sei stets von Karzinogenitätsstudien an Tieren abgeleitet, arbeite mit sehr niedrigen Expositionswerten, bei denen Wirkungen nicht experimentell messbar seien, und überschätze daher durch die konservative Berechnung das Krebsrisiko für die Patienten (15).

Unter der Annahme eines vollständigen Übergangs der Nitrosamin-Verunreinigung aus der Wirksubstanz in das Endprodukt würde bei einer sechs Jahre langen Einnahme von 320 mg-Valsartan-Tabletten und einem mittleren Gehalt an Nitrosodimethylamin von 24,1 µg/Tablette ein auf die Lebenszeit bezogenes zusätzliches Krebsrisiko von 21,5 Fällen pro 100.000 Patienten bestehen (ungefähr 0,02 Prozent). Bei einer vier Jahre langen Einnahme von 320 mg Valsartan-Tabletten und einem mittleren Nitrosodiethylamin-Gehalt von 3,7 µg/Tablette würde ein zusätzliches Krebsrisiko von acht Fällen pro 100.000 Patienten resultieren (0,008 Prozent).

Diese Zahlen übersteigen das allgemein akzeptierte zusätzliche Krebsrisiko von einem zusätzlichen Krebsfall pro 100.000 Patienten, das für mutagene Verunreinigungen in Pharmazeutika als Grenzwert gilt. Sie müssten jedoch im Zusammenhang mit dem Lebenszeitrisiko für Krebs in der EU gesehen werden, das in Deutschland 50,3 Prozent für Männer und 43,5 Prozent für Frauen betrage (Italien: 62 und 59 Prozent) (15, 16). Das zusätzliche Risiko infolge der Valsartan-Verunreinigungen erscheine daher gering, so die EMA.

Der Entwurf einer aktualisierten Valsartan-Monographie im Europäischen Arzneibuch (Ph. Eur.) nennt nunmehr Grenzwerte für N-Nitrosodimethylamin (< 0,300 ppm) und für N-Nitrosodiethylamin (< 0,082 ppm) (17).

► In der neuesten Ausgabe des Arzneibuchs (Ph. Eur. 10.0) wird für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2020 für NDEA oder NDMA ein Grenzwert festgelegt. Mit Inkrafttreten von Ph. Eur. 10.3 am 1. Januar 2021 müssen Hersteller die Nachweisgrenze unterschreiten (< 0,03 ppm) (18).

Abrechnungsdaten aus Offizinapotheken

Welche Auswirkungen hatte und hat immer noch die Valsartan-Affäre für die tägliche Arbeit in den Offizinapotheken – auch mit Blick auf die Patienten? Kaum jemand kann leugnen, dass der Ausfall von Hunderttausenden Packungseinheiten von Valsartan-Generika und der Ersatz durch äquivalente Sartane einen erheblichen Mehraufwand an Zeit und Organisation in den Apotheken mit sich bringt. Jedoch kann dieser nur näherungsweise quantifiziert werden, denn in den Apotheken laufen keine Stoppuhren am HV-Tisch, die den Aufwand pro Patient sekundengenau beziffern.

Die Abrechnungsdaten von Valsartan-haltigen Arzneimitteln aus öffentlichen Apotheken mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), die – qua Rechenzentren – über Insight Health erfasst werden, liefern aber, was den Umfang der »Nichterfüllungsgründe« bei der Abgabe betrifft, auswert- und interpretierbare Daten. Der Analyse liegen folgende Datensätze für den Zeitraum Januar 2018 bis Juni 2019 zugrunde:

  • Zahl der zulasten der GKV abgegebenen Packungen von Sartan-Mono- und Kombi-Arzneimitteln aller im deutschen Markt verfügbaren Sartane, nämlich Azilsartan, Candesartan, Eprosartan, Irbesartan, Losartan, Olmesartan und Telmisartan und die jeweiligen Kombinationen mit Hydrochlorothiazid und/oder Amlodipin (Abbildung 1);
  • Verordnungszahlen und die »Nichtverfügbarkeit eines Rabattarzneimittels« (NEG 2) der beiden verordnungsstärksten Sartane mit Tetrazolring, nämlich Candesartan und Valsartan, bei denen synthesebedingte Verunreinigungen mit Nitrosaminen auftraten oder vermutet werden konnten, wurden genauer analysiert (3-5);
  • ein Sartan ohne Tetrazolring, bei dem eine synthesebedingte Verunreinigung mit Nitrosaminen nicht vorliegen kann: Telmisartan;
  • die »Nichterfüllungsgründe« (NEG; Tabelle 1) wurden ebenfalls ausgewertet.
NEG Erklärung
1* Abgabe des verordneten oder eines Arzneimittels nach Maßgabe des Rahmenvertrags über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Abs. 2 SGB V
2 Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten Arzneimittels
3 Nichtverfügbarkeit eines Importarzneimittels
4 Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten und eines Importarzneimittels
5 Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels aufgrund eines dringenden Falls zur unverzüglichen Abgabe eines Arzneimittels
6 Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels aufgrund pharmazeutischer Bedenken
7 Abgabe eines vom Versicherten verlangten Arzneimittels (»Wunscharzneimittel«)
Tabelle 1: Abgabe von Fertigarzneimitteln aufgrund von Nichterfüllbarkeit (Nicht­erfüllungsgründe, NEG) * aus systematischen Gründen

