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Adoleszenz

Die Zeit der großen Änderungen

In keinem Lebensabschnitt verändern sich Körper und Psyche des Menschen in relativ kurzer Zeit so stark wie im Jugendalter. Bestimmte Erkrankungen nehmen in dieser Phase zu, andere werden seltener.
Annette Rößler
08.12.2022  07:00 Uhr

Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen bringt für Heranwachsende sowohl körperlich als auch psychosozial große Umbrüche mit sich. Die biologischen Veränderungen wie der Wachstumsschub im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren bei Jungen beziehungsweise zehn und zwölf Jahren bei Mädchen, die Reifung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale sowie die geschlechtsabhängige Umverteilung von Muskel- und Fettgewebe werden als Pubertät bezeichnet. Die mentalen und sozialen Entwicklungsschritte zwischen dem elften und 21. Lebensjahr, die mit tiefgreifenden Veränderungen im subjektiven Erleben einhergehen, nennt man Adoleszenz. Meist wird dabei zwischen der frühen (elf bis 14 Jahre), mittleren (15 bis 17 Jahre) und späten Adoleszenz (18 bis 21 Jahre) unterschieden.

Insgesamt gilt die Jugend, also das Alter ab etwa elf bis 17 Jahren, ebenso wie die Kindheit als vergleichsweise gesunder Lebensabschnitt. Bestimmte Erkrankungen sind bei Jugendlichen aber relativ gesehen häufiger als andere. Welche das sind, ist dem Kinder- und Jugendreport 2021 zu entnehmen, für den die Krankenkasse DAK eigene Versichertendaten aus dem Jahr 2020 ausgewertet und auf die Bevölkerung hochgerechnet hat.

Körperliche Erkrankungen: Erkältung und Akne

Demnach sind grippale Infekte und Atemwegserkrankungen bei Jugendlichen zwar deutlich seltener als bei Kleinkindern, bleiben aber auch bei ihnen noch die häufigsten Erkrankungen. Akne gewinnt etwa ab dem zwölften Lebensjahr zunehmend an Bedeutung und ist bei 13- bis 17-Jährigen der dritthäufigste Grund für den Arztbesuch.

Insgesamt sind Jungen bis zum mittleren Kindesalter häufiger krank als Mädchen. Dieser Zusammenhang dreht sich aber ab dem zehnten Lebensjahr bei nahezu allen Erkrankungen um. Insbesondere leiden weibliche Jugendliche deutlich häufiger als männliche an Migräne (38 je 1000 Mädchen zwischen 15 bis 17 Jahren versus 21 je 1000 Jungen) und anderen Kopfschmerzsyndromen (22 versus zwölf Fälle je 1000 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren).

Die häufigste Allergie im Kindesalter, das atopische Ekzem (Neurodermitis), ist auch im Jugendalter noch häufig, wird aber mit steigendem Alter fast linear seltener. Laut dem Report liegt der Häufigkeitsgipfel bei dieser Erkrankung mit 127 Fällen pro 1000 Kindern im Alter von einem bis vier Jahren. Bei den 15- bis 17-Jährigen sind noch 56 von 1000 an Neurodermitis erkrankt, wobei es keinen geschlechtsspezifischen Unterschied gibt.

Asthma dagegen, die nach der Neurodermitis zweithäufigste chronische Krankheit im Kindesalter, bessert sich im Jugendalter meist nicht. Zudem gibt es bei Asthma eine große Differenz zwischen den Geschlechtern: Von 1000 Jungen zwischen 15 und 17 Jahren leiden 86 an Asthma, bei den Mädchen sind es in diesem Alter 67 von 1000.

Ab dem frühen Jugendalter steigt auch die relative Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen langsam an, obwohl diese absolut betrachtet nach wie vor selten sind. Laut dem Report ist Bluthochdruck dabei die häufigste Diagnose; von ihr sind 14 von 1000 Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren betroffen, wobei Mädchen mehr als doppelt so häufig eine Hypertonie entwickeln als Jungen (20 Fälle je 1000 Mädchen versus acht Fälle je 1000 Jungen).

