Acht Kinder erfolgreich mit Gentherapie behandelt |
Theo Dingermann |
23.04.2019 11:22 Uhr |
Dank der Gentherapie hat Gael ein funktionierende Immunsystem, sodass Körperkontakt mit seiner Mutter keine tödliche Gefahr mehr für ihn darstellt. / Foto: St. Jude Children’s Research Hospital
Es ist eine der schwersten und folgeträchtigsten Erbkrankheiten: die schwere kombinierte Immundefizienz (SCID). Dies ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Erkrankungen, die eine angeborene schwere Störung des Immunsystems gemeinsam haben. Typisch ist ein Mangel an oder eine Fehlfunktion der T-Lymphozyten. Die Ursache sind unterschiedliche angeborene Gendefekte.
Es sind die Schwächsten in unserer Gesellschaft, die betroffen sind. Neugeborene werden durch SCID in eine strikte Isolation gezwungen, um auf dieser Welt überleben zu können. Ein Gesicht bekam die Krankheit durch den jungen Texaner David Phillip Vetter (1971-1984), der geschützt durch eine Plastikfolie als »Bubble Boy« bekannt wurde und dessen Bilder um die Welt gingen.
Um die Kinder aus dieser fürchterlichen Isolation zu befreien, sind prinzipiell zwei Optionen denkbar: Eine Knochenmarkstransplantation oder eine Gentherapie. Im ersten Fall erhalten die Patienten ein komplett neues Immunsystem von einem passenden Spender. Im zweiten Fall werden Immunzellen des Patienten mit einer intakten Kopie des bislang funktionslosen Gens ausgestattet.
Eigentlich sind SCID ideale Kandidaten für eine Gentherapie. Denn nur ein einzelnes nicht korrekt arbeitendes Gen verursacht das schwere Leiden. Daher wurde auch 1990 damit begonnen, diese nahe liegende Option einzusetzen, zumal die technischen Voraussetzungen damals bereits gut etabliert waren. Allerdings zeigte sich sehr bald, wie komplex die Biologie jenseits der technischen Intervention sein kann.
Rückschläge dominierten bald die Überschriften in Fachzeitschriften ebenso wie in der Laienpresse. Entweder nisteten sich die gentechnisch modifizierten Zellen nicht nachhaltig im Knochenmark der Patienten ein oder der Gentransfer verursachte molekulare Katastrophen. Dabei traf der Transfervektor zufällig wichtige Gene des Patienten, was Leukämien auslöste. Das waren tragische Erfahrungen, die über eine lange Zeit für die eigentlich plausible Gentherapie ein Höchstmaß an Zurückhaltung zur Folge hatten.
Nun scheint es jedoch einen Durchbruch zu geben. In der aktuellen Ausgabe des »New England Journal of Medicine« berichten Forscher um Dr. Ewelina Mamcarz, dass zehn Säuglinge mit einer X-chromosomalen schweren kombinierten Immundefizienz (SCID-X1) gentherapeutisch an der Universität San Francisco und am St. Jude's Children's Research Hospital in Tennessee behandelt wurden. Für acht dieser Kinder, deren Alter zum Zeitpunkt der Intervention zwischen 2 und 14 Monaten lag, wurden die Studienerbnisse präsentiert. Für keinen der kleinen Patienten hatte es passende Geschwisterspender gegeben, sodass eine Knochenmarkstransplantation ausgeschlossen war.
Ersetzt werden sollte das Interleukin-2-Rezeptor-γ-Gen (LL2RG). Dazu setzten die Mediziner einen modifizierten lentiviralen Vektor ein, letztlich eine stark abgewandelte HIV-DNA. Dies hat zwei Vorteile: Zum einen kann das gentherapeutische Konstrukt mit Hilfe einer HIV-Hülle sehr effektiv und zielgerichtet in CD4-positive T-Zellen übertragen werden. Zum anderen wird die DNA, nachdem sie in die Zelle gelangt ist, ins Genom der Zielzelle integriert, um so die Korrektur nachhaltig zu gestalten.
Zusätzlich setzten die Forscher um Studienleiterin Mamcarz und den mittlerweile verstorbenen Initiator der Studie, Professor Dr. Brian P. Sorrentino, aber auch zwei innovative Sicherheitsmaßnahmen ein, die den riskanten Eingriff zu rechtfertigen schienen: So hängten sie an das Ende der IL2RG-Sequenz eine »Isolatorsequenz«, die verhindern soll, dass nahe gelegene Gene an den Insertionsstellen aktiviert werden und so die therapierte Zelle zur Tumorzelle umwandeln. Außerdem behandelten sie die Patienten vor der eigentlichen Gentherapie mit einer niedrigen Dosis des Chemotherapeutikums Busulfan, um einen Teil des Immunsystems der Patienten abzutöten. Dadurch sollte im Knochenmark für die Einnistung der modifizierten Zellen Platz geschaffen werden.
Bei sieben der acht Patienten, über die in der Publikation berichtet wird, stieg die Zahl der T-, B- und natürlichen Killerzellen kontinuierlich an. Das achte Kind, dessen Therapie zunächst nicht griff, behandelten die Ärzte erneut mit der Gentherapie, was schließlich auch bei diesem Kind zu einem Ansprechen der Therapie führte. Bei vier Patienten wagten die Ärzte sogar Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Pertussis, Polio und Pneumonie. Allerdings entwickelten daraufhin zunächst nur zwei dieser Säuglinge eine normale Immunreaktion.
Das alles sind überaus ermutigende Resultate, wobei einschränkend vermerkt werden muss, dass die Beobachtungszeit noch vergleichsweise kurz ist. Klar ist jedoch, dass die Ära der Gentherapie zweifelsfrei begonnen hat. Immerhin sind mit Glybera® (bereits wieder vom Markt genommen), Luxturna®, Imlygic®, Strimvelis®, Zalmoxis®, Kymriah® und Yescarta® bereits sieben sogenannte Advanced Therapeutic Medicinal Products (ATMPs) für eine Gentherapie in der EU zugelassen.