Die Viren stehen vor der Tür |
Eines ist klar: Ständiges Masketragen, Abstandsregeln und regelmäßige Handhygiene haben Einfluss auf das Infektionsgeschehen auch anderer Erreger neben SARS-CoV-2. / Foto: Getty Images/Andriy Onufriyenko
Vergangenen Winter fiel die Grippesaison nahezu komplett aus. Die Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) spricht mit Blick auf typische Atemwegsinfekte von einem »vorher nie erreichten, niedrigen Niveau in den Wintermonaten«. In Deutschland wurden nur 564 Fälle registriert, im Jahr 2019/2020 waren es dagegen mehr als 186.000. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO war das ein weltweites Phänomen, es gab 99 Prozent weniger registrierte Erkrankungen.
Das könnte sich für den bevorstehenden Winter als problematisch erweisen: Nach Ansicht von Wissenschaftlern könnte die diesjährige Influenzawelle deutlich stärker ausfallen, da die meisten Menschen aufgrund der Schutzmaßnahmen gegen SARS-CoV-2 auch keinen Kontakt mit dem Grippevirus hatten und so keinen Immunschutz etwa durch eine durchgemachte Infektion aufbauen konnten. Das gleichzeitige Zirkulieren von Influenza- und Coronaviren könnte die Lage verschärfen und zu einem verstärkten Krankheits-geschehen führen – vor allem dann, wenn immer mehr Corona-Maßnahmen wegfallen. Ein neuer Begriff für diese Doppel-Pandemie ist übrigens bereits geschaffen: In den USA ist die Rede von der »Twindemic«.
Wirksamste Waffe sowohl gegen Influenza als auch gegen Covid-19 ist freilich die Impfung. Gegen beides sollten sich allen voran Risikogruppen impfen lassen. Mittlerweile ist die gleichzeitige Impfung möglich. Laut des Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission, Professor Dr. Thomas Mertens, gibt es keine Hinweise, dass einer der beiden Impfstoffe dann nicht mehr wirke. Ein zeitlicher Abstand der Corona-Impfung zur Grippe-Vakzinierung oder anderen Totimpfstoffen ist jetzt nicht mehr nötig. Verschiedene Unternehmen arbeiten auch an einem Kombinationsimpfstoff gegen die beiden Erreger.
Befürchtungen, dass der diesjährige Grippeimpfstoff nur einen geringeren Schutz bieten könnte, sind nicht ganz unbegründet. Schließlich ist aufgrund der weltweit ausgefallenen Grippewelle im vergangenen Jahr die Datenbasis zu den Erregertypen geringer. Insofern ist seine Wirksamkeit nur schwer abzuschätzen. Zumal die Vakzine gegen einen Virenstamm wirkt, den es vermutlich gar nicht mehr gibt, wie neuste Studienergebnisse in »Nature« (DOI: 10.21203/rs.3.rs-850533/v1) nahelegen.
Die erheblich geringere Zahl an Grippe-Ansteckungen weltweit ließ mutmaßlich verschiedene Viruslinien verschwinden. Das berichten zwei Forscherteams der Universität Hongkong und der Universität Melbourne. So zeigte sich unter anderem, dass die Yamagata-Linie von Influenza B, die auch die aktuelle Vakzine enthält, seit April 2020 womöglich ausgestorben ist. Zumindest standen von ihr für die Analyse keinerlei Sequenzdaten mehr zur Verfügung. Zwar wurden noch einzelne Fälle registriert, doch könnte es sich dabei auch um falsch-positive Testergebnisse handeln, mutmaßen die Mediziner. Auch der Subtyp H3N2 des Influenza-A-Virus ist der Analyse zufolge vielfach verschwunden. Die Pandemiebekämpfung hat offenbar so viele Ansteckungsketten unterbrochen und kleinere Ausbrüche im Keim erstickt, dass laut den Wissenschaftlern gleich drei der acht wichtigsten Varianten während der Pandemie nicht mehr auftraten.