In der Definition des Begriffs »Nichterfüllungsgrund« steht NEG 1 aus systematischen, jedoch nicht aus logischen Gründen für die Abgabe des verordneten Arzneimittels oder eines Mittels nach Maßgabe des Rahmenvertrags über die Arzneimittelversorgung nach § 129 Absatz 2 SGB V. Die Gründe, warum ein verordnetes oder das nach Maßgabe des Rahmenvertrags an sich abzugebende Arzneimittel nicht an den Patienten ausgehändigt wurde, zeigt die Tabelle 1 (NEG 2 bis 7).

Die Abrechnungsdaten geben dann das tatsächlich abgegebene Arzneimittel wieder. Das ursprünglich verordnete Arzneimittel ist nicht bekannt. Das bedeutet, dass zum Beispiel bei »Nichterfüllungsgrund 2 (NEG 2) Candesartan« anstelle des ursprünglich verordneten oder des nach Maßgabe des Rahmenvertrags abzugebenden Fertigarzneimittels ein anderes Candesartan-Fertigarzneimittel abgegeben wurde. Nachfolgend wird deshalb auch der Begriff »Verordnung« verwendet, obwohl »Arzneimittelabgabe« im Einzelfall zutreffend wäre.

Ergebnisse der Auswertung

Die Verordnungszahlen aller untersuchten Mono-Sartane schwanken monatlich zwischen ungefähr 1,1 und 1,6 Millionen Verordnungen (Abbildung 1). Die Talwerte finden sich am Ende eines Verordnungsquartals (zum Beispiel September und Dezember 2018), während die Spitzenwerte zu Quartalsbeginn liegen (Oktober 2018, Januar 2019) oder zusätzlich auch vor der Feriensaison (Juli 2018, Mai 2019). Sartan-Mono- und Kombi-Präparate weisen einen zeitlichen Gleichlauf der Verordnungszahlen auf, wobei Kombi-Sartane seltener verordnet werden (rund 711.000 Mal im Juni 2019; 954.000 Mal im Juni 2018).

Candesartan und Valsartan nehmen eine Spitzenposition ein. Candesartan weist von Januar 2018 bis Juni 2018 monatliche Verordnungszahlen von ungefähr 600.000 auf; diese steigen im Juli 2018 auf rund 750.000 und dann bis auf 1.172.000 im Mai 2019. Valsartan liegt von Januar 2018 bis Juni 2018 in einem Korridor zwischen 380.000 bis 447.000 und fällt dann auf Werte zwischen 354.000 (Oktober 2018) und den Tiefstwert von rund 93.000 (Mai 2019).

Alle übrigen in Abbildung 1 aufgeführten Mono-Sartane liegen in einer Bandbreite der monatlichen GKV-Verordnungen von ungefähr 44.000 bis 118.000. Sie unterscheiden sich nicht gravierend voneinander; die Verordnungszahlen sind relativ konstant.

Analyse der Nichterfüllungsgründe

Alle Nichterfüllungsgründe für Sartan-Mono-Verordnungen bewegen sich von Januar bis Juni 2018 in einem engen gemeinsamen Wertekorridor: unter 1000 für NEG 7 (»Wunscharzneimittel«)sowie im drei- bis vierstelligen Bereich für alle übrigen Nichterfüllungsgründe (Abbildung 2).

Ab Juni 2018 steigt die Zahl des NEG 2 (Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten Arzneimittels) deutlich an auf rund 135.000 im Juli 2018 und pendelt sich dann von August bis November 2018 zwischen 179.000 und 137.000 ein. Ein Höchstwert von 384.000 wird im Januar 2019 erreicht; diese Zahl fällt bis Juni 2019 auf 249.000 ab (Abbildung 2).

