Leitlinie empfiehlt auch Phytos |
12.07.2017 10:27 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Unkomplizierte Harnwegsinfekte bedingen nicht immer zwangsläufig eine Antibiotika-Behandlung. Die neue S3-Leitlinie befasst sich detailliert mit einer ausgewogenen Indikationsstellung und bewertet alternative Strategien. Als wesentliche Neuerung wurde die nicht antibiotische Rezidivprophylaxe in die Leitlinie aufgenommen.
Das therapeutische Vorgehen bei unkomplizierten Harnwegsinfekten ist einerseits abhängig vom Krankheitsbild, wobei die S3-Leitlinie zwischen akuter unkomplizierter Zystitis und Pyelonephritis sowie asymptomatischer Bakteriurie und rezidivierenden unkomplizierten Harnwegsinfektionen (mindestens zwei Episoden in sechs Monaten oder mindesten drei in zwölf Monaten) unterscheidet. Relevant ist aber auch, wer betroffen ist:
Neu an der aktualisierten Leitlinie zu unkomplizierten Harnwegsinfekten ist eine Empfehlung für Bärentraubenblätter, Kapuzinerkressekraut und Meerrettichwurzel als Harnwegsdesinfizenzien, aber auch Mannose
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Bei nicht schwangeren Frauen in der Prämenopause werden bei Routineuntersuchungen häufig Bakterien im Harn gefunden, ohne dass dieser Befund mit Beschwerden einhergeht. Eine solche asymptomatische Bakteriurie muss – falls keine risikoträchtigen Begleiterkrankungen vorliegen – nicht behandelt werden. Gleiches gilt für Frauen in der Postmenopause. Bei Schwangeren besteht laut aktueller Studienlage im Fall einer asymptomatischen Bakteriurie ein erhöhtes Risiko für eine Nierenbeckenentzündung von 2,4 Prozent. Die Frühgeburtenrate scheint nicht erhöht. Ein systematisches Screening auf Bakterien im Urin wird vor diesem Hintergrund in der Schwangerschaft nicht empfohlen.
Harnwegsinfekte bei Männern sind – wegen häufiger Mitbeteiligung der Prostata – immer als kompliziert einzustufen und differenziert abzuklären. Eine asymptomatische Bakteriurie im Vorfeld einer transurethralen Prostataresektion stellt eine Therapieindikation dar.
Bei gut eingestellten Diabetikern sind unkomplizierte Harnwegsinfekte wie bei Stoffwechselgesunden als unkompliziert anzusehen. Bei instabilem Stoffwechsel dagegen können auch simple Infekte problematisch sein, da sie eine bestehende Insulinresistenz eventuell verstärken und die Stoffwechsellage weiter verschlechtern. Auch im Fall einer fortgeschrittenen diabetischen Nephropathie (Niereninsuffizienz Stadien IIIb bis V) ist jeder Harnwegsinfekt potenziell riskant, da es zu einer weiteren Progression der Nierenfunktionsstörung kommen kann.
Ibuprofen statt Antibiotika
Wenn keine speziellen Risiken vorhanden sind, verlangen unkomplizierte Harnwegsinfektionen nicht zwingend nach Antibiotika. Bleibt der Infekt auf die Harnblase begrenzt, ist auch bei rezidivierenden Episoden nicht mit gravierenden Komplikationen zu rechnen, wird in der S3-Leitlinie betont. Angesichts hoher Spontanheilungsraten von 30 bis 50 Prozent innerhalb von einer Woche gehe es in erster Linie darum, zügig die unangenehmen Beschwerden zum Abklingen zu bringen. Antibiotika sind – laut den wenigen vorliegenden placebokontrollierten Studien – in der Lage, die Symptomdauer zu reduzieren, sollten aber wegen der zunehmenden Resistenzproblematik trotzdem nicht unkritisch eingesetzt werden.
Alternativ kann Patientinnen mit unkomplizierter Zystitis eine symptomatische Behandlung mit Ibuprofen angeboten werden. Hintergrund für diese Empfehlung ist eine Studie aus dem Jahr 2015, in der eine Erstlinientherapie mit Ibuprofen mit einer sofortigen Antibiotikatherapie verglichen wurde. Das nicht steroidale Antiphlogistikum schnitt dabei nur geringfügig schlechter ab: Unter Ibuprofen waren nach einer Woche 70 Prozent der Frauen beschwerdefrei, unter primärer Antibiose waren es 80 Prozent (»British Medical Journal«, DOI: 10.1136/bmj.h6544). Die Experten sprechen sich dafür aus, die Patientinnen über das Für und Wider der verschiedenen Optionen aufzuklären und in die Therapieentscheidung einzubinden.
Ein Aspekt, der bei der Behandlung der unkomplizierten Zystitis bedacht werden muss, ist das Risiko einer aufsteigenden Infektion mit der Folge einer interstitiellen eitrigen Nierenentzündung. In der Studie war das Risiko einer Pyelonephritis in der Ibuprofen-Gruppe gegenüber der Antibiotika-Gruppe erhöht, während hingegen in zwei placebokontrollierten Antibiotikastudien unter dem Scheinmedikament keine erhöhte Pyelonephritisrate festgestellt wurde. Wird eine Pyelonephritis diagnostiziert, ist umgehend eine Antibiotikatherapie einzuleiten.
