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Hypotone Kreislaufstörungen

21.11.2005  13:26 Uhr

Beratung in der Apotheke

Hypotone Kreislaufstörungen

von Norbert Lagoni, München, und Matthias Mauz, Esslingen

 

Im Apothekenalltag wird der Apotheker häufig mit Fragen zu hypotonen Kreislaufregulationsstörungen konfrontiert. Die arterielle Hypotonie an sich gilt nicht als eigenständige Krankheit. Beratungs- und Handlungsbedarf besteht jedoch dann, wenn es auf Grund niedriger Blutdruckwerte zu Beschwerden wie Schwindel, Gangunsicherheit, Tinnitus oder Sehstörungen kommt.

 

Im Gegensatz zum Bluthochdruck wurde der niedrige Blutdruck bislang eher als »lebensverlängernde« Befindlichkeitsstörung eingeschätzt. Insbesondere bei der Beurteilung der Symptome im Alter ist ein Paradigmenwechsel eingetreten. Nach neueren Studien geht die Zunahme der Prävalenz für orthostatische Hypotension im höheren Alter mit einem Anstieg der Häufigkeit von Gleichgewichtsstörungen und Stürzen sowie Ohnmachts- oder Angina-pectoris-Anfällen einher. Im Kundengespräch sollte das Apothekenteam subjektive Beschwerden und typische Hypotonie-Symptome sensibel erkennen, um kompetent beraten zu können.

 

Komplexes System

 

Der arterielle Blutdruck schwankt im Tag-Nacht-Rhythmus. Zudem ist er stärkeren Einflüssen durch emotionale oder psychische Belastungen ausgesetzt.

 

Beim Gesunden pendelt sich ein normotoner Blutdruck spontan ein. Ein arterieller Normalblutdruck (RR 120-140/60-90 mm Hg) wird durch eine ausreichende Gesamtblutmenge aufrechterhalten, die vom Herzen in ein intaktes Arterien- (Druckspeicher) und Venensystem (Volumenspeicher) gepumpt wird.

 

Etwa 85 Prozent des zirkulierenden Blutes befinden sich in den Venen, die restliche Blutmenge im Arteriensystem. Die Arteriolen wirken als Abstromwiderstand, wobei die arterielle Blutdruckregulation durch herznahe Barorezeptoren in der Aortenwand und die nachgeschaltete, langsamer verlaufende Volumenregulation durch Dehnungsrezeptoren im linken Vorhof gesteuert wird.

 

Die Kreislaufregulation dient der Aufrechterhaltung des normotonen, arteriellen Blutdrucks. Dieser wird primär über die vegetative Steuerung, durch den peripheren Gefäßwiderstand und das Herzminutenvolumen (HMV) sichergestellt. Die Blutdruckeinstellung unterliegt einem komplexen Regelsystem. Akuter Einfluss, wie zum Beispiel bei orthostatischer Belastung, wird von den Pressorezeptoren an sympathische und parasympathische Kreislaufzentren im Myelencephalon (Medulla oblongata) übermittelt. Sie modifizieren nach dem Prinzip der negativen Rückkopplung den peripheren Widerstand und das Herzminutenvolumen bei Abweichung der Solldruckwerte.

 

Um den Kreislauf stabil zu halten, ist eine kurzfristige Gegenregulation durch Vasokonstriktion im arteriolären Bereich und ein Anstieg der Herzfrequenz erforderlich. Diese Reaktion erfolgt physiologisch unmittelbar unter Freisetzung von Noradrenalin, vermehrter Renin-Sekretion und sekundärer Aldosteron-Ausschüttung. Die Anpassung der Organdurchblutung an wechselnde Funktionszustände und die Pumpleistung des Herzmuskels hinsichtlich Kontraktilität, Schlagfrequenz und Herzminutenvolumen stehen im Wechselspiel (1).