Die Autoren des Reports betonten, dass nahezu alle chronischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen im Jahr 2020 seltener geworden seien als im Jahr zuvor. Sie vermuten hinter diesem Trend aber keine tatsächliche Abnahme der Häufigkeiten, sondern einen Coronaeffekt: In der Pandemie seien weniger Betroffene wegen ihrer Beschwerden zum Arzt gegangen. Auf den weiteren Verlauf der Erkrankungen könne sich diese Unterversorgung potenziell negativ auswirken.

Psychische Erkrankungen: Temporär oder dauerhaft?

Negative Auswirkungen hatten die pandemiebedingten Einschränkungen auch auf die psychische Entwicklung von vielen Kindern und Jugendlichen. Das ist dramatisch, denn die Adoleszenz ist diesbezüglich »eine Phase wichtiger Weichenstellungen«, wie es auf dem Informationsportal »Neurologen und Psychiater im Netz« heißt. Bewältigen Jugendliche die psychischen Entwicklungsschritte in der Adoleszenz nicht, schaffen sie es also nicht, sich selbst als Erwachsenen und ihr Verhältnis zu anderen nach und nach (neu) zu definieren, können sich psychische Probleme krisenhaft zuspitzen und zu sogenannten Adoleszentenkrisen führen.

»Adoleszentenkrisen können sich als Störung der Sexualentwicklung, Autoritäts-, Identitätskrisen, narzisstische Krisen, aber auch als Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen äußern und sind als Überspitzung normaler Entwicklungsvorgänge zu erklären«, schrieb eine Gruppe um Professor Dr. Beate Herpertz-Dahlmann von der Uniklinik Aachen 2013 dazu in einem Übersichtsartikel im »Deutschen Ärzteblatt« (DOI: 10.3238/arztebl.2013.0432).

Adoleszenzkrisen seien nicht selten dramatisch, doch vorübergehend. In den meisten Fällen erfolge eine völlige Normalisierung. Nur selten seien Adoleszenzkrisen Vorläufer einer Persönlichkeitsstörung oder einer psychotischen Erkrankung. Trotz dieser überwiegend günstigen Perspektive besteht bei Betroffenen selbstverständlich ein kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlungsbedarf.

Geschlechtsunterschiede bei der Hirnentwicklung

Einige spezifische psychische Störungen haben ihren Beginn oder Manifestationsgipfel in der Adoleszenz. Als Beispiele nennen die Autoren Angsterkrankungen, Depressionen, Essstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und selbstverletzendes Verhalten. Dabei vorhandene geschlechtsspezifische Unterschiede, die sie auf den Nenner »traurige Mädchen, waghalsige Jungen« bringen, beruhten möglicherweise zumindest teilweise auf dem Einfluss der Sexualhormone auf die Hirnentwicklung. So nehme vor allem bei Jungen in der Pubertät das Volumen der Amygdala zu, bei Mädchen dagegen das des Hippocampus.

Der DAK-Kinder- und Jugendreport bestätigt, dass Mädchen im Alter von 15 bis 17 Jahren deutlich häufiger, nämlich dreimal so oft, depressive Episoden erleben als Jungen (60 versus 20 Fälle je 1000 Jugendliche). Depressionen seien der Hauptgrund dafür, dass sich bei den psychischen Erkrankungen wie auch bei den somatischen die geschlechtsspezifische Häufigkeitsverteilung vom Kindes- zum Jugendalter umkehre.

Bis zum Beginn des späten Jugendalters lägen die Fallzahlen psychischer Verhaltensstörungen bei Jungen im Schnitt noch um 35 Prozent höher als bei Mädchen, vor allem deshalb, weil Jungen als Kinder zwei- bis dreimal häufiger als Mädchen hyperkinetische Störungen wie ADHS zeigten. Diese Störungen bessern sich oft in der Adoleszenz. Ebenfalls deutlich öfter bei Jungen als bei Mädchen lägen zudem die häufigsten Entwicklungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen überhaupt vor, nämlich Sprech- und Sprachstörungen.

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