Die übrigen Nichterfüllungsgründe folgen ab Juli 2018 ungefähr dem früheren Verlauf bis Juni 2018. Lediglich der NEG 6 (Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels aufgrund pharmazeutischer Bedenken) erreicht im Juli 2018 mit knapp 59.000 einen Höchstwert, der dann später ungefähr zwischen 25.000 und 43.000 pendelt. Der NEG 5 (Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels aufgrund eines dringenden Falls zur unverzüglichen Abgabe eines Arzneimittels) steigt im Januar 2019 auf rund 23.000 an.

Valsartan: Betrachtet man nur die Valsartan-Mono-Verordnungen zulasten der GKV, sehen die Verlaufskurven ähnlich aus. Die »Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten Arzneimittels« (NEG 2) erreicht Spitzenwerte im August 2018 (135.000; 42,6 Prozent der Verordnungen), weitere dann im Januar 2019 (201.000; 58,4 Prozent) sowie im März 2019 (knapp über 157.000; 58,3 Prozent) (Abbildung 3). Auch bei den Belieferungen von Valsartan-Verordnungen wird ein Höchstwert (von knapp 33.000) für den NEG 6 (Nichtabgabe eines rabattbegünstigten Arzneimittels aufgrund pharmazeutischer Bedenken) im Juli 2018 erreicht. Alle anderen Nichterfüllungsgründe erreichen bestenfalls niedrige vierstellige Werte.

Kombipräparat Valsartan plus Hydrochlorothiazid: Auf niedrigerem Niveau als bei Mono-Präparaten, jedoch trotzdem erheblich tritt die »Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten Arzneimittels« auch hier auf (Abbildung 4). Im Juli 2018 wird dies bei etwa 29.000 Fällen beobachtet (14,4 Prozent der Verordnungen) und erreicht im Oktober den bisherigen Höhepunkt mit gut 41.000 Fällen (24,9 Prozent). Über ein weiteres Zwischenhoch im Januar 2019 (mehr als 38.000 Fälle, 27,1 Prozent) fällt die Zahl dann auf etwa 15.000 Verordnungen (18,5 Prozent).

Candesartan: Bei den GKV-Verordnungen fällt auf, dass die Nichtverfügbarkeit (NEG 2) bei der Kombination Candesartan plus Hydrochlorothiazid generell höher liegt als bei Candesartan-Mono-Präparaten und auch erst später deutlich ansteigt, nämlich von 2,9 Prozent im September 2018 auf 30,1 Prozent im März 2019. Nach zwischenzeitlichem Rückgang auf 20,7 Prozent (März 2019) steigt sie erneut an. Dagegen weisen die Candesartan-Mono-Verordnungen »nur« Höchstwerte von 6,7 Prozent (Januar 2019) und 8,5 Prozent (Mai 2019) auf.

Telmisartan: Die Verordnungsalternative Telmisartan, ein Sartan ohne Tetrazolring und damit ohne Risiko der Verunreinigung durch Nitrosamine, wurde offenbar nicht genutzt, denn die Verordnungszahlen liegen von Januar 2018 bis Juni 2019 ziemlich konstant in einem niedrigen fünfstelligen Bereich zwischen ungefähr 61.000 und knapp 97.000. Die Häufigkeit der »Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten Arzneimittels« (NEG 2) steigt rasch auf fast 22.000 an (Oktober 2018), beträgt noch im Februar 2019 rund 15.600 Verordnungen und sinkt erst ab März auf Werte um die 4000, um dann erneut auf rund 10.000 im Juni 2019 anzusteigen.

Addiert man die Häufigkeiten der monatlichen »Nichtverfügbarkeit eines rabattbegünstigten Arzneimittels« (NEG 2) im kritischen Zeitraum Juli 2018 bis Juni 2019 bei Verordnungen zu allen (!) in Deutschland im Markt befindlichen Sartan-Mono- und Kombi-Arzneimitteln, entstehen beachtliche Zahlen. Im Zeitraum Juli 2018 bis Juni 2019 wurden fast 2,8 Millionen Verordnungen mit NEG 2 gekennzeichnet. In rund 1,6 Millionen Fällen betraf dies Valsartan-haltige, in mehr als 700.000 Fällen Candesartan-haltige Mono und Kombi-Arzneimittel (Abbildung 5).

Fazit für die Versorgungslage

Die Valsartan-Affäre erlaubt eine klare Aussage über Ausmaß und zeitlichen Verlauf von Versorgungsstörungen mit patentfreien verschreibungspflichtigen »Massen«-Arzneimitteln. Aus den vorgelegten Daten kann unter anderem gefolgert werden.