 

Minderung der Lebensqualität

 

Definitionsgemäß liegt eine arterielle Hypotonie bei einem systolischen Blutdruck beim Mann < 110 mm Hg (14,6 kPa), bei der Frau < 100 mm Hg (13,3 kPa) und einem diastolischen Blutdruck bei Mann und Frau < 60 mm Hg (8,0 kPa) vor (2). Hypotone Regulationsstörungen sind nicht altersabhängig. Eine angeborene Neigung zu niedrigem Blutdruck wird diskutiert. Niedriger Blutdruck ist bei Kindern und Jugendlichen im adoleszenten Stadium die am häufigsten zu beobachtende Kreislaufstörung (3,4). Blutdruckschwankungen kommen bei Patienten mit Asthenie, Personen mit schlankem, leptosomen Körperbau und insbesondere bei Jugendlichen in der Pubertät sowie bei krankhaften Essstörungen wie Anorexie und Bulimie beziehungsweise bei Unterernährung und übermäßigem Nikotinkonsum häufig vor. Der Blutdruck ist dann sowohl anfallsartig als auch dauerhaft und oft bereits in Ruhelage grenzwertig erniedrigt.

 

Die orthostatische Dysregulation kann beim Betroffenen erhebliche Beschwerden und eine Minderung der Lebensqualität verursachen. Die sekundäre Hypotonie tritt unter anderem nach Operationen, langem Krankenlager oder als Folge von (Grund-)Erkrankungen wie Polyneuropathie zum Beispiel bei Diabetes mellitus, Morbus Parkinson, Multipler Sklerose oder cerebralen Insulten auf (Tabelle 1). Übermäßiger, anhaltender Alkohol-, Nikotin- und/oder Rauschmittelkonsum zum Beispiel von Cannabis kann zu Kreislaufregulationsstörungen führen.

Tabelle 1: Ursachen sekundärer Hypotonie

Schock, Hypovolämie
endokrine Entgleisungen
kardiovaskuläre Beschwerden
Infektionen, Rekonvaleszenz
neurogene Störungen
Intoxikationen
postoperative Störungen
Alkohol-, Nikotin- und Rauschmittel-
konsum

Orthostasesyndrom

 

Eine sekundäre Hypotonie kann auch unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) zahlreicher Medikamente sein. So können zum Beispiel Betablocker, Nitrate, Diuretika, Psychopharmaka wie MAO-Hemmer, Sedativa, Antihistaminika und Zytostatika wie Vincristin als Nebenwirkung hypotone Kreislaufstörungen induzieren (Tabelle 2).

Tabelle 2: Medikamente als Auslöser einer Hypotonie

Sedativa/Hypnotika
Tranquilizer/Anxiolytika
Neuroleptika
trizyklische Antidepressiva
Psychopharmaka
Antihypertensiva
Nitrate
Insuline
Zytostatika
Betablocker
Diuretika
Antihistaminika

Die orthostatische Hypotonie ist eine unzureichende Anpassung des kardiovaskulären Systems an wechselnde Körperhaltungen. Das Orthostasesyndrom macht sich als Kreislaufregulationsstörung mit Blutdruckabfall beim Übergang vom Liegen zum Stehen bemerkbar, da das Blutvolumen in den Beinen nicht ausreichend gegenreguliert wird.  Beim Hypotoniker treten, bedingt durch das »Versacken« relevanter venöser Blutmengen in erweiterte Gefäßgebiete der Beine, nach raschem Lagewechsel funktionelle Kreislaufregulationsstörungen auf (5). Das resultiert aus dem Missverhältnis zwischen dem Kapazitätsvermögen des venösen Gefäßsystems und der kardialen Pumpleistung, da sich physiologisch etwa 85 Prozent der Blutmenge im venösen System befinden. Es kann zum orthostatischen Kreislaufversagen kommen. Gefäßerkrankungen an den Extremitäten wie Krampfaderleiden (chronisch-venöse Insuffizienz) können den venösen Rückfluss beeinträchtigen. Die Art der orthostatischen Störung lässt sich anhand der Herzfrequenz, der Blutdruckamplitude und der konkreten RR-Werte differenzieren. Je nach Ursache werden drei Formen orthostatischer Hypotonie unterschieden (Tabelle 3).

Tabelle 3: Formen orthostatischer Hypotonie

sympathikotone Form
Herzfrequenz steigt, Blutdruckamplitude verkleinert, RRdiast steigt
hyposympathikotone Form
Herzfrequenz unverändert, Blutdruckamplitude verkleinert, RRdiast steigt, RRsyst sinkt
asympathikotone Form
Herzfrequenz nicht/gering verändert, RRsyst + diast sinkt