Eine gute Nachricht ist das aber nur bedingt: Denn zukünftige Grippewellen könnten nach dem Aufheben der Infektionsschutzmaßnahmen gegen SARS-CoV-2 wesentlich schwerer verlaufen. Zum einen sinkt der Immunschutz durch vorherige Infektionen im Lauf der Zeit, und zum anderen sind die Viruslinien regional sehr ungleich verteilt. Es ist möglich, dass die nächste große Influenzawelle zumindest in manchen Teilen der Welt von zuvor seltenen Viruslinien ausgeht, die nur schlecht vom saisonalen Grippeimpfstoff abgedeckt werden.
Dass sich der fehlende Immunschutz durch ständiges Masken-Tragen, Kontaktbeschränkungen und Reiseverbote auch hinsichtlich anderer Erkrankungen rächen könnte, zeigt sich derzeit in der Altersgruppe der Kinder. Vor allem viele Kleinkinder ab zwei Jahren hatten den Sommer über mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen. Ihr Immunsystem hat sich im vergangenen Jahr nicht ausreichend entwickeln können und ist nun schlechter auf Atemwegsviren vorbereitet. Diesen Nachholeffekt kann man derzeit auch bezüglich des Respiratorischen Syncytial-Virus (RSV) bei Säuglingen beobachten. In der letztjährigen Saison zirkulierte dagegen RSV deutlich schwächer.
Bereits im Juli beobachtete die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) eine für die Jahreszeit untypische Häufung von RSV-Infektionen und meldete Anfang Oktober »eine sehr starke Belastung der stationären Behandlungskapazität von Säuglingen und Kleinkindern in fast allen Kinderkliniken und Kinderabteilungen«. Die Zahl und die Schwere der Krankheitsverläufe stelle die Kliniken vor große Herausforderungen. Um die Situation zu entschärfen, hat die Gesellschaft einen Ad-hoc-RSV-Survey angeregt. Auch in anderen Ländern stiegen bereits in den Sommermonaten die Zahlen der Krankenhausaufnahmen von Kindern. In Neuseeland verzeichnete man im Juli, im dortigen Winter, einen Rekordanstieg von RSV-Infektionen mit mehr als dreimal so viel positiven Testnachweisen wie 2019.
Die Virusinfektion ist die häufigste Ursache von akuten Atemwegserkrankungen im frühen Kindesalter und damit verbundenen Klinikeinweisungen. Fast jedes Kind macht innerhalb der ersten beiden Lebensjahre eine RSV-Infektion durch. Meist beginnt sie mit Schnupfen, Husten und Fieber. Bei etwa fünf Prozent der erkrankten Säuglinge entwickelt sich daraus eine schwere Lungenentzündung mit keuchhustenähnlichen Symptomen. Besonders häufig davon betroffen sind Frühgeborene sowie Kinder mit einer Vorerkrankung der Lunge, einem angeborenen Herzfehler oder einer Immunschwäche. Die Sterblichkeit nach einer RSV-Infektion beträgt in dieser Gruppe etwa fünf Prozent, bei Kindern ohne erhöhtes Risiko 0,2 Prozent.
Aufgrund der ungewöhnlich hohen Anzahl von RSV-Infektionen in der warmen Jahreszeit empfahl die DGPI in einer Stellungnahme Pädiatern, bei Kleinkindern mit Atemwegsinfektionen auch an RSV zu denken und eine entsprechende Diagnostik aus Rachenabstrich oder Rachenspülwasser zu veranlassen. Auch einen früheren Beginn der medikamentösen RSV-Prophylaxe mit dem monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis®) für Risikokinder – etwa Frühgeborene mit Lungenschäden oder Babys mit angeborenen schweren Herzfehlern – sei angemessen. Dieser verhindert zwar nicht, dass sich die Kinder anstecken, aber sie müssen weniger häufig stationär behandelt werden.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.