Bei Ausfall eines Wirkstoffs für verschreibungspflichtige patentfreie Massenarzneimittel entstehen lang andauernde Störungen und Mengenverschiebungen, zum Beispiel von Valsartan zu Candesartan sowie von Kombi- zu Mono-Sartanen, bei der Versorgung der Patienten. Diese Veränderungen halten viele Monate an.

Eine Änderung des Verschreibungsverhaltens tritt offenbar nicht ein, denn sonst wäre ab Juni 2018 ein Ausweichen auf nicht mit Nitrosaminen belastete therapieäquivalente Sartane ohne Tetrazolring erkennbar gewesen. Das Beispiel Telmisartan illustriert, dass dies nicht der Fall war. Die Zahlen für ein weiteres Sartan ohne Tetrazolring, Azilsartan (hier nicht vorgestellt), gleichen den Zahlen für Telmisartan.

Die Versorgungssituation muss man als nicht vorhersehbar und unsicher bezeichnen. Dies zeigt sich nicht nur am Fall Valsartan, sondern auch an der plötzlichen Nichtverfügbarkeit von anderen therapieäquivalenten verordneten Rabattarzneimitteln, nämlich von Candesartan im April 2019 oder Telmisartan in der zweiten Jahreshälfte 2018.

Die Apotheken sind aufgrund der Größenordnung der Versorgungsstörungen bereits in die Rolle eines Versorgungsmanagers oder Mangelverwalters geraten, ohne dafür auch nur ansatzweise entlohnt zu werden. Der Umfang der Versorgungsstörung erreicht insgesamt den Millionenbereich, sodass im Fall von Valsartan über Monate hinweg mindestens jede zweite Verordnung betroffen war.

Betriebswirtschaftliche Auswirkungen

Liefer- oder Versorgungsengpässe stellen die Apotheken vor enorme und zunehmende Herausforderungen. Berichte aus der Praxis zeigen Defektlisten von fast 500 Arzneimitteln, mittlerweile auch von Standardarzneien wie Ibuprofen (19). Patienten müssen sich vielerorts auf längere Wartezeiten in der Offizin einstellen. Darauf reagieren sie zunehmend mit Unverständnis.

► Der Medikamentenmangel zieht sich nach Aussagen von Apothekern mittlerweile durch alle Kategorien und betrifft auch Ausweichmedikamente wie Candesartan, das für das ausgegangene Valsartan geordert wurde, dann aber auch nicht verfügbar war (20).

Den Patienten kann man Ursache und Umfang der Defekte kaum vermitteln. Sie gehen in aller Regel von einer Verfügbarkeit des Medikaments am nächsten Tag aus. Umstellungen vom gewohnten Medikament auf ein Ersatzpräparat stoßen bei vielen auf Unverständnis. Schwierig gestaltet sich für die Apotheken auch die Suche nach neuen Bezugsquellen für Medikamente. Der Direktbezug vom Hersteller scheidet ohnehin meist völlig aus (20).

Konkrete Zahlen zum Mehraufwand der Apotheken auf der Suche nach Alternativen sind nicht bekannt und werden auch nicht erhoben. Der Mehraufwand findet auch keinen vorsorglichen Niederschlag in den Lieferverträgen.

Modellrechnung: Was kosten die Sartan-Ausfälle?

Bereits 2008, ein Jahr nach »Scharfstellung« der ersten Rabattverträge, wurde versucht, die ökonomischen Folgen dieser Verträge für Apotheken zu analysieren (21). Im Jahr 2013 wurde dann der Mehrbedarf an pharmazeutischen Mitarbeitern aufgrund der Umsetzung der Rabattverträge bis zum Jahr 2011 berechnet (22). Bei Fortschreibung der damals berechneten Werte auf Vollkostenbasis, also über den Mehrbedarf an Mitarbeitern hinaus, und des zwischenzeitlichen Anstiegs der allgemeinen Lebenshaltungskosten sind aktuell Mehrkosten von 1,75 Euro je abgegebenem Rabattarzneimittel realistisch. Das entspricht den Kosten zu Fallgruppe 1 (Tabelle 2).

Fallgruppe Geschätzter Zeitbedarf [min]*
1: Arzneimittel ist vorrätig, normale Abgabe, kein Betäubungsmittel 3
2: Arzneimittel ist lieferfähig, muss aber bestellt werden, weil in der Apotheke nicht vorrätig, kein Betäubungsmittel 4-5
3: Arzneimittel ist nicht verfügbar, die Nichtverfügbarkeit muss durch zwei Anfragen beim pharmazeutischen Großhandel dokumentiert werden 6-8
4: Die ärztliche Verordnung ist nicht eindeutig, Rücksprache mit Arzt oder ärztlicher Praxis notwendig > 10, nach oben offen
Tabelle 2: Fallgruppen für rabattbegünstigte Arzneimittel * Kosten: 35 €/ 60 min

Da keine Daten zum Mehraufwand in der Apotheke bei Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln erhoben wurden, kann hier nur eine näherungsweise Modellrechnung helfen. In der Apothekenpraxis liegen in der Hauptsache vier Fallgruppen für rabattbegünstigte Arzneimittel vor (Tabelle 2).