Kann die orthostatisch bedingte Blutvolumenverschiebung in die untere Körperhälfte trotz regulärer Funktion der endokrinen Reaktionskette nicht wirksam abgefangen werden, liegt die sympathikotone (hyperdiastolische) Form vor. Sie ist gekennzeichnet durch ein unzureichendes Ansprechen venöser Kapazitätsgefäße auf die Ausschüttung körpereigener Catecholamine nach Lagewechsel. Bei Zunahme der Herz- und Pulsfrequenz sowie Verkleinerung der Blutdruckamplitude fallen Blutdruck und Herzzeitvolumen ab. Die sympathikotone Fehlregulation wird vor allem bei jüngeren, untrainierten Personen und Patienten in der Rekonvaleszenz beobachtet, was unter anderem auf einen latenten zentralen Volumenmangel zurückgeführt wird. Trotz Catecholamin-Ausschüttung ist bei der hyposympathikotonen Form die Herzfrequenz gleich bleibend, die Blutdruckamplitude ist durch Abnahme des systolischen Blutdrucks verkleinert. Die Pulsfrequenz ist hingegen unauffällig.

 

Ist die rechtzeitige Ausschüttung von Noradrenalin in höheren Lebensjahren zum Beispiel bei Einnahme von Medikamenten oder chronischen Erkrankungen gestört, kann es zur asympathikotonen (hypodiastolischen) Orthostase kommen. Unter Orthostasebedingungen ist die asympathikotone Kreislaufregulationsstörung durch eine geringe Veränderung der Herzfrequenz sowie Abnahme sowohl des diastolischen als auch des systolischen Blutdrucks gekennzeichnet.

 

Die bei Stehbelastung notwendige Vasokonstriktion venöser Kapazitätsgefäße sowie die Steigerung von Schlagvolumen und Herzfrequenz bleiben aus. Die Pulsfrequenz bleibt unverändert oder fällt im Einzelfall leicht ab. Nach US-amerikanischer Konsensusdefinition liegt klinisch eine orthostatische Hypotonie dann vor, wenn der systolische Blutdruckabfall bei stehender Haltung innerhalb von drei Minuten mindestens 20 mm Hg und der diastolische mindestens 10 mm Hg beträgt (6).

 

Vielfältige Symptome

 

Funktionelle, hypotone Kreislaufstörungen können eine Vielzahl von Symptomen bedingen, die weder spezifisch noch altersabhängig auftreten (7). Sie äußern sich als körperliche und geistige Erschöpfung, verminderte Leistungsfähigkeit, Antriebs- und Konzentrationsschwäche (»Leere im Kopf«), Müdigkeit oder Schlafstörungen, Schwindel, atypischer Kopfschmerz und nicht selten als Wetterfühligkeit bei Schwüle und Föhn (Tabelle 4).

Tabelle 4: Typische Symptome der Hypotonie

morgendliche Antriebsschwäche, rasche Ermüdung
Gedächtnis- und Konzentrationsschwäche
Schwindelgefühl, Benommenheit mit »Schwarzwerden« und »Flimmern vor den Augen«
Gangunsicherheit, Neigung zur Ohnmacht
Kopfschmerzen (Übelkeit)
Ohrensausen, Hörstörungen
Schweißausbrüche, Gesichtsblässe
Wetterfühligkeit insbesondere bei Föhn
Herzklopfen, Pulsjagen mit »Beklemmungsgefühl in der Herzgegend«
Kältegefühl in Händen und/oder Füßen
(Ein-)Schlafstörungen

Die Beschwerden sind unterschiedlich stark ausgeprägt und weisen nicht immer  eindeutig auf eine niedrige Blutdrucklage hin, sie können unter psychischer Belastung und Stresseinwirkung verstärkt werden. Gleichgewichtsstörungen beziehungsweise kurzzeitiger Bewusstseinsverlust infolge einer zerebralen Minderdurchblutung treten als orthostatische Dysregulation auf. Plötzlicher Kräfteverlust und kurzzeitige Bewusstlosigkeit erhöhen insbesondere bei älteren Personen die Verletzungshäufigkeit und das Sturz- und Frakturrisiko (8). Eine Minderdurchblutung des Innenohrs kann zur Höreinschränkung führen.

