Apotheker versorgen Tönnies-Mitarbeiter auf Werksgelände |
Daniela Hüttemann |
22.06.2020 14:02 Uhr |
Apothekerin Claudia Scherrer (rechts) mit ihrer Stellvertreterin Susanne Gehring im Corona-Behandlungszentrum auf dem Gelände der Firma Tönnies. / Foto: AKWL
In Deutschlands größter Fleischfabrik Tönnies im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück sind bislang 1331 Personen mit einer nachgewiesenen Coronavirus-Infektion registriert worden. Alle 6139 Mitarbeiter wurden mittlerweile getestet, am Montagmorgen standen noch 240 Ergebnisse aus. Auf dem Werksgelände wurde ein Test- und Behandlungszentrum eingerichtet. Hier findet sich seit diesem Wochenende auch eine sogenannte Pop-up-Apotheke, die auf Inititative der Gütersloher Apotheken entstand.
»Bei so vielen Infizierten, die meist weder Deutsch noch Englisch sprechen und die extrem verunsichert sind, haben wir eine ungewöhnliche und pragmatische Lösung gewählt«, erklärt die Gütersloher Apothekerin Claudia Scherrer, Kreisvertrauensapothekerin und Sprecherin der Apotheker im Kreis Gütersloh, in einer Pressemitteilung der Apothekerkammer Westfalen-Lippe (AKWL). Die provisorische Arzneimittelversorgung sei eng mit der Kammer, dem Landkreis und der Bezirksregierung abgestimmt am vergangenen Wochenende eingerichtet worden. »Außergewöhnliche Situationen führen manchmal zu außergewöhnlichen Maßnahmen«, sagt Scherrer, »und in dieser Situation war eine Pop-Up-Apotheke unter freiem Himmel mit nur fünf Arzneimitteln eine äußerst ungewöhnliche, aber in höchstem Maße realitätsnahe Lösung.«
Abgegeben werden dort symptomorientiert Codein-haltige Hustenmittel, Ambroxol, Ibuprofen, Paracetamol und Amoxcillin. Im Dienst waren bislang neben Scherrer (Nord-Apotheke Gütersloh) auch Susanne Gehring (stellvertretende Kreisvertrauensapothekerin, Bahnhof-Apotheke Gütersloh) und Dr. Olaf Elsner (Vorstandsmitglied des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe, Storchen-Apotheke Gütersloh).
»Normalerweise widerspricht die Abgabe von Arzneimitteln außerhalb einer Apotheke ungefähr jeder gesetzlichen Grundlage«, so Scherrer. »Aber gerade die Sprachbarriere und der Infektionsschutz der Bevölkerung im Kreis und darüber hinaus ließen keine andere Lösung zu.« Apotheker Elsner erläuterte heute am Rande einer Pressekonferenz des AVWL, dass man die Betroffenen auf dem Werksgelände auch deshalb zentral direkt nach der Arztkonsulation versorgen wolle, um ihnen den Weg in die nächste reguläre Apotheke zu ersparen. Damit soll die Gefahr, andere Menschen und das Apothekenpersonal anzustecken, minimiert werden.
Die drei Gütersloher Apotheker versorgten die Tönnies-Mitarbeiter zunächst nur mit Atemschutz, später dann mit Vollschutzausrüstung bei knapp 30 Grad Celsius unter freiem Himmel. »Die Beratung erfolgte mit Unterstützung der Dolmetscher, welche aus dem Deutschen ins Rumänische und Bulgarische übersetzten«, so Scherrer. »Das war eine enorme Hilfe.«
Mit der Pop-up-Apotheke ist es aber fast schon wieder vorbei: Heute ist Scherrer noch einmal im Behandlungszentrum auf dem Werksgelände. Ab Dienstag soll die Arzneimittelversorgung der Covid-19-Patienten dann wieder dezentral stattfinden – über einen Botendienst. »Dann werden die Rezepte aus der Praxis an eine Apotheke am Wohnort des Patienten gemailt, die Originale später nachgereicht.« Das wäre in Nicht-Corona-Zeiten eine illegale Zuweisung von Rezepten. Aber manchmal müsse man pragmatisch agieren.
Elsner erläuterte, dass es sich derzeit um circa 7000 Personen handle, die sich in häuslicher Quarantäne befinden und die in den nächsten 14 Tagen nicht nur auf Arzneimittel gegen akute Beschwerden, sondern gegebenenfalls auch auf Nachschub ihrer dauerhaft verordneten Medikamente wie Asthmamittel und Insulin angewiesen seien.
Scherrer betonte, dass all das mit den Behörden zwar auf dem kurzen, aber immer noch auf dem Dienstweg abgesprochen ist. »Es geht nicht um Guerilla-Aktionen oder ums Geldverdienen, sondern um die schnelle Versorgung der Patienten. Und wer kann das besser und schneller als die Apotheke vor Ort? Der Versandhandel auf jeden Fall nicht!«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.