Im Gegensatz zu allen anderen (echten) »Störfällen« wird die Abgabe von »Wunscharzneimitteln« (NEG 7) von den Krankenkassen – zunächst überraschend – mit 0,50 Euro (zuzüglich Umsatzsteuer) honoriert. Da die Zahl aller abgegebenen »Wunscharzneimittel« im untersuchten Zeitraum aber nur im vierstelligen Bereich lag, können diese bei den nachfolgenden wirtschaftlichen Berechnungen unberücksichtigt bleiben.

Geht man von den aufaddierten Nichterfüllungsgründen (NEG 2 bis 7) aller Sartan-Arzneimittel im Zeitraum Juli 2018 (Beginn des »Störfalls«) bis Juni 2019 aus, liegen für diese zwölf Monate zusammen ungefähr 3,8 Millionen Fälle an tatsächlichen Nichterfüllungsgründen vor. Multipliziert mit einem Einzelfallaufwand von 6 Minuten ergibt dies 380.000 Stunden. Berechnet man die Arbeitsstunde mit 35 Euro (zuzüglich Umsatzsteuer) einschließlich Arbeitgeberanteil (dies wird vom Bundesministerium für Gesundheit auch den Arztpraxen zugestanden; 23), ergibt dies eine Summe von 13,3 Millionen Euro ohne Umsatzsteuer für diese zwölf Monate. Wohlgemerkt: Dieser Betrag ist nur für die hier untersuchten Sartan-haltigen Arzneimittel von Juli 2018 bis Juni 2019 zu veranschlagen.

Die PGEU (Pharmaceutical Group of the European Union; europäischer Dachverband der Apotheker) verfolgt die Situation bezüglich Lieferengpässen in den Ländern inklusive der Auswirkungen auf die Apothekenpraxis alljährlich mit Hilfe von Umfragen. Für 2018 hatten alle 21 (Responder-)Mitgliedsländer in den letzten zwölf Monaten Verknappungen angegeben; 38 Prozent beobachteten eine Verschlimmerung des Phänomens gegenüber dem Vorjahr. Im Schnitt mussten Apotheker in Europa 5,6 Stunden pro Woche aufwenden, um die Folgen der Engpässe zu bewältigen (24).

► Bearbeitet jede deutsche Apotheke pro Woche (mindestens) 50 Fälle wegen Nichterfüllbarkeit (NEG 2 bis 6) zu je 6 Minuten Dauer, ergäbe sich bei 19.400 Apotheken ein zeitlicher Mehraufwand von 97.000 Stunden. Berechnet man die Arbeitsstunde mit 35 Euro, ergeben sich bundesweit Kosten von 3,395 Millionen Euro wöchentlich für die Mehrarbeit in Apotheken zuzüglich Umsatzsteuer. Aufs Jahr gerechnet also mehr als 176,5 Millionen Euro!

Dies ist deutlich mehr, als das Bundesgesundheitsministerium den deutschen Apotheken für neue, bisher nicht näher definierte pharmazeutische Dienstleistungen zugestehen will. Kein billiges Unterfangen, preiswert vermutlich auch nicht!

Nun gilt gerade für Honorarforderungen freier Berufe: »Wer nicht belegen kann, was er leistet, darf sich nicht wundern, wenn seine Leistung nicht adäquat honoriert wird« (25, 26). Bei der Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln ist der Leistungsaufwand der Apotheken jedoch konkret belegbar. Warum wird also beispielsweise eine Gebühr von 3,50 Euro zuzüglich Umsatzsteuer pro Sonder-PZN bei Nichtverfügbarkeit nicht einmal diskutiert?

Eines sollte klar sein: Wenn große Kapitalkonzerne die Arzneimitteldistribution in Deutschland übernehmen sollten, dann werden sie kaum bereit sein, die beschriebenen Zusatzkosten bei Nichtverfügbarkeit zu übernehmen. Diese dürften dann auf die Rabattvertragsparteien abgewälzt werden. Genügend Stoff zum Nachdenken, auch auf Seiten der GKV! 

Literatur bei den Verfassern

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