 

Epidemiologische Studien

 

Neuere epidemiologische Studien zeigen, dass die orthostatische Hypotonie nachhaltige Auswirkungen sowohl auf die Mortalitätsrate älterer Menschen als auch auf die Prävalenz der koronaren Herzkrankheit (KHK) und des Schlaganfalls hat. Eine finnische Studie mit  561 Hochbetagten (83 Prozent > 85 Jahre) zeigte, dass die Mortalitätsrate in der Patientengruppe mit den niedrigsten Blutdruckwerten (RRsyst < 120 mm Hg - RRdiast < 70 mm Hg) am höchsten, bei Blutdruckwerten von RRsyst 160 mm Hg und höher beziehungsweise RRdiast 90 mm Hg und höher am geringsten war (9). Danach mindert ein moderat erhöhter Blutdruck im Senium das Mortalitätsrisiko im Gegensatz zur hypotonen Kreislauflage.

 

Studien zeigen, dass bei 6,6 Prozent der untersuchten Patienten in der Altersgruppe 25 bis 74 Jahre nach Wechsel vom Liegen ins aufrechte Sitzen ein Abfall des systolischen Blutdrucks um 20 mm Hg stattfindet (10). Die Prävalenz einer orthostatischen Hypotension beträgt bei über 65 Jahre alten Personen annähernd 20 Prozent, bei über 75-Jährigen über 30 Prozent.

 

Die von 1976 bis 1980 durchgeführte US-amerikanische »Nationale Gesundheits- und Ernährungsstudie« hat gezeigt, dass mit steigendem Alter die Prävalenz für die orthostatische Hypotension deutlich zunimmt. Über damit einhergehende Stürze, Gleichgewichtsstörungen, Herzrhythmusstörungen, Ohnmachts- und Angina-pectoris-Anfälle, Wadenkrämpfe sowie Kopf- und Rückenschmerzen wird berichtet (11).

 

Eine Langzeitstudie von Ooi et al. mit 44 Patienten zeigte, dass die orthostatische Hypotonie für ältere Menschen, die aufgrund von Stürzen hospitalisiert worden waren, ein eigenständiger Risikofaktor für die Wiederholung von Stürzen ist (12).

 

Die Ergebnisse der epidemiologischen, prospektiven Honolulu-Herzstudie (Honolulu-heart-program; USA, 1998) mit 3.741 männlichen Probanden im Alter von 71 bis 83 Jahre verdeutlichen, dass die Sterblichkeit bei Senioren mit nachgewiesener orthostatischer Hypotonie um den Faktor 1,8 höher ist als bei Personen ohne orthostatische Hypotonie (13). Kreislaufregulationsstörungen nahmen mit dem Alter der Kohorte zu. 

 

Die Ergebnisse der US-amerikanischen Atherosclerosis Risk in Communities (ARIC)-Studie aus dem Jahr 2000 mit insgesamt 12.433 US-Bürgern im Alter von 17 bis 90 Jahren belegt, dass die orthostatische Hypotension bereits im mittleren Lebensalter (40 bis 60 Jahre) ein signifikanter Risikofaktor für das Auftreten sowohl einer KHK als auch eines Schlaganfalls ist (14, 15). Orthostatische Hypotonie kann für KHK oder Schlaganfall eine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos bedeuten. Bei jüngeren oder chronisch kranken Patienten und Diabetikern war das Erkrankungsrisiko deutlich stärker ausgeprägt. Den US-amerikanischen Studien vergleichbare deutsche epidemiologische Langzeitstudien und Daten liegen nicht vor, obwohl die Gerontologie aus ihnen neue Erkenntnisse nicht zuletzt zur Prävention gewinnen könnte.

 

Blutdruckmessung in der Apotheke

 

Ob herznah oder -fern: der physiologische Blutdruck ist in den einzelnen Körperabschnitten unterschiedlich. Generell sind Blutdruckwerte alters-, konstitutions- und situationsabhängig.

 

Die indirekte Messung des Blutdrucks erfolgt systolisch/diastolisch üblicherweise mittels Riva-Rocci-Apparatur (Riva-Rocci, S.; italienischer Internist, 1863-1937, Mailand). Vor jeder Messung ist nach der gegenwärtigen Einnahme von Medikamenten zu fragen. Die Messung sollte aus Gründen der Vergleichbarkeit an der sitzenden Person und am linken Oberarm in Herzhöhe (»Napoleon-Haltung«) erfolgen. Die Gummimanschette wird dazu rasch aufgepumpt, bis der Druck etwa 30 mm Hg über dem systolischen Druck liegt. Das Stethoskop wird leicht in der Armbeuge über der Arteria radialis aufgesetzt und der Manschettendruck langsam abgelassen bis die puls-synchronen Arteriengeräusche (Korotkoff-Geräusche) wahrnehmbar werden.