Resistenzlage beachten
Bei rezidivierender Zystitis sollten Patienten nicht mehr als 1,5 Liter pro Tag trinken, um antibakterielle Substanzen im Urin nicht zu sehr zu verdünnen.
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Häufigster Erreger unkomplizierter Harnwegsinfekte ist Escherichia coli, gefolgt von Staphylococcus saprophyticus, Klebsiella pneumoniae und Proteus mirabilis. Andere Erreger sind selten. Die pathogene Bedeutung von Enterokokken, die vor allem bei Mischinfektionen gefunden werden, ist ungewiss. Dem Erregerspektrum entsprechend kommen folgende Antibiotika für einen Einsatz bei unkomplizierten Harnwegsinfekten in Betracht: Fosfomycin, Nitrofurantoin, Trimethoprim beziehungsweise Cotrimoxazol, Pivmecillinam, Nitroxolin, Aminopenicilline in Kombination mit einem β-Lactamase-Inhibitor, Cephalosporine und Fluorchinolone. Es wird empfohlen, sich vor dem Einsatz von Antibiotika über das Erregerspektrum und die Resistenzentwicklung in der jeweiligen Region zu informieren. Ein Antibiotikum eignet sich nicht mehr für die empirische Therapie der akuten unkomplizierten Zystitis, wenn die Empfindlichkeitsrate unter 80 Prozent beträgt. Bei der akuten unkomplizierten Pyelonephritis sollte die Resistenzrate bei maximal 10 Prozent liegen.
Die Gefahr sogenannter Antibiotika-assoziierter mikrobiologischer Kollateralschäden scheint bei Cephalosporinen und Fluorchinolonen am größten zu sein. Darunter versteht man die Auswirkungen des Antibiotikaeinsatzes, die über unerwünschte Arzneimittelwirkungen beim individuellen Patienten hinausgehen und langfristige Resistenzentwicklungen im Individuum und in der Bevölkerung bewirken können. Solange therapeutische Alternativen mit vergleichbarer Effizienz und akzeptablem Nebenwirkungsspektrum bestehen, sollen deshalb Fluorchinolone und Cephalosporine nicht als Antibiotika der ersten Wahl bei Harnwegsinfektionen eingesetzt werden, betonen die Experten. Sie vermerken kritisch, dass das aktuelle Verordnungsverhalten diesen Empfehlungen offenbar zuwider läuft. Laut Krankenkassendaten sind Fluorchinolone die bei unkomplizierten Harnwegsinfekten meistverordneten Antibiotika.
Bei häufig rezidivierender Zystitis soll vor jeder medikamentösen Langzeitintervention eine ausführliche Beratung der Patientin erfolgen. Die oft ausgesprochene Empfehlung, viel zu trinken, wird von den Experten dahingehend relativiert, dass 1,5 Liter pro Tag nicht überschritten werden sollten, damit im Urin befindliche antibakterielle Substanzen nicht zu sehr verdünnt werden. Als relevante Risikofaktoren werden unter anderem Adipositas und eine übertriebene Intimhygiene genannt. Auch der Gebrauch von Diaphragmen und Spermiziden ist mit einem deutlichen Risikoanstieg – laut Studien auf das 2- bis 14-fache – verknüpft.
Vor Beginn einer antibiotischen Langzeitprävention wird eine dreimonatige Behandlung mit dem oralen Immunprophylaktikum UroVaxom® (OM-89) empfohlen. Auch das parenterale Immunprophylaktikum StroVac® – drei Injektionen in wöchentlichen Abständen – sei im Vorfeld einer Langzeitantibiose einen Versuch wert.
Phytos oder Mannose
Eine Empfehlung für die prophylaktische Anwendung von Cranberry-Produkten könne aktuell nicht ausgesprochen werden, da die Studienergebnisse widersprüchlich sind. Am ehesten seien Effekte mit hoch dosierten Kapseln und Tabletten (Proanthocyanidin-Gehalt rund 100 mg/Tag, also dreimal mehr als derzeit empfohlen) zu erwarten. Studien mit solchen oralen Darreichungsformen stehen aber bislang aus. Positiv dagegen fiel das Votum für Mannose und pflanzliche Harnwegsdesinfizienzien (Bärentraubenblätter, Kapuzinerkressekraut, Meerrettichwurzel) aus: Die tägliche Einnahme von 2 g Mannose in einem Glas Wasser war laut einer Studie aus dem Jahr 2014 einer Langzeitprävention mit Nitrofurantoin ebenbürtig und verursachte signifikant weniger Nebenwirkungen (»World Journal of Urology«, DOI: 10.1007/s00345-013-1091-6). Für Bärentraubenblätter gilt die Einschränkung, dass die Anwendung nicht länger als einen Monat erfolgen soll. /