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Psyche von Heranwachsenden

Der lange Schatten des Lockdowns

Kindern und Jugendlichen haben die Ängste und die soziale Isolation während der Pandemie psychisch stark zugesetzt, das zeigen viele Studien übereinstimmend. Die Folgen davon könnten dramatisch sein – und sich womöglich über viele Jahre hinziehen.
Annette Rößler
30.08.2021  18:00 Uhr

In der Coronavirus-Pandemie hat sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten in Deutschland im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie fast verdoppelt. Das ist das zentrale Ergebnis der COPSY-Studie (Corona und Psyche), die deren Leiterin Professor Dr. Ulrike Ravens-Sieberer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Februar vorstellte. In der repräsentativen deutschlandweiten Befragung von Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 17 Jahren und deren Eltern, die zwischen Mitte Dezember 2020 und Mitte Januar 2021 stattfand, zeigte fast jeder dritte Teilnehmer psychische Auffälligkeiten; vor der Krise war weniger als ein Fünftel der Altersgruppe betroffen gewesen.

85 Prozent der Kinder und Jugendlichen gaben an, sich durch die Einschränkungen während des Lockdowns belastet zu fühlen. Insbesondere der fehlende Kontakt zu ihren Freunden, aber auch Probleme mit dem Homeschooling und häufigerer Streit in der Familie wurden als Stressfaktoren genannt. Die Lebensqualität nahm deutlich ab, gleichzeitig verschlechterte sich auch das Gesundheitsverhalten: Bei vielen Heranwachsenden stieg der Medienkonsum, sie trieben weniger Sport und aßen mehr Süßes.

Symptome einer generalisierten Angststörung zeigten 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen – auch das eine Verdopplung gegenüber 15 Prozent in der Zeit vor der Pandemie. Zudem nahmen Depressivität, Niedergeschlagenheit sowie Bauch- und Kopfschmerzen als Ausdruck psychosomatischer Beschwerden deutlich zu. Besonders betroffen waren Kinder in sozial schwierigen Verhältnissen, etwa Familien mit Migrationshintergrund, niedrigem Einkommen, beengten Wohnverhältnissen und von Eltern, die selbst mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Auf der anderen Seite erwiesen sich stabile Verhältnisse innerhalb der Familie als ein Schutzfaktor.

Ravens-Sieberer betonte zwar, man dürfe die Ergebnisse nicht überdramatisieren. Psychische Belastung und psychische Erkrankung oder Störung seien nicht ein und dasselbe. Belastungen gäben Hinweise und sollten abgeklärt werden, seien aber keine Diagnose. Dennoch seien sie sehr ernst zu nehmen.

Folgen noch nicht absehbar

Warum die Folgen der durchlebten Ausnahmesituation für die psychische Gesundheit der Kinder weitreichend sein können, erläutert eine Autorengruppe um Camila Saggioro de Figueiredo von der Universidade Federal Fluminense in Niterói, Brasilien, aktuell im Fachjournal »Progress in Neuropsychopharmacology & Biological Psychiatry«. Das gestiegene Stressniveau könne zu einer Dysfunktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) und in der Folge zu einer Neuroinflammation führen, was das Risiko für manifeste psychische Erkrankungen im späteren Leben erhöhe.

Insbesondere das Jugendalter sei eine kritische Phase der Hirnentwicklung, in der Sozialverhalten zunehmend abseits der Kernfamilie im Umgang mit Gleichaltrigen erlernt werde. Die Isolation der Jugendlichen von ihrer Peergroup in dieser Phase könne hier bleibende Veränderungen bewirken. Viele psychische Erkrankungen, etwa Schizophrenie oder Angststörungen, aber auch Suizidalität und Substanzabusus manifestierten sich im Teenageralter häufig zum ersten Mal. Besonders belastete Kinder und Jugendliche müssten daher dringend Unterstützung erhalten.

Angebote ausbauen – und frühzeitig nutzen

Diese Botschaft senden eigentlich alle Autoren entsprechender Studien und Untersuchungen aus, doch stellt sich die Frage, wie die vielen Betroffenen aufgefangen werden können. Denn die Behandlungskapazitäten sind begrenzt und das System überlastet: Schon vor der Pandemie waren 40 Prozent der Betroffenen mit psychischen Störungen nicht in Behandlung, wie eine Gruppe um Professor Dr. Eva-Lotta Brakemeier von der Universität Greifswald und Kollegen im November 2020 in der »Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie« in Erinnerung rief.

Brakemeier und Kollegen schlagen daher vor, in verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens, etwa in Gesundheitsämtern, spezielle »Corona-Sprechstunden« für psychisch belastete Menschen einzurichten. Schon ein einmaliges Beratungsgespräch hier könne unter Umständen eine Chronifizierung verhindern. Bei Bedarf sollten verstärkt evidenzbasierte Kurzzeitinterventionen zum Einsatz kommen und digitale Möglichkeiten wie Video- und Telefonsprechstunden genutzt werden.

Hilfe solle bei Bedarf so früh wie möglich in Anspruch genommen werden, betont auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) in einer Handreichung »Fakten für Familien«, in der sie neben diesem noch sieben weitere Tipps für Familien in der Pandemie zusammengestellt hat. Ebenso wichtig sei aber, dass nicht jeder junge Mensch, der wegen der Pandemie genervt und gestresst ist, behandlungsbedürftig ist. »Es ist nicht in Ordnung, von einer Generation Corona zu sprechen, die schlechter ausgebildet ist, schlechtere Chancen hat oder psychisch krank ist«, so die DGKJP.

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