 

Der systolische Blutdruck (Kontraktionsphase) entspricht dem auf dem Manometer angezeigten Wert. Nach weiterem Ablassen des Manschettendrucks werden die Töne leiser und verschwinden vollständig, dieser Druck entspricht dem diastolischen Druck sowohl für die Oberarm- als auch für die Handgelenksmessung (Erschlaffungsphase). Die Messdaten (RR und Puls) werden unverzüglich, möglichst im persönlichen Messblatt oder Tagebuch, protokolliert. Für die häusliche Blutdruckselbstmessung bietet der Handel sowohl für die Oberarm- als auch Handgelenksmessung eine Vielzahl elektronischer, vollautomatischer und leicht handhabbarer Messgeräte an. Jedoch sollte der Betroffene in die korrekte Messung und Handhabung des Gerätes eingewiesen werden. Insbesondere ältere oder unsichere Menschen sind dafür dankbar. Bei auffällig schwankenden Blutdruckwerten oder bekannter Kreislauflabilität sollte eine ärztliche Konsultation angeraten werden, um differenzial-diagnostisch mögliche Ursachen abzuklären.

 

Der Schellong-Stehtest (Schellong, F.; deutscher Internist, 1891-1953; Heidelberg/Münster) dient der Kreislauffunktionsprüfung durch Messen von Puls und Blutdruck im Liegen und Stehen. Durch wiederholte Messung von Pulsfrequenz und  Blutdruck in Horizontallage bei Körperruhe und nach Lagewechsel (sitzend, stehend) beziehungsweise nach orthostatischer Belastung (2 x 15 Kniebeugen innerhalb von zwei Minuten oder Treppensteigen 2 x 25 Stufen auf/ab), lässt sich der Verdacht auf eine hypotone Regulationsstörung validieren (16).

 

Der Kipptisch-Test ist ein passiver Orthostasetest, der objektive Messwerte liefert. Nach Fixierung der Person auf die Liegefläche werden Puls-/Blutdruckwerte wiederholt zunächst in horizontaler Lage bei Körperruhe, sodann nach fast senkrechter Aufrichtung des Kipptisches erfasst. Nicht-Hypotoniker zeigen im Kipptisch-Test eine deutlich schnellere Normalisierung der Blutdruckwerte.

 

Nicht medikamentöse Maßnahmen

 

Die Empfehlung der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft bei hypotoner Kreislauflage lautet, zunächst in Abhängigkeit von gegebenen Erkrankungen, Alter und körperlicher Fitness zu nicht medikamentösen Maßnahmen zur Steigerung und Stabilisierung des Blutdrucks zu greifen (Tabelle 5).

Tabelle 5: Allgemeine Maßnahmen bei Hypotonie

Blutdruckkontrolle (regelmäßig)
Gewichtskontrolle (BMI)
körperliches Training (Ausdauersport)
vollwertige, vitaminreiche Ernährung
keine Kochsalzkarenz
Trinkmengen-Kontrolle
koffeinhaltige Getränke
Alkoholkarenz, Nikotinabstinenz
Meidung hoher (Außen-)Temperaturen
Stützstrümpfe, Beinverbände

Als Reiztherapie zur Tonisierung und Verbesserung der vaskulären Regulationsfähigkeit haben sich seit Kneipp unterschiedliche hydrotherapeutische Maßnahmen wie Wassertreten, kalte Armbäder, Wechselbäder und -duschen, Dampfbäder, Sauna sowie nasse und trockene Bürstenmassagen bewährt. Als hilfreich haben sich die Hochlagerung der Beine sowie häufige Wadenmuskelgymnastik erwiesen.

 

Chemisch definierte Antihypotonika

 

