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Tumorschmerztherapie

Die WHO-Stufenleiter ist überholt 

Schmerz ist ein ständiger Begleiter vieler Krebspatienten. Die zunehmende Qual löst existenzielle Ängste aus. Wie Tumorschmerzen behandelt werden, warum die WHO-Stufenleiter brüchig geworden ist und was von Cannabis zu erwarten ist, erklärte Dr. Helmut Hoffmann-Menzel beim Pharmacon@home.
Brigitte M. Gensthaler
20.01.2022  16:30 Uhr

Etwa jeder fünfte Krebspatient hat schon bei der Erstdiagnose Schmerzen. »Manchmal führt die Suche nach der Schmerzursache zur Entdeckung des Tumors«, berichtete der Apotheker und Oberarzt am Zentrum für Palliativmedizin, Helios Klinikum Bonn/Rhein Sieg. Sehr oft nehmen die Schmerzen im Lauf der Erkrankung stark zu. Bis zu 95 Prozent der Patienten leiden im fortgeschrittenen Tumorstadium an Schmerzen.

Warum bereiten Tumore überhaupt Schmerzen? Sie können Nerven quetschen, Knochen infiltrieren und Frakturen auslösen, ein Hohlorgan verlegen und arterielle oder venöse Gefäße verschließen. Ebenso können sie Gewebe infiltrieren und anschwellen lassen oder durch Nekrotisierung lokale Entzündungen anheizen. Indirekt entstehen Schmerzen durch begünstigte Infektionen, zum Beispiel Herpes zoster oder Pilzinfektionen. Aber auch Spannungsschmerzen beim Lymphödem oder Wundschmerzen durch Dekubiti plagen die Patienten. »Etwa 20 Prozent der Tumorschmerzen gelten als therapiebedingt«, sagte der Arzt. Dazu gehören postoperative Neuralgien und Phantomschmerzen ebenso wie Myopathien oder Polyneuropathien.

Grundsätzlich unterscheidet man Nozizeptorschmerzen (somatisch oder viszeral) von neuropathischen Schmerzen. »Circa 90 Prozent der Schmerzdiagnosen können wir auf Basis einer guten Anamnese und körperlichen Untersuchung stellen.« Gelegentlich seien bildgebende Verfahren nötig.

Analgetika nach der Schmerzdiagnose auswählen

Über Jahrzehnte war das dreigliedrige WHO-Stufenschema der Standard in der Tumorschmerztherapie. Das hat sich 2019 mit den neuen WHO-Guidelines und der S3-Leitlinie zur Palliativmedizin geändert. In der Praxis erfolge die Auswahl und Kombination von Wirkstoffen nicht mehr nach dem Stufenschema, sondern nach der Schmerzdiagnose, sagte Hoffmann-Menzel. »Die Stufenleiter ist etwas brüchig geworden.« Nach wie vor gilt: Medikamente möglichst oral und nach der Uhr (entsprechend der Wirkdauer) einnehmen.

Auf Stufe 1 stehen Nicht-Opioide wie Paracetamol, Novaminsulfon (Metamizol), nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) und Coxibe. Deren Organtoxizität sei zum Teil höher als bei starken Opioiden, warnte der Palliativmediziner. Metamizol sei eines der wirksamsten Nicht-Opioide und gut wirksam gegen viszerale Nozizeptorschmerzen. In Verruf gekommen ist der Wirkstoff durch die sehr seltene Nebenwirkung Agranulozytose. »Wir weisen die Patienten auf Frühwarnzeichen hin, zum Beispiel weiße Beläge auf Wangenschleimhaut und Zunge, Halsentzündung oder Fieber, das unter Medikation nicht zurückgeht.«

Mittelstarke Opioide wie Tilidin und Tramadol spielten nur noch eine untergeordnete Rolle. »Diese Opioide überspringen wir sehr häufig. Heute werden niedrig dosierte starke Opioide oft in die WHO-Stufe 2 eingeordnet.«

Welche starken Opioide werden bevorzugt?

Die Tumorschmerztherapie ist eine Domäne der starken Opioide wie Morphin, Oxycodon, Hydromorphon und Levomethadon. Transdermal werden Buprenorphin und Fentanyl eingesetzt; letzteres gibt es auch in buccalen oder nasalen Applikationsformen. Alle können Übelkeit und Erbrechen, Obstipation, Sedierung, Juckreiz und Harnverhalt auslösen. Myoklonien zeigten eine beginnende Überdosierung an, mahnte der Arzt. Zu Therapiebeginn seien für sieben bis zehn Tage Antiemetika und dauerhaft eine Obstipationsprophylaxe indiziert.

Goldstandard war lange Morphin. Heute gelten Hydromorphon und Oxycodon als gleichberechtigt, während es eine Kann-Empfehlung für Fentanyl und Levomethadon gibt. Bei mangelnder Wirksamkeit, starken Nebenwirkungen oder abnehmender Nierenleistung könne man das Opioid wechseln (Opioidrotation).

Hoffmann-Menzel wies auf den hohen Stellenwert der Koanalgetika hin. Dazu gehören Antidepressiva, allen voran Amitriptylin oder Doxepin, Antikonvulsiva wie Gabapentin und Pregabalin sowie Glucocorticoide, die durch ihre abschwellende Wirkung gut bei Leberkapsel-Spannungsschmerz wirken. Bei Knochenmetastasen sollen Bisphosphonate und Denosumab den Knochenabbau stoppen und Frakturen vermeiden.

Was bringen Cannabinoide?

»Es gab einen großen Hype um diese Substanzen, aber die Realität ist eher ernüchternd«, erklärte der Schmerzexperte in der lebhaften Diskussion im Hinblick auf die Cannabinoide. »Aber wir erleben auch Patienten, die extrem profitieren von einer Cannabistherapie.« Man könne nicht vorhersagen, wer ansprechen wird und wer nicht.

Gleichwohl gebe es wenig bis keine Evidenz für Tumor- oder nozizeptive Schmerzen und wenig Evidenz beim neuropathischen Schmerz. Etwas besser sei die Lage bei spastischem Schmerz. Cannabinoide würden auch als Reservemittel bei Übelkeit, Erbrechen und Appetitmangel eingesetzt. »Es gibt keine Evidenz, dass Cannabis-Blüten oder -Extrakte besser wirken als wirkstoffdefinierte Fertigpräparate.«

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