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Covid-19-Schutz

Aufruf zur Zurückhaltung bei der Booster-Impfung

Die ersten Bundesländer haben bereits damit begonnen, bestimmten Personengruppen eine Booster-Impfung des SARS-CoV-2-Impfstoffs anzubieten. Das erweckt bei vielen Impfwilligen Begehrlichkeiten. Allerdings gibt es gute Gründe, mit einer Auffrischimpfung im großen Stil noch zu warten.
Theo Dingermann
14.09.2021  13:00 Uhr

Sollte bereits großflächig damit begonnen werden, Geimpfte mit einer Auffrischimpfung zu versorgen? Bei dieser Frage gehen die Auffassungen auseinander. Während in einigen Bundesländern bereits damit begonnen wurde, bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Booster-Impfung anzubieten, hat die Ständige Impfkommission (STIKO) noch keine Empfehlung für eine solche Impfung ausgesprochen. Sie verweist darauf, dass aktuell noch diverse Studien durchgeführt werden, die hinterfragen ob und gegebenenfalls in welchem Zeitabstand eine Covid-19-Auffrischimpfung notwendig sein wird. Bei der STIKO rechnet man im Laufe des Septembers mit relevanten Daten zu dieser Fragestellung, sodass mit einer Positionierung der STIKO voraussichtlich nicht vor Ende September beziehungsweise Anfang Oktober zu rechnen ist.

Zur Zurückhaltung bei Booster-Impfungen mahnt ganz aktuell auch eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, darunter auch Vertreter der Weltgesundheitsorganisation WHO und der US-Zulassungsbehörde FDA. In einem »Viewpoint« im Journal »The Lancet« kommen die Experten zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit des Impfstoffs zur Verhinderung schwerer Covid-19-Verläufe selbst bei der Delta-Variante so hoch ist, dass Auffrischungsdosen für die allgemeine Bevölkerung in diesem Stadium der Pandemie weder erforderlich noch angemessen sind.

Nach Auswertung der verfügbaren Daten aus verschiedenen Beobachtungsstudien besteht demnach kein Zweifel, dass alle in Europa und in den USA verfügbaren Impfstoffe nach wie vor hochwirksam gegen schwere Erkrankungen sind, einschließlich derjenigen, die durch kritische Virusvarianten verursacht werden könnten. Danach zeigten die Impfungen eine Wirksamkeit von 95 Prozent gegen schwere Erkrankungen sowohl bei der Delta-Variante als auch bei der Alpha-Variante und eine Wirksamkeit von über 80 Prozent beim Schutz gegen jegliche Infektion mit diesen Varianten, so die Einschätzung der Expertengruppe.

Hauptantrieb für die Virusverbreitung stammt von den Ungeimpften

Zwar verhindern die Impfstoffe keineswegs sicher eine Infektion, dennoch geht die Haupttriebkraft für die Übertragung eindeutig von den Ungeimpften aus. Daraus leiten die Wissenschaftler die Forderung ab, Impfstoffe gegen Covid-19 zunächst dort einzusetzen, wo sie den größten Nutzen bringen – nämlich bei Ungeimpften.

»Insgesamt liefern die derzeit verfügbaren Studien keine glaubwürdigen Belege für einen wesentlich geringeren Schutz vor schweren Erkrankungen, was das Hauptziel der Impfung ist. Der begrenzte Vorrat an diesen Impfstoffen wird die meisten Leben retten, wenn er Menschen zur Verfügung gestellt wird, die ein nennenswertes Risiko für eine schwere Erkrankung haben und noch keinen Impfstoff erhalten haben. Selbst wenn ein gewisser Nutzen aus der Auffrischimpfung gezogen werden kann, überwiegt dieser nicht die Vorteile eines anfänglichen Schutzes für die Ungeimpften. Wenn die Impfstoffe dort eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen bringen, könnten sie das Ende der Pandemie beschleunigen, indem sie die weitere Entwicklung von Varianten verhindern», äußert sich die Hauptautorin der Studie, Dr. Ana-Maria Henao-Restrepo von der WHO, gegenüber dem Lancet.

Abnahme der messbaren Antikörpertiter ist kein Grund zur Sorge

Selbst wenn die Antikörperspiegel bei geimpften Personen im Laufe der Zeit abnähmen, so resultiere daraus nicht zwangsläufig eine Verringerung der Wirksamkeit der Impfstoffe gegen schwere Erkrankungen, resümieren die Wissenschaftler. Denn die Abnahme der Antikörpertiter korreliert nicht zwingend mit dem Schutzpotenzial, das durch Gedächtnismechanismen und durch die zellvermittelte Immunität abgesichert ist. Daher wiegt momentan der Nutzen, der zweifelsohne mit einer Auffrischungsimpfungen verbunden ist, das Risiko, das aus einer signifikanten Unterversorgung der Weltbevölkerung mit Impfstoffen resultiert, bei weitem nicht auf.

Impfstoffweiterentwicklungen könnten für eine Auffrischimpfung Vorteile bringen

Derzeit vermitteln noch alle Impfstoffe eine Schutzwirkung gegen alle zirkulierenden Virusvarianten. Das muss jedoch nicht so bleiben. Aus diesem Grund wird bereits intensiv an Konzepten für Impfstoffweiterentwicklungen gearbeitet.

Somit könnte die Wirksamkeit von Auffrischungsimpfungen, die speziell für potenzielle neuere Varianten entwickelt wurden, deutlich größer und langlebiger sein als Auffrischungsimpfungen mit einem aktuellen Impfstoff. Ähnlich wird ja auch bei der jährlichen Auffrischung des Schutzes vor Influenza verfahren.

»Die derzeit verfügbaren Impfstoffe sind sicher, wirksam und retten Leben. Der Gedanke, die Zahl der Covid-19-Fälle durch eine Verstärkung der Immunität bei Geimpften weiter zu verringern, ist zwar verlockend, doch sollte jede Entscheidung in diese Richtung evidenzbasiert sein und die Vorteile und Risiken für den Einzelnen und die Gesellschaft berücksichtigen. Diese Entscheidungen, bei denen es um viel geht, sollten sich auf solide Fakten und internationale wissenschaftliche Diskussionen stützen«, argumentiert die leitende Wissenschaftlerin bei der WHO und Mitautorin der Studie, Dr. Soumya Swaminathan, gegenüber dem Lancet.

Ganz in diesem Sinne agiert auch die STIKO.

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