Bei allen Hypotonieformen muss bei Gabe chemisch definierter Antihypotonika genau geklärt werden, wann welches Sympathomimetikum therapeutisch sinnvoll ist. Der Einsatz adrenerger und dopaminerger Wirkstoffe wie Etilefrin, Midodrin und Oxilofrin (enthalten zum Beispiel in Carnigen forte®, Effortil®, Gutron® et cetera) ist therapeutisch dann sinnvoll, wenn die systolischen und diastolischen Blutdruckwerte ohne deutlichen Anstieg des Herzminutenvolumens gleichzeitig abfallen. Diese Antihypotonika zeichnen sich  durch eine ausgeprägte systolische Blutdrucksteigerung aus. Ein Wirkmaximum wird Studien gemäß nach circa sechs Stunden erreicht. Sie sind bei manifester und andauernder orthostatischer Hypotonie über einen längeren Therapiezeitraum indiziert, sollten aber nur nach einer kritischen Nutzen-Risiko-Abwägung auch hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen und zusätzlicher Belastung zum Beispiel des altersbedingten Herzens (Herzinsuffizienz/ NYHA II) verabreicht werden. Bei Abfall des systolischen Blutdrucks unter gleichzeitigem Anstieg des diastolischen Blutdrucks und Zunahme der Herzfrequenz (»Herzrasen«) kann die Einnahme des Wirkstoffs Dihydroergotamin (DHE, enthalten zum Beispiel in den Mono- und Kombinationspräparaten Dihydergot®, Agit®, Ergont®) therapeutisch sinnvoll sein, doch ist die Dihydroergotamin-Therapie bei ihrer geringen therapeutischen Breite und auf Grund ihrer häufigen und ausgeprägten Nebenwirkungen nur für die kurzzeitige Einnahme geeignet. Ergotamine haben vor allem die dauerhafte Verbesserung der zerebralen Durchblutungssituation zum Ziel und sind somit  bei allgemeiner Kreislauflabilität therapeutisch begrenzt sinnvoll. Mögliche Kontraindikationen und Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln und hier insbesondere spezifischen Migräne-Therapeutika sind zu beachten.

 

Phytotherapeutische Antihypotonika

 

Bei hypotoner Dysregulation können pflanzliche Kardiosedativa wie Flüssigextrakte aus  dem Besenginsterkraut (Cytisus scoparius L., enthalten zum Beispiel in Spartiol®) und Herzspann (Leonurus cardiaca L.) zum Einsatz kommen, wenn funktionell nervöse Herzbeschwerden und Tachykardien im Vordergrund stehen. Pflanzliche Kardiotonika sind auf hypotone Dysregulationen mit den Hauptsymptomen rasche Ermüdung und orthostatische Hypotonie ausgerichtet (17). Leichte, den Kreislauf tonisierende Wirkungen werden Extrakten aus dem Adonisröschen, Maiglöckchen, Gelbem Jasmin oder echtem Rosmarin (Rosmarinus officinalis) zugesprochen. Zahlreiche pflanzliche Kardiaka wie zum Beispiel Crataegutt®, Crataegysat®, Esbericard® oder Koro-Nyhadin® enthalten hoch dosiert Trockenextrakt aus Weißdornblättern (Crataegi fructus) zur Steigerung der nachlassenden Leistungsfähigkeit des Herzens entsprechend Stadium II nach NYHA.

 

Eine Sonderstellung in der modernen Phytotherapie nimmt der Campher (Cinnamomum camphora L.) ein. Das Gemisch aus ätherischen Ölen des D-Camphers stimuliert das Atem- und Vasomotorenzentrum und wirkt kurzzeitig bronchospasmolytisch. Die nicht aktuelle Monographie der Kommission E konstatiert, dass D-Campher bei innerlicher Anwendung den Blutdruck tonisiert und bei hypotonen Kreislaufregulationsstörungen indiziert ist (18). Der Effekt des D-Camphers ist durch mehrere pharmakologische Wirksamkeitsstudien an Probanden bestätigt  und hat sich in der Wirkstoffkombination mit Weißdornfrüchten (enthalten zum Beispiel in Korodin®), als schnell wirkendes pflanzliches Antihypotonikum erwiesen (19, 20).

 

In einer kontrollierten, randomisierten, plazebokontrollierten Studie wurde die Wirksamkeit bei orthostatischer Hypotonie nachgewiesen (21). Die Wirkung trat sehr schnell ein und war dosisabhängig. Der Anstieg des mittleren arteriellen Blutdrucks betrug im Durchschnitt 4,5 mm Hg in den ersten drei Minuten nach Applikation. Eine prospektive, randomisierte, multizentrische Doppelblindstudie mit 38 Hypotonie-Patienten zeigte einen positiven Effekt nach Einmalgabe des Verums (22). In der Verumgruppe sank der arterielle Mitteldruck um 4,3 mm Hg geringer ab als in der Placebogruppe (0,3 mm Hg). Nach einwöchiger Behandlung war der Unterschied signifikant + 5,9 mm Hg in der Verumgruppe zu + 1,6 mm Hg in der Placebogruppe. Nach Kroll et al. belastet das Phytokardiotonikum den Kreislauf des Hypotonikers nicht, da es keine höhere Takt- und Leistungsfrequenz im Sinne einer systolischen Blutdruckerhöhung bewirkt, sondern den diastolischen Blutdruckabfall durch periphere Vasokonstriktion um 3 bis 4 mm Hg verringert.

 

Hempel et al. ermittelten aus Therapiedaten niedergelassener Ärzte, dass die therapeutische Besserungsquote beim Campher-Crataegus-Präparat wesentlich höher lag als bei vergleichbaren sympathomimetischen Präparaten (23). In der vergleichenden, multizentrischen, retrospektiven Kohortenstudie an 490 Patienten in niedergelassenen Arztpraxen, in der 399 Patienten mit dem Campher-Crataegus-Präparat und 91 Patienten mit chemisch-synthetischen Antihypotonika wie Etilefrin oder Dihydroergotamin  behandelt wurden, zeigte das pflanzliche Kombinations-Kardiakum nicht zuletzt auf Grund der flüssigen Darreichungsform und schnelleren oralen Verfügbarkeit einen schnelleren Wirkungseintritt sowie eine verbesserte Blutdruckregulation insbesondere bei älteren Patienten. Die klinischen Daten belegen eine Sofortwirkung zwischen 30 Sekunden und über 6 bis 8 Minuten nach Einnahme.

 

Einfühlungsvermögen gefragt

 

In der Beratung sind Feingefühl und Sachkenntnis des Apothekers gefragt. So ist zunächst die Frage zu klären, ob der Patient bereits ein Medikament mit blutdrucksenkender (Neben-)Wirkung einnimmt. Jugendliche und jüngere Erwachsene mit Orthostasesymptomatik ohne Verdacht auf andere Grunderkrankungen sollten auf die antihypotonen Effekte »roborierender« Maßnahmen wie sportliches Training zur Steigerung der körperlichen Fitness, fettarmer und ballaststoffreicher Ernährung sowie Nikotin- und Alkoholkarenz aufmerksam gemacht werden. Da die orthostatische Hypotonie nach neueren epidemiologischen Erkenntnissen nachhaltige Auswirkungen auf die Mortalitätsrate älterer Menschen haben kann, empfiehlt es sich, insbesondere bei dieser Patientengruppe bei entsprechenden Symptomen zur regelmäßigen Blutdruckkontrolle sowie Verlaufsdokumentation (Blutdruck-Tagebuch) zu raten. Bei Verdacht oder Hinweis auf eine manifeste hypotone Kreislaufregulationsstörung sollte zur Differenzialdiagnose und zum ursächlichen Ausschluss einer schwerwiegenden Grunderkrankung an den behandelnden Arzt verwiesen werden. Bei leichter bis mittlerer funktioneller Orthostasesymptomatik kann im Rahmen der Selbstmedikation insbesondere für die Akutbehandlung die Einnahme eines sofort wirkenden campherhaltigen Kardiotonikums empfohlen werden.

Literatur

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Die Autoren

Norbert Lagoni (Jg. 1945) studierte Betriebswirtschaft in Hamburg sowie Veterinärmedizin in Berlin und wurde an der FU Berlin mit einem pharmakologischen Thema promoviert. Er ist Fachtierarzt für Pharmakologie und Toxikologie. Von 1980 bis 1986 war Lagoni Referent im Institut für Arzneimittel des Bundesgesundheitsamtes (BGA), Berlin, mit dem Schwerpunkt »Arzneimittel der besonderen Therapierichtung«. Seither ist er in der pharmazeutischen Industrie und als Medizinjournalist tätig.

 

Matthias Mauz studierte in Berlin, USA (Boston, San Francisco) und Stuttgart Biologie und wurde aufgrund einer Arbeit über phytopharmazeutische Extraktionsverfahren promoviert. Nach Forschungsarbeiten in der Pharmaindustrie sowie beim Bundesgesundheitsamt (BGA) ist er seit 1985 in der Geschäftsleitung der Robugen GmbH, Esslingen, tätig.

 

 

Anschrift der Verfasser:

Dr. Norbert Lagoni

Falkenhorstweg 4

81476 München

n.lagoni(at)t-online